Klunkervogel, Honiggras

Notizen zum 2. Festival der jungen Literatur in Thüringen, Erfurt, Oktober 1995

Wieder habe ich Ines Eck am meisten genossen: eine paillettenbefiederte Ines Eck und die betörende Arroganz eines nachlässigen Understatements, in dessen Gestus Eck ihre Lesung durch raffende Kommentare zusammenzukürzen pflegt, als könnte Nacherzählbares der wesentliche Gehalt ihrer Dramen und Gedichte sein. Ihrer Gedichte, die in der schwingenden Monotonie des Eck'schen Vortrags Spielerei und 'Botschaft' auf eigentümliche Weise in der Schwebe halten. "ich ging singen das heißt/ ich tat haar vors gesicht// ich ging hören das heißt/ ich steckte ringe ins ohr// ich ging reden das heißt/ ich malte die lippen rot" lautet beispielsweise der Beginn der Parallelkonstruktionen, deren 13 das am 29.10.1995 im Erfurter Waidspeicher-Theater u.a. vorgetragene Gedicht "ich ging singen" von Ines Eck. Vollenden. Was semantische Analysen nach dem Vorbild von Barthes' Sprache der Mode ebenso aufruft wie höhnische Selbst- und Gesellschaftskritik feministischer Provenienz ("ich ging kratzen das heißt/ ich schnitt fingernägel spitz// ich ging beißen das heißt/ ich putzte mir die zähne// ich ging schlagen das heißt/ ich cremte mir die haut"), ist alles in allem auch Amüsement jenseits der Resignation. Ich gehe leben, d.h.: Ich spiele mit der Sprache. (Gewesenes) Leid taugt zur Maske - "meine nacktheiten sind des kaisers neue kleider" (Eck).

In dieser Hinsicht vergleichbar Ilse Kilič, wie sie sich am Eröffnungsabend des Lesungs-Wochenendes im Haus Dacheröden präsentierte. Im sympathisch aussingenden Dialekt ihrer Wiener Heimat - ich erwähne das, weil ein Vortragsdialekt m.E. Textwirkung mitkonstituiert - las sie zunächst ein leitmotivisch-manisches Stück lyrischer Prosa - "als ich die kellerstiege hinunterging - oder hinauf" -, dem bei aller traumvisionär-assoziativen Erzählweise auch ganz klare Philosopheme eingewoben sind: "die sprache verdeckt das geschehen", das sich "auf Dekoration reduzieren" läßt. - Las erfrischend aber auch von Peter, Liesl, Karl und Susi, deren jeweilige Idiosynkrasie und autopoietische Geschlossenheit - so könnte man interpretieren - dabei direkt in den Text eingeht, indem die Figuren an Vokalen nur die den eigenen Namen bestimmenden hervorbringen können: der Karl nur Worte mit 'a', der Peter nur solche mit 'e' und so fort. Selbst auf ihre textuelle Umgebung wirken die Figuren in dieser Weise ein. (Als endlich Ulrike und Monika auftauchen, die in der Textlogik eine ganze Sprache garantieren könnten, werden sie als Interviewerinnen eingeführt: als solche, die sprechen lassen.) Daß übrigens bei alledem nur von (bi)sexuellen Praktiken in umstürzlerischen Aktivitätsverteilungen die unkonventionelle Rede ist, bescherte dem Text das an jeder Stelle verdiente spontane Gelächter.

Das erfrischende Gelächter, dessen das Publikum wohl auch in besonderem Maße bedurfte. Hatte doch - moderiert von Frank Willmann und das Literatur-Festival insgesamt eröffnend - Alban Nikolai Herbst vor Kilič gelesen; aus seiner sizilischen Reise - aus der, wie Willmann betonte: sizilischen, nicht: "sizilianischen" Reise. Man begreift allerdings auch ohne diesen besonderen Hinweis auf einen antikisierenden Titel, daß hier mal wieder ein männliches Ich auf der Suche nach seinem Ursprung zu den Italiern aufbricht. In die ermüdende Chronologie vorromantischer Reisebeschreibungen literarisch altbekannter Orte eingebettet, kocht die sizilische Reise Eichendorffsche Mythologeme auf. Denn der blond-blöden Deutschen, die den Ich-Erzähler in Catania anspricht, wird - fast erstaunt es nicht mehr - die nächtliche Verführerin gegenübergestellt, die die Zeit aufhebt und an verborgnem Quell Wasser in Stein verwandelt, die unverständlich spricht und mit alledem - plötzlich wie vom Erdboden verschlungen - der Zauberei im Herbste in gewohnt gewöhnlicher Weise zur Inszenierung verhilft. - In Bezug auf Catanias frühe Universität, auf Intelligenz mit Tradition, hatte der Text Seiten vorher ein anderes Frauenbild versprochen: "Hier muß man mit den Frauen kämpfen, oder darf ihnen nachträumen nur." Die Kämpfe gehen aber offenbar doch mit den bekannten Waffen vonstatten, und im unverhohlenen 'Emanzen'-Spott scheint der betont exquisit gekleidete Softmacker ertasten zu wollen, inwieweit Frauenfeindlichkeit noch oder schon wieder kulturfähig ist. (Sie ist es nicht, Herr Herbst. Sie können getrost an anderen Themen weiterarbeiten.) Aber lassen wir das, wie auch die schnelleeingreifgedichte des Bert Papenfuß, die - weniger als Literatur denn als Pamphlete - den Freitagabend beschlossen. Lassen wir das, denn wichtiger ist Yoko Tawada - in Hamburg lebende japanische Germanistin -, die durch ihre Lesung den Samstagabend im Erfurter "P33" mitgestaltete.

Einem literarischen Text mit starken Anleihen aus der psycho-analytischen Erzähltradition - Die Rosinenaugen - ließ Tawada den Anfang der essayistischen Erzählung Erzähler ohne Seelen folgen. Während Die Rosinenaugen auf totemistische Rituale anspielen und davon sprechen, wie das erzählende Ich den Vater ißt, der nach Hirsch schmeckt und doch aus Brotteig ist, den Vater, der eigentlich eine Frau ist und seine Muttergattin beständig auch selber gebiert, thematisieren die Erzähler ohne Seelen die deutsche Sprache und mit ihr die irritierenden Implikationen fernwestlicher Ideologie. Mit bereits verschmitztem Lächeln kehrt der plaudernde Essay den eigenen ethnologischen Blick heraus, dekonstruiert mit glaubhaften Gegenbildern ausgewählte abendländische Legenden, liefert im Gegenzug eigene Philosophie und führt alles in allem die christlichen Ideologeme als verdammt exotische Gedankenkonstrukte vor.

Einen ähnlich entfremdend-erneuernden Blick auf die eigene Kultur hatte am gleichen Nachmittag ein Stadtrundgang mit Dietmar Pokoyski geliefert. Pokoyski, dessen "Video-G-Dicht" Fliegen und Krawatten gemeinsam mit seiner Ausstellung Lost Books. Bücher + Nicht-Bücher + Multiples an dem Lesungs-Wochenende eröffnet wurde und bis Ende November 1995 in den Galerien des Hauses Dacheröden zu sehen sein wird, beschreibt in einem manipulierten Erfurter Stadtplan als Urban Ro/utes II einen Stadtrundgang, der "die Stadt als Buch" lesbar machen soll. Frei nach dem Beuys'schen Motto, daß jeder ein Künstler sei, entstehen visuelle oder (Zufalls-)Wort-Gedichte bei diesem Stadtrundgang, die etwa die Nummernschilder aller während einer Ampelphase vorbeifahrenden Autos, die geordnete Reihe von Klingelschildern oder die verräterischen Reste einer einstigen Leuchtschrift-Befestigung zum Inhalt haben. 4 Minuten 44 lang - nicht: 4'33, wie bekanntlich ein nur aus Pausen bestehendes und somit Unruhe erzeugendes Klavierstück des John Cage betitelt ist - soll am Angerbrunnen gesessen und den Geräuschen von Passanten und Fahrzeugen gelauscht werden: Als ernstzunehmendes Klangereignis, konkreten Ausschnitt aus der 'unendlichen Melodie' der Stadt, nennt Pokoyski auch dies ein "Gedicht".

Neben den oben eingehender besprochenen Autorinnen und Autoren stellten sich am 28. Oktober Michaela Seul mit fünf kleineren Psychogrammen im Stil der 70er Jahre und Frank-Wolf Matthies mit einer Passage aus seinem Roman Omerus Volkmund vor. Hubert Schirnecks gelungen metaphernreicher stream-of-conciousness und Michael Wildenhains soziokulturelles Mosaik Die kalte Haut der Stadt umrahmten die Lesung Ines Ecks am 29. Oktober.

Unerwähnt darf selbstverständlich Jürgen Paasch nicht bleiben, dem als Leiter des LITERATURbüros Thüringen e.V. die Gesamtregie der auch organisatorisch gelungenen Abende oblag. Außer Frank Willmann leiteten Tobias Gohlis (28.10.) und Jürgen Deppe (29.10.) die Lesungen ein. Weitere Informationen zu einem folgenden Literaturtreffen im Herbst 1996 sind z.B. im Erfurter LITERATURbüro unber 0361-5612918 einzuholen.

Cornelie Becker