„Ein Drehbuch für sich allein“
Leseprobe
In der Tat scheint die Möglichkeit, „die Aufführung“, die das soziale Leben ist, zu unterbrechen, nicht gegeben, denn „[d]as einzige, worauf alle verzichten müssen, ist der Anspruch auf eine oberste und einzige Wahrheit.“ (Sgier 1994: 41) Aus dem unhintergehbaren Eingeschlossensein und Eingeordnetsein in das ‚Stück’ aber die Unveränderbarkeit der Rollenverteilung zu folgern, scheint Ende des 20. Jahrhunderts ein Kurzschluß. Statt eines komplett neu ausgehandelten Drehbuchs propagieren die Gender Study-Feministinnen die befreiendere und wirkungsvollere Verweigerung des zugeteilten Redeverhaltens: Nicht von einem (unmöglichen) Punkt jenseits von Aufführung und Bühne aus, sondern im Spielen selbst, im parodistischen, übersteigernd nachäffenden Zerspielen der Rollen, können die relationalen Konstruktionen der Spiel-Figuren aufgebrochen und verschoben werden. Da das ‚Geschlechterdispositiv’, die hierarchische Geschlechtermatrix ja gerade keine natürliche, gottgegeben-metaphysische Grundlage besitzt, sondern auf ihre ständige gesellschaftliche Reproduktion angewiesen ist, kann das zähflüssige soziale Gefüge in der Interaktion verschoben und entzerrt werden. Die Einsicht in die reine Performativität der ausschließlich kulturell begründeten Bedeutungen der Geschlechts-Identität lässt es zu, daß diesseits eines neuen Drehbuchs jede Einzelne in den Stehgreif-Dialogen der ‚symbolischen Interaktion’ in jeder Situation ihr eigenes Drehbuch verfassen kann: ein Drehbuch (dann allerdings auch nur) für sich allein.
Zitat aus dem Essay, S. 198
Inhalt des gesamten Essays:
Von Männern und Menschen – Von Masken und Menschen 1 oder Kleider machen Leute – Von Göttern und Menschen – Von Spiegeln und Menschen oder Herr und Frau – Von Monstern und Menschen oder Die Homogenisierung der Gesellschaft – Homogenität und Heterosexualisierung oder Der Feind in meinem Bett – Von Frauen und Frauen 1 oder Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Von Frauen und Frauen 2 oder Kein Ort. Nirgends – Von der Affirmation des Hysterischen oder Hymnen an die Nacht – Von Masken und Menschen 2 oder Wer hat Angst vor Judith Butler?