Sprache in „Lust“
„Ich habe auf eine Umfrage der deutschen Presseagentur, die jedes Jahr routinemäßig zu Weihnachten durchgeführt wird, gesagt: ‘Ich möchte einen Porno schreiben.’ Da hatte ich noch keinen Satz geschrieben. Es war nur eine wage Idee, einen Gegenentwurf zur Geschichte des Auges von Bataille schreiben zu wollen. [...] Was der Text dann geworden ist, ist natürlich etwas ganz anderes, aber das haben die Zeitungslaute gar nicht mehr kapiert.“[1]
Die Redundanz des Textes auf der inhaltlichen Ebene der geschilderten Abläufe haben alle „kapiert“. Sie ist nicht zu übersehen, und RezensentInnen verspotten oder beschimpfen sie. Denn sie ist bewußt: „Haben Sie noch immer Lust, zu lesen und zu leben? Nein? Na also!“ (LU, 170) Über die inhaltliche Ebene des Werkes ist oben (bes. Kap. 4.4; 5) gesprochen worden. Warum man das nicht tun sollte, soll im folgenden deutlich werden.
Wobei ich vorneweg gestehen muß: Alles, was ich bisher aus Lust zitiert habe, steht dort nicht. - Nicht, daß Wortlaute verfälscht oder Inhalte erfunden worden wären, oh nein! Man wird alles getreu des Originals reproduziert finden. Aber nicht zufällig wurde bisher zu den besprochenen Themen selten mehr als ein Halbsatz im Zusammenhang zitiert: Das Wort hinter dem Komma schweifte in der Regel schon von dem Thema ab, zu dessen Verdeutlichung der Text herangezogen wurde. Diese Kontextualisierung einzelner Sätze oder Satzteile in einem wissenschaftlich-diskursiven Text über Sexualität und Prostitution aber verlieh den Worten einen Sinngehalt zurück, die das Satzgefüge, dem sie entnommen waren, ihnen nicht belassen hatte.
Natürlich hat der Mann den „Unterleib [der Frau] im Labor bereits vollständig nachgebaut“ (LU, 30). Aber ist das feministische Kritik an der Reproduktionsmedizin[2]? Was macht es denn, da „[d]er Sohn eine farbige Abbildung“ (LU, 9) ist, schon jetzt beliebig duplizierbar: „es läßt sich fotografieren“ (ebd.)? Was macht es, da die Kunst als Dekor von der Realität als Dekor hyperrealer Simulakren[3] sich längst nicht mehr unterscheidet?
Und in Lust steht ja eben nicht: „Beisammen sind die Geliebtesten“, sondern: „Beisammen sind die Geliebtesten, und stets sind sie bereit, von der Leiter ihrer Gefühle zu fallen, weil sie an den seligen Augen des Partners etwas stört, das sie nicht auf der Speisekarte gewählt hatten.“ (LU, 102f) Wie jeder hohe Ton, jedes Pathos sofort in die Profanierung („Speisekarte“) entgleitet, so bleibt auch, was Gesellschaftskritik sein könnte, nie in ernstzunehmender Umgebung. Denn was ist von einem Satz zu halten, der sicherlich auf Auschwitz anspielen kann: „Nur Aschespuren bleiben, wo das Auge weilt auf den Werken der Männer“, wenn eine Comic-Szene sich ihm anschließt: „Nur Aschespuren bleiben, wo das Auge weilt auf den Werken der Männer. Die Frau wendet den Blick vom Tisch ab, den sie gedeckt hat, öffnet eine seitlich an ihrem Kleid angebrachte Luke und schüttelt die Abfälle vom Essen hinein, dabei bleibt sie sich treu“ (LU, 22), ein Satz, den ernstzunehmen man selbst in Bezug auf weibliche Eßstörungen Schwierigkeiten hat. Wie auch, was wir oben (Kap. 4.4) in explizit diesem Zusammenhang zitierten:
„Über dem Mülleimer, ein gebeugter Strunk Mensch, hat sie sich dann über die Portion des Kindes hergemacht. Das Kind hat sie ja auch aus sich heraus gemacht. Ihr Sinn für Humor ist dabei klein geblieben. Vom Zaun neben dem Bach hängen die Eiszapfen, die Hauptstadt ist ganz nahe, nimmt man den PKW des Menschen als Maß.“ (LU, 60)
Fallen „die Geliebtesten“ freiwillig von der Leiter, so erklimmt von Komma zu Komma die Schilderung um den getöteten Sohn (LU, 255) den Gipfel von Spott und Sarkasmus. Der Beginn des Abschnitts liefert innerhalb der ersten Zeile schon den Bruch eines heroischen Geborgenheitsgestus durch kaltes Kalkulieren von Körperkraft: „Die Mutter trägt das Kind, dann, als sie müd wird, schleift sie es hinter sich her.“ Die Profanierung in der zweiten Satzhälfte wird durch eine – in Lust seltene – dialektale Verkürzung von „müde“ zu „müd“ verstärkt. Dagegen wieder, vollendet poetisch, die romantisch-erotische Bildlichkeit des zweiten Satzes: „Hinter zarter Kleidung der Mond.“ Wie schön! Doch weiter: „Jetzt ist die Frau beim Bach, und zufrieden [läßt sie den Sohn...]“ ? - nein: „und zufrieden sinkt im nächsten Augenblick der Sohn hinein“. Die Erwähnung ihrer Erschöpfung im ersten Satz sorgt dafür, daß das „zufrieden“ zunächst mit der Mutter assoziiert wird. Doch irritierenderweise erfährt der Tote die Zuschreibung der Zufriedenheit. (Hat man ihn als noch Beseelten zu denken?) Wenn dem Kind dann – nach der Ermordung durch die eigene Mutter – „[s]chöne Ruhe winkt“, ist dies ein berechneter Affront. Dem marionettenhaften Gebaren von Sportlern in einer Gesellschaft, in der der Mensch Konsumgut ist, findet dieses Winken sich dann parallelisiert: „und auch Sportler winken einander ja bei jeder Gelegenheit zu, wenn ein Publikum dafür da ist.“ Die ewige Ruhe: ‘PR’-bewußt grinst sie in die Kamera, mit „dumme[m] Gesicht“. Beispiellos aber der folgende Satz: „Jetzt ist es wider Erwarten [„so ein dummer Zufall“] so ausgegangen [Fußballspiel], daß ausgerechnet [„der hat’s grade nötig“] der Jüngste der Familie [der Retter: Däumling; Hiob] das dumme Gesicht [Idiot] der Ewigkeit [Erhabenheit] als erster wird sehen dürfen [der Glückliche]“. Ich habe das Zitat zerschnitten, um ungefähr die durch den Text fast Wort für Wort losgetretenen, häufig gegenläufigen Assoziationen mit zu lesen zu geben. (Daß Lesende bei kontrastierenden Fügungen wie dem „dumme[n] Gesicht der Ewigkeit“ mitunter Mühe haben möchten, Haltung zu wahren, wurde dabei nicht mittranskribiert.) Nun war das aber nicht einmal der vollständige Satz. Die Fortsetzung zieht wieder hinab in den Konsumbereich, nicht ohne die Irritation einer animistischen Behandlung des Geldes: „[...] wird sehen dürfen hinter all dem Geld, das, um einzukaufen, auf der Erde frei herumrennt, wenn man es nicht an die Leine nimmt.“ Der Schluß bietet ein Wortspiel mit „Wette“ und „Wetter“, ein Irrsinn: wenn eben die Bitte um „schönes Wetter“ überhaupt erst das Unwetter („donnernd“) hervorbringt, die Kontrastierung von Pathos („Gebirg“) und Profanität („gewinnen“). Im Zusammenhang:
„Die Mutter trägt das Kind, dann, als sie müd wird, schleift sie es hinter sich her. Hinter zarter Kleidung der Mond. Jetzt ist die Frau am Bach, und zufrieden sinkt im nächsten Augenblick der Sohn hinein. Schöne Ruhe winkt, und auch die Sportler winken einander ja bei jeder Gelegenheit zu, wenn ein Publikum dafür da ist. Jetzt ist es wider Erwarten so ausgegangen, daß ausgerechnet der Jüngste der Familie das dumme Gesicht der Ewigkeit als erster wird sehen dürfen hinter all dem Geld, das, um einzukaufen, auf der Erde frei herumrennt, wenn es niemand an die Leine nimmt. Donnernd laufen die Menschen um die Wette und bitten um schönes Wetter. Und die Schisportler gehen ins Gebirg, egal, wer sonst noch dort wohnt und selber gern gewinnen möchte.“ (LU, 255)
Das beständige Entgleiten von Bild- und Themenkomplexen führt in Lust zur Implosion aller Semantik. Jeder Sinn, den ein etwas hermeneutischer Erwartungshorizont dem Text entgegenbringen wollte, muß angesichts dieser durchrhetorisierten Wörtermassen in sich zusammenfallen – ein Tatbestand, den noch mehrseitige Auszüge und Vorabdrucke im Verborgenen lassen können. (Wie still wird dann aber der Leser um die hundertste Seite. Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verleiten könnte, selbst solche Texte zu schreiben.[4]) So meint auch Rike Felka:
„Der grenzverletzende Zug des Jelinekschen Textes [Lust] liegt nicht auf der inhaltlichen, sondern auf der formalen Ebene: ihre parataktischen Aneinanderreihungen, ihre Paronomasien, ihre Wortwitze setzen sich polemisch über die herkömmliche Logik des Sprechens hinweg. Die brüchige Sprache folgt dem Gesetz der freien Assoziation und entblößt die sexuellen Konnotationen als Verdrängtes. Ihre Brisanz besteht darin, keine analytische Metasprache zu sein. Lust entwickelt sich auf der Ebene der Sprache und nicht der evozierten Inhalte, weil diese verbraucht sind. Deshalb handelt es sich um einen Porno, dessen Funktionalität, nämlich sexuell zu stimulieren, zugleich in Abrede gestellt wird. Indem sie ungebrochene Identifikation unterbindet, schiebt Jelinek die Darstellbarkeit von Lust auf eine andere Ebene. Denn wenn etwas darauf hindeutet - dann nur im Text.“[5]
„Ich arbeite ja sozusagen musikalisch-linguistisch daran, die Sprache selbst die Wahrheit sagen zu lassen (mithilfe von Alliterationen, Assonanzen, Metathese, also mit den sehr alten Methoden der Grammatiker)“[6]. So charakterisiert Jelinek den eigenen Stil. Eine Aufstellung einiger der unzählbar vielen rhetorischen Figurierungen – „‘Lust’ ist eine einzige Kette von witzigen Katachresen, Metaphern, Hyperbeln, Paronomasien und Wortspielen aller Art“ – liefert Hans Hiebel[7]. Es sei noch einmal betont, daß die Rhetorisierung der Sprache in Lust nicht zur Sinnaufladung, sondern zur Sinnentleerung der Sprache führt.
7.1 Lust als Lustration oder Der Text als Monster
„[M]eine Hand, die schreibt, stirbt, während sie schreibt, und durch den ihr gewissen Tod entgleitet sie den beim Schreiben akzeptierten Grenzen (akzeptiert von der Hand, die schreibt, aber abgelehnt von der, die stirbt).“[8] So knüpft als einer der ersten Bataille in seinem Vorwort zu Madame Edwarda die Schrift an den Tod. Als Sterbender nur kann demnach der Schreibvorgang zur Jungfräulichkeit des weißen Blattes[9] vordringen. Und wie die ‘Zeugung’, vollzieht sich auch die Geburt des Textes nur im (Opfer‑)Tod des Schöpfers. Blanchot:
„Die ‘Auslassung seiner selbst’, der ‘Tod irgendeines’, wie sie mit der poetischen Heiligung verbunden sind, machen folglich die Dichtung zu einem tatsächlichen Opfer - jedoch nicht im Hinblick auf die Wirren magischer Verzückung - sondern aus einer nahezu technischen Ursache: indem nämlich der dichterisch Redende sich dieser Art von Tod aussetzt, der in der echten Rede unfehlbar wirksam ist.“[10]
Derrida macht in der Pharmacie de Platon zehn Jahre später den Text noch einmal zum Vatermörder[11]. In ihrer „Vereinigung von Eros und Todestrieb“[12] wäre somit auch die Schrift „Zustimmung zum Leben bis in den Tod“ (Batailles Bestimmung der Erotik). Im Tod gezeugt, im Tod geboren, ist aber der Text ein ‘Tristan’: ein Untoter, ein „lebelîcher tôt“[13]. In seinem bisher unveröffentlichten Vortrag zwîvel als Erzählprinzip schlägt Hans Jürgen Scheuer vor, im Hinausschieben des Todes, der „Grenze der Verbalisierung“[14], das Erzählprinzip Gottfrieds von Straßburg zu sehen. Referenz ist Scheuer Eco: „Es wäre der (individuelle oder universelle) Tod als Letzter Umstand, der das semiotische Universum blockiert.“[15] Ist für Bataille „das Wort Gott“ „das Wort, das die Wörter überschreitet“[16] und erst nach Nietzsche der Tod die letztgültige Instanz, die das Schreiben erreichen muß, könnte mit Scheuers Narratologie des Todesaufschubs eine Verbindung von Schreiben und Tod als weitaus grundlegendere angenommen werden. Der
„Fortbestand [eines solchen Erzählens] in der Verschiebung der absoluten Grenze bleibt freilich ebenso prekär wie die narrative Füllung der namengebenden Position, die durch eine Figur besetzt ist, welche einen im Tode gezeugten, im Tode geborenen Untoten vorstellt. Das hyperbolische Sprechen [...] läuft permanent Gefahr, sich in gespenstigiu trügeheit [V. 1410] aufzulösen: in reine Emphase und absolute Redundanz, in deren nicht mehr übersetzbarer Leere der Text sich gleich nach Blanscheflûres Tod, beim Überschreiten dieser irreduziblen Erzählgrenze verliert [... .] Es ist, als ob dieser Text in endloser Paraphrase nichts anderes mehr beruft als seinen Titel: Tristan - Tristan - Tristan - Tristan - Tristan.“[17]
Soll hier also der Tod hinausgeschoben werden, wird er im heutigen Schreiben gerade angestrebt: „Die Poesie führt zu demselben Punkt, zu dem jede Form der Erotik führt – zur Verschmelzung der unterschiedlichen Gegenstände. Sie führt uns zur Ewigkeit, sie führt uns zum Tod, und durch den Tod zur Kontinuität“[18]. Das Bild des ‘untoten’ Resultats wird dabei wieder geläufig. So beschreibt Boris Groys konzeptualistische Texte Dmitri Prigovs als aus „Leichenteilen“ zusammengesetzte Frankenstein-Monster, um außerdem mit Derrida auf die etymologische Wurzel des „Monsters“ als „Zeichen“ aufmerksam zu machen[19]. Schlägt er die Lesart des Monsters als Verkörperung der literarischen Rhetorik vor, da es Körperteile hyperbolisiere, metaphorisiere oder ersetze, so könnte man für den Text Lust mit seiner wuchernd-überquellenden Bilderflut von der „Plethora seiner Rhetorik“[20] sprechen. So oder so – der Text wird zum Körper, der Körper zum Text. – „Der Mann benutzt und beschmiert die Frau wie das Papier, das er herstellt.“ (LU, 68). Da er auch die Frau „erschafft“ (LU, 24), ist die Vermischung der Bildbereiche von Geschlechts- und Schreibverkehr, von Text und Körper auch in Lust vollzogen.
Auch Lust ist ein Monster: Wie ein vorweggenommener Terminator 2 kann der Text sich ständig und unmittelbar in alles verwandeln, was er einmal berührt hat. Und wie die übermenschlich-todbringende Fähigkeit des Terminator ihren Schrecken noch steigert, indem sie sich unter der wohlgeordneten Maske des Androiden verbirgt, schockiert Lust nicht trotz, sondern wegen ihrer gleichbleibend braven Anerkennung der Syntax. Sie ist kein ausgewiesen experimenteller Text, dessen Einreißen sämtlicher Grenzen auf radikale Sinnverwirrung im Vorfeld schon gefaßt machte. Ist formal der tabufreie Raum geschaffen, kann ein Text thematisch kaum noch schockieren. Fingiert er aber den sinnvollen Satz, um vor den Augen des Lesers dennoch ständig die Themen zu verschlingen und andere auszuspeien, ist die Irritation ungleich größer. Die „Leichenteile“ ihrer Zitationen, der lebendigen Aura eines einstigen Pathos längst beraubt, sind Lust beliebig auswechselbar. Weder durch Selbstmitleid noch durch Nostalgie gehemmt, steht der Text (sich) fortwährend zur Disposition. Ständig verschlingt er sich selbst, um eben Hervorgewürgtes anstelle des Verschlungenen an seinem bald wieder narbenlosen Körper anwachsen zu lassen. Offen und ohne Unterlaß negiert der Text die verläßliche Gestalt, immer bewußt, daß ihm „das Gesprochene nicht nur entgleiten wird, sondern [...] ständig entgleitet.“[21]
Dieser Erkenntnisvorsprung des Monströsen macht „das tiefste Paradoxon der ‘lebenden Toten’“ aus, wie es Slavoj Zizek anlysiert:
„Es scheint, als sei der Tod mit seinem Leichengestank nur eine Verkleidung, unter der sich ein weit ‘lebendigeres’ Leben als unser gewöhnliches, alltägliches verbirgt. [...] Gerade als Tote sind sie gleichsam ‘lebendiger als das Leben selbst’, sie haben Zugang zu einer Lebenssubstanz, die der symbolischen Mortifizierung vorausgeht.“[22]
Darin also besteht die Monstrosität eines Textes: daß seine Totenmaske verlässlich-starrer Syntax rissig ist und Durchsicht gewährt auf die Existenz vorsymbolischer – mit Kristeva: „semiotischer“ – Sinnstrukturen. Die Sinnentleerung rollt den Stein vom Grab einer festen Symbolstruktur, in das den gesalbten Sinn wir ein für allemal eingeschlossen glaubten. Mit Bataille (und Foucault und Derrida) strebt Jelinek die Überführung des philosophischen Diskurses in den literarischen an.[23] Botschaft des literarischen „Stil[es] – Zeuge des Sinnverlustes, Wächter des Todes“[24] – wäre dann eben: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ Denn wer ihm außerhalb aller strukturellen Funktionalisierung auf seinem Wege begegnet, erkennt ihn nicht. Nur wer sich überzeugen konnte, daß sein Grab leer ist, wird um die ständige Wiederauferstehung eines immer verwandelten Sinnes zu wissen beginnen und jeden seiner Tode preisen. „De la poésie où se perdrait le plus de sang serait la plus forte.“[25]
Das also ist „ergreifender fast als in den Berichten Betroffener“. Noch Lust?; Keine Lust; Unlust; Sprachlust, Körperekel[26] bescheinigen als Reaktionen, um wievieles die Kommunikation tiefer ging, als den RezipientInnen lieb war. Namenlos erschreckend die Opferung des Sinns im ständigen Abzweigen der Assoziationen, die Konfrontation mit dem „non-savoir“, die Reise zum „inconnu“[27]. „Aber wenn sich die Begierde endlos und unbeschränkt bewegt, und wenn es die Permanenz dieser endlos-unbeschränkten Bewegung ist, die wahrzunehmen als Lust bezeichnet wird:“[28] dann kann Lust doch allemal seinen Titel behalten. Wie jedoch die Figur des Terminator 2 nur in ihren Übergängen von einer (menschlichen) Gestalt zur anderen irritiert, so verliert auch Lust alles Skandalöse in einer in (Halb-)Sätze und Einzelwörter aufspaltenden Untersuchung (z.B. zum Geschlechterkampf). Seinen Schrecken erhält der Text einzig vom Gedächtnis, im Gedächtnis der Rezipierenden. Das in den Blick Nehmen der Einheit Buch erst schafft das monströse Bild der ebenso grauenvollen wie mitleiderregenden Schlußszene des Terminator 2, wenn im Moment der Auflösung der Figur im flüssigen Stahl alles gleichzeitig erscheint, was der Körper je gewesen ist. Nur im Kopf des Rezipienten, vor dem gesetzten Hintergrund einer Sinngestalt, die das Textäußere erwarten läßt, erscheint die sinnlose Anhäufung narbengesichtiger Assoziationen als das Obszöne, das dem Text angelastet wird. Denn „das Obszöne ist genau genommen kein Objekt, sondern eine Beziehung zwischen einem Objekt und dem Gemüt einer Person.“[29] Eine Beziehung freilich, die aufzubauen und zu ertragen wäre.
Wie φοβος und ελεος der griechischen Tragödie ihre Zuschauer durch „Schauder und Jammer“ hindurch mitzuentgrenzen hatte, ist bis in die antike Humorenlehre hinein belegt.[30] „Auch als Zuschauer [nicht nur als Schauspieler] einer Tragödie erfährt man Erregungen, nämlich solche, in denen sich einem die Haare sträuben und das Herz bebt und Tränen in die Augen treten.“[31] Sinn von Tragödie und „ursprünglich medizinisch-kultische[m] Katharsis-Begriff“ ist die „lustvolle Erleichterung von Schauder und Jammer“, zu der nach ‚mitgestimmtem’ Durchleben einer „Urlust am Schrecklichen“ die Zuschauer zurückkehren dürfen.[32] Graecisten wie Schadewaldt liegt dabei insbesondere daran, den Katharsis-Gedanken von überkommenen Konnotationen wie moralischer Besserung und christlichem Mitleids-Begriff zu befreien:
„Nicht an irgendeine läuternde, bessernde, moralisch-erzieherische, nähere oder entferntere, zeitweilige oder dauernde Wirkung der Katharsis denkt Aristoteles bei der Deutung der Tragödie [...] Worauf er hinaus will [mit seiner Begrifflichkeit des φοβος und ελεος], das ist einzig und allein die nähere Charakterisierung der für die Tragödie spezifischen Lust und Freude.“[33]
In vergleichbaren Bahnen denkt Bataille die Wirkung der Literatur. Der im Stellvertretervollzug des Kunstwerks vollzogene Durchgang durch den Tod ermöglicht denen, die ihn mitvollziehen, das Erlebnis einer Katharsis. – Einer Katharsis, die im Wort „Lustration“ ja übrigens ein definiertes Synonym besitzt. Das ist nun freilich lustig, denn assoziiert man sich durch die Komplementärwörter zu „Lust“, ist „Frust“ als modisches Kürzel der „Frustration“ doch einer der ersten Funde, die man verzeichnen kann. „Lust“ also als Kürzel: die Lust-Ration als Lustration? Ein in Jelinekschen Sprachspielen aufgewirbelter Geist wird kaum sich diesem Wortspiel entziehen können. Das Durchleben des Ekels und der Angst, um „am Ende, jenseits des Todes und des Untergangs, die Überwindung der Angst zu finden“[34], könnte heute Ziel eines mit „Lust“ überschriebenen Textes sein. Der Mitvollzug einer Opferung des Sinns wäre damit das Angebot einer Literatur, die Bataille als „Erbin der Religion“ bezeichnet. Im Aufschein des Sinnkontinuums vor dem wachen Blick der Rezipierenden – nur in deren Kopf entsteht der Text als sinnentleerter, wie nur den Umstehenden im Opfer sich das Seinskontinuum offenbaren kann – im Aufschein des Sinnkontinuums in einem Text wie Lust wäre durch die priesterliche Tat der Autorin Kommunikation mit den LeserInnen noch einmal möglich. Ohne „an irgendeine läuternde, bessernde, moralisch-erzieherische, nähere oder entferntere, zeitweilige oder dauernde Wirkung“ dieser Literatur zu denken, fände sich im Durchgang durch „Mord und Tod!“ (LU, 255) lediglich semiotischer Spielraum eröffnet. Der berüchtigte Abschluß des Buches, das „Aber nun rastet eine Weile!“ (LU, 255) würde zum einen rückwirkend das Lesen als intensives kommunikatives Erlebnis deuten, zum andern freilich – da die „Weile“ ihr Ende in sich einbegreift- auf jenes Weiterschreiben verweisen, welches eine nie endgültige kathartische Wirkung der Kunst immer wieder von neuem möglich (und ‚nötig’) macht.
[...]
7.2 Der atonale Roman
„Monstre“. Tabulatur: Lust ist ein Spiel. Ein Spiel allerdings, nicht ‘vom Blatt’ zu spielen für solche, die in der Prosa bisher nur die tonale Harmonik stringend-logischer Informationsübermittlung zu lesen gewohnt waren. In Lust tendiert die Polyphonie des modernen Romans zur Atonalität. Jelinek schreibt Sprache wie absolute Musik, nutzlos: sinnlos und schön. Freilich keine Vierteltonmusik: Orthographie und Syntax sind korrekt, sie zerpflückt nicht ihre Wörter. Die Notation ist sozusagen klassisch-traditionell; aber es klingt anders: bewußt ständig die différance des pythagoreischen Kommas, das jedweden Ton zum immer schon doppelten macht und im Erklingen des Doubles das wohltemperierte Instrument die reine Stimmung immer verfehlen läßt. Wie vom Tristan gesagt worden ist, er markiere die Emanzipation der Dissonanz und des Vorhalts, so gewinnt darum die flüchtige Assoziation bei Jelinek Eigenwert. Das „Gleiten des Signifikanten“ (Lacan) – implizites Konstituens lyrischer Sprache – erhält in Lust an der Textoberfläche Gestalt, wenn in der enharmonischen Verwechslung von Homonymen die Assoziationsketten zu ungewohnten Klangverbindungen moduliert werden. Schamlos wird in Lust verborgen Mitschwingendes zum Halbsatz, um auf einen Abweg zu führen, der als Weg weitergegangen wird. So konstruiert sich Jelinek durch ihre Zwölftonreihe von Rausch, Musik, Gewalt; Geld, Welt, Geschlecht; Zeit, Nahrung, Sport; Arbeit, Lachen, Tod, in der keine der Positionen eindeutig eine Dominante wäre. Entlegenstes verknüpft sich: rhizomatisches[35] Schreiben. Wenn der satirische Tenor ein Schlüssel zum Werk ist, dann nur als Notenschlüssel, der, jederzeit aufhebbar, die Stimmlage festsetzt. Mit dieser wohl auch die Instrumente, mit denen interpretiert werden soll. Denn wer auf der Bratsche ein Violinkonzert spielen will, muß im Kopf die Noten transponieren, um sich im Ton nicht zu vergreifen.
[1]Elfriede Jelinek im Gespräch mit Margarete Lamb-Faffelberger in Lamb-Faffelberger, S. 192.
[2]Wie auf theoretischer Eben im Interview Jelinek sie freilich formuliert: Jelinek in Philosophin, S. 95.
[3]Vgl. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, S. 112-120.
[4]Frei nach: Franz Kafka, In der Strafkolonie, in: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg. von Paul Raabe, Frankfurt a.M. 1970, S. 100-123, S. 108.
[5]Rike Felka, Das Begehren, markiert zu werden, in: Erkenntniswunsch und Diskretion. Erotik in biographischer und autobiographischer Literatur, hg. von Gerhard Härle, Maria Kalveram und Wolfgang Popp (=3. Siegener Kolloquium Homosexualität und Literatur) Berlin 1992, S. 217-225, S. 225.
[6]Elfriede Jelinek in Philosophin, S. 96.
[7]Hans Hiebel, Elfriede Jelineks satirisches Prosagedicht ‘Lust’, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft XXIII (1992,2) S. 196-299 (Zitat oben im Text S. 298, Kursivierung im Original).
[8]Bataille, o.W., S. 62, Hervorhebung im Original.
[9]Zum derart gebrauchten Bild des „Hymen“ vgl. Jacques Derrida, Double séance, in: Ders., La dissémination, Paris, 1972, p. 199-317.
[10]Blanchot, Gesang, S. 309. Vgl. auch „Tod, Negation und Unwirklichkeit, die am Grunde der Sprache arbeiten“: Maurice Blanchot, Die Literatur und das Recht auf den Tod [1947] in Ders., Von Kafka zu Kafka, Frankfurt a.M. 1993, S. 11-53, S. 50.
[11]Jacques Derrida, La pharmacie de Platon, in: Ders., La dissémination, Paris 1972 [première version publiée dans Tel Quel 1968] p. 69-197, p. 86s. Siehe auch schon Derrida, Grammatologie, S. 70. Vgl. dazu auch Kofman, Derrida, S. 19f.
[12]Kofman, Derrida, S. 64.
[13]Gottfried von Strassburg, Tristan, Bd. 1: Text. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Verse 1-9982, Stuttgart 1980, V. 1847. Auch Tristan wird im Tod gezeugt (ebd. V.1320-1325) und im Tode geboren (ebd. V. 1748-1750).
[14]Hans Jürgen Scheuer, zwîvel als Erzählprinzip (unveröffentlichter Vortrag, gehalten am 27.4.1993 in Rothenberge anläßlich des Kolloquiums „Die Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg“ unter der Leitung Prof. T. Tomaseks) künftig zitiert: Scheuer, zwîvel; S. 16.
[15]Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 178 (Hervorhebung im Original). Zitiert nach ebd. S. 16.
[16]Bataille, o.W., S. 60. Freilich geht Bataille außerdem davon aus, daß Gott - als Ende und Ziel („fin“) aller Dinge definiert - nun selber ein Ding ist. Vgl. Bataille, Nietzsche et Jésus selon Gide et Jaspers, in: Ders., Œvres complètes, VIII, Paris 1976, p. 459-473, p. 463.
[17]Scheuer, zwîvel, S. 18.
[18]Bataille, Erotik, S. 27.
[19]Prigov übermalt bekanntlich Zeitungen mit einzelnen Wörtern wie „Horror“, „Tod“ oder „Angst“, und er fingiert Texte als aus Teilen einer Bibliothek fiktiver Autoren zusammengesetzte. Groys, Text, S. 59 sowie Jacques Derrida, Heideggers Hand (Geschlecht II), in: Ders., Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II) Wien 1988, künftig zitiert: Derrida, Geschlecht; S. 54.
[20]Den Begriff gebraucht - wie oben zitiert - Teuber in Bataille (S. 92) für den von ihm interpretierten Text des Johannes vom Kreuz.
[21]Bataille, o.W., S. 62.
[22]Zizek, Grimassen, S. 144.
[23] „Ich habe in dem Stück [Totenauberg] versucht, das denkende Sprechen in ein dichterisches Sprechen überzuführen, also gewissermaßen subversiv den männlichen Diskurs mit weiblicher ‚Ungenauigkeit’ zu unterlaufen“ (Jelinek in Philosophin, S. 94f.) Referenzen fehlen hier. Vgl. aber etwa Bataille, Expérience, p. 20s : « [Les expériences,] ‘il en faut saisir le sens du dedans’. [Elles] ne sont pas démonstrables logiquement. […] [L]a philosophie proprement dite […] se dissout » ; auch Derrida, Hors livre, p.58, wo für diese Bewegung schon auf Novalis verwiesen wird.
[24] Kristeva, Sonne, S. 357.
[25] Bataille, Expérience, p. 156 sowie Ders., Notes. Par-delà de la poésie [aus dem Manuskript zu Le Coupable] in Bataille, Œvre complètes, V, p. 422.
[26]Alice Schwarzer zu einem Vorabdruck in: Emma Nr.4 (April 1989) S. 42f.; Sibylle Cramer in: Der Tagesspiegel vom 20.8.89, S. XI; Volker Hage in : Die Zeit Nr. 15 (7.4.89) S. 69f.; Klaus-Peter Philippi in: Rheinischer Merkur /Christ und Welt Nr. 19 (12.5.89) S. 21.
[27]„[L]a poésie mène du connu à l’inconnu.“ Bataille, Expérience, p. 157. Im selben Text zu Beginn stellt Bataille außerdem fest, was Gott überhaupt nur interessant mache, sei das Unbekannte daran (ebd. S. 17 ?***).
[28]Julia Kristeva, Die Aktualität Célines, in: Vorbilder. Literaturmagazin 10 (1979) S. 67-77, S. 69f.
[29]Bataille, Erotik, S. 211.
[30] Vgl. grundlegend dazu Wolfgang Schadewaldt, Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes, in : Hermes 83 (1955) S. 129-171, künftig zitiert: Schadewaldt, Furcht. Hellmut Flashar die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik, in: Hermes 84 (1956) S. 12-48. Max Pohlenz, Furcht und Mitleid? ein Nachwort, in: Hermes 84 (1956) S. 49-74.
[31] Schadewaldt, Furcht, S. 158.
[32] Ebd. S. 151, S. 158-161 und S. 169. So auch ebd. S. 160f: Die Wirkung der Tragödie besteht darin, „daß sie eine spezifische Lustform im Zuschauer auslöst: die Lustform, die entsteht, wenn die Tragödie durch die Elementarempfindungen von Schauder und Jammer hindurch [...] im Endeffekt [...] die mit Lust verbundene befreiende Empfindung der Ausscheidung dieser und verwandter Affekte herbeiführt.“
[33] Ebd. S. 156, Hervorhebung im Original. Zur Abgrenzung vom christlichen Mitleids-Begriff ebd. S. 134.
[34] Bataille, Erotik, S. 86.
[35]Vgl. Gilles Deleuze - Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 11-42. Mit dem Rhizom meinen die poststrukturalistischen Autoren das Wurzelwerk sprachlicher und damit gesellschaftlicher Verknüpfungen, die unübersichtlich, durch keine Theorie vorhersehbar und unwiederholbar sind. Gleichzeitig verknüpft rhizomatisches Denken thematisch weit getrennte Bereiche des Wurzelwerks.