"Warum hast du so schöne Augen?"
Wolfgang Nickel. Märchen in Glas
Unter dem Titel "Der gläsernde Pantoffel" zeigt Wolfgang Nickel, international renommierter Glaskünstler aus der Thüringer Rhön, im Literaturmuseum Theodor Storm Heiligenstadt/ Eichsfeld Märchenmotive in Glas. Wie so häufig, setzt Nickel dabei auf die Technik des Glasfusing. Bei dieser Glasverschmelzung entsteht auf einem zuvor zum Relief strukturierten Flachglas in mehrfacher Bemalung und mehreren Brennvorgängen eine komplexe Bildaussage aus durchscheinenden, einander überlagernden Motiven und z.T. auch lesbarer Schrift. Nachdem Nickel - von Hause aus Maler und Grafiker, jedoch seit über 30 Jahren in der Glaskunst tätig - sich bereits zwischen 1987 und 2011 in Grafikserien den Märchen seines Landmannes Ludwig Bechstein zugewandt hatte, sind es nun die Zaubermärchen der Gebrüder Grimm - Rotkäppchen, der Froschkönig, Dornröschen, Aschenputtel u.a. -, aber auch die Kunstmärchen des Erzählers Theodor Storm, die die vielschichtigen Wandarbeiten mit ihren Charakteren bevölkern. In Bildern, die die entzückenden figürlichen Gestalten und märchenhaften Dingsymbole ebenso prägnant herausarbeiten wie im Schillern der Überlagerungen interpretieren, gelingen Nickel Geniestreiche wie die Sichtbarmachung von Verwandlung in ein und derselben Darstellung. Nur in Glas denkbar, verjüngt sich etwa Storms Regentrude vor unseren Augen und wir müssen mit ansehen, wie Rotkäppchen leibhaftig in die Haut des Wolfes schlüpft. Manipulierte Zitate wie das "Warum hast du so schöne - statt: große - Augen?", schreiten das Potential der Figuren deutlich weiter aus, als wir es gewohnt sind und macht tiefere Bedeutungsschichten der Märchenhandlung in den Bildern selbst lesbar. Daß zu Dornröschens Spinnrad die Textzeile "Und der Wind legte sich" in ornamentaler Reihung erscheint, lenkt unseren Blick eindringlich auf die kosmische Dimension, die hier dem Todesschlaf eignet.
Die Ausstellung läuft bis 27. Februar 2022. Das umfangreiche Katalogbuch mit Erläuterungen zu den Bildern, aber auch überraschenden Interpretationen zu einzelnen Märchen ist in Arbeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar
Der Text erschien zuerst unter dem Titel Cornelie Becker-Lamers, Wolfgang Nickel - Märchen in Glas, in: Neues Glas - New Glass: art&architecture No. 1/2022 [Januar 2022]