Leidenschaft und Lebenspraxis
V. Europäische Sommerakademie in Weimar
In Trägerschaft von Bauhaus-Universität und Stadt geht in diesem Jahr vom 28. Juli bis zum 23. August zum fünften Mal über die Bühne, was die internationale akademische Jugend in die künftige Kulturstadt locken und die künftige Kulturstadt auf diese Jugend vorbereiten soll: die Europäische Sommerakademie.
Neben dem Deutschen als Fremdsprache bringen Intensivkurse in Spanisch, Französisch und Italienisch, von Muttersprachlern geleitet und durch Kulturinstitute der jeweiligen Länder mitgetragen, den etwa 130 Studierenden in 80 Unterrichtsstunden an 20 Vormittagen Vokabular und Sprachempfinden, Landeskunde und Mentalitätengeschichte eines fremden Landes nahe. Flankiert und erweitert wird das Sprachenlernen durch ein umfangreiches Kultur- und Begegnungsprogramm - konzeptionell nach wie vor in den Händen der über Kooperationsvertrag als Partner gebundenen Deutsch-Italienischen Gesellschaft in Thüringen -, das durch Vorträge, Lesungen, originalsprachliche Filme, durch Feste, Tanztheater und Konzerte, vor allem aber durch sieben verschiedene originalsprachliche Theaterstücke Gelegenheit zur Festigung der Sprachkenntnisse wie zu Kontakten mit den mitstudierenden Muttersprachlern gibt.
Mit dem Motto - "Eine Seele - zwei Sprachen", dem Titel des Eröffnungsvortrags des Rätoromanen Clo Duri Bezzola, steht für dieses Jahr mit großzügiger Unterstützung der Stiftung PRO HELVETIA die Schweiz als Modell eines multikulturellen Landes im Mittelpunkt der inhaltlichen Konzeption. La Rada, der Schweizer Verlag der zweisprachigen Editionen, wird am 5. August im Kasseturm lesen und lesen lassen. "Stiller Has", das sind musikalische Cartoons zwischen Rock, Jazz und Liebeslyrik, werden am 19. August im E-Werk zu hören und (abzüglich Dialekt) zu verstehen sein. Mit ihrer "messe bleue" wird Catia Olivia am 6. August in der Schloßkirche Ettersburg eine Komposition von Marianne Ambresin zu Gehör bringen, die entlang der Achsen von Haltung, Leidenschaft, Sinnsuche und Lebenspraxis eine explosive Percussion ins Werk setzt; gefolgt am nächsten Abend im E-Werk von "Harpeggio", einem "multivisionären Spektakel für Harfe, Live-Elektronik und Live-Video". In "Les somnambules" wird die Compagnie Jaccard/Schelling/Bertinelli mit einem glaubhaften Spiel um den schlaflosen Träumer, um das schlafwandlerisch-hellsichtige Handeln des intuitiven Menschen einen glanzvollen Höhe- und Schlußpunkt der Sommerakademie herbeitanzen.
Mit vier verschiedenen Stücken präsentiert sich das Teatro Paravento Locarno als der vielseitigste Gast. Die in sich multinationale, 1982 gegründete größte freie Theatergruppe der Schweiz arbeitet in ihren Produktionen konsequent in der Tradition der italienischen Commedia dell'arte, die sie mit Elementen des Improvisationstheaters und der Pantomime aus der berühmten Dmitri-Schule weiterentwickelt und zeitgemäß adaptiert: Zwischen komödiantischer Maskerade und herzzerreißendem Minenspiel ist die atemberaubende Akrobatik des "Minicirco Monumental", sind die Harlekinaden des "Attenti al Lupo" und des "Servitore di due padroni" zeitgemäßes Theater und theatergeschichtliche Studie zugleich. "I Rondoni", das Stück um eine historische Auswandererfamilie, die sich mit Varieté durchs amerikanische Leben der Jahrhundertwende schlägt, integriert auch inhaltlich, was Theatergeschichte im Lexikon nicht nahebringen kann.
Cornelie Becker
Zuerst erschienen in: Weimar Kultur Journal. Zeitschrift für die Region Weimar, Erfurt, Jena, Apolda, Jg. 6, Nr. 8/1997, S. 29.