Begleitband zur Ausstellung im Schloß Wilhelmsburg Schmalkalden 2017
Geheimnisvoll und dunkel ist die Liebe.
Nichts, das so einfach wäre und so klar.
Nichts, das doch ständig in Bewegung bliebe,
so launisch und zugleich unwandelbar.
Nichts, das so bang uns zu der Frage triebe:
"Wird morgen denn noch sein, was gestern war?"
Ehrfürchtig staunend bleibt sie auf Distanz
Und ruht doch erst, ist die Verschmelzung ganz.
Verbergen will sie und zugleich sich zeigen.
Frei muß sie sein und hat doch keine Wahl.
Sie löst uns auf und Heil'ges ist ihr eigen,
erlöst sie uns von nie gekannter Qual.
So fliehen wir, wenn sich die Tage neigen,
daß man uns suche, eins ums andre Mal,
Geliebten gleich ins Heckenlabyrinth.
Es ist wie Sucht nach bitterem Absinth.
Bisweilen sind wir wie vor Angst gelähmt.
Die Liebe läßt uns innerlich verbrennen.
Sie überschätzt sich selbst und ist verschämt,
sucht Heimlichkeit und kühnes Sich-Bekennen.
Verhaßt ist ihr, was heuchlerisch verbrämt.
Sie kann die Wahrheit nur auch Wahrheit nennen,
und duckt sich doch in ein Versteck wie Diebe.
Geheimnisvoll und dunkel ist die Liebe.
So etwa. Seit Jahrtausenden umkreisen Dichter in ihrem Werk ein Thema, dem sich auf anderem als künstlerischem Wege kaum zu nähern ist: Liebe und Erotik. Von Catulls "ars amatoria", einem um Christi Geburt in Rom entstandenen Lehrgedicht zur Kunst des Liebens, über den Minnesang, der die Anbetung der Lehnsherrin mit der geistlichen Marienverehrung parallelisiert, bis zur modernen Liebeslyrik, wie sie sich im vergangenen Jahr in den über 500 Einsendungen zum zweijährlich ausgeschriebenen "Menantes"-Wettberb im thüringischen Wandersleben etwa im Lob des Etuikleides widerspiegelte, wird dem Wesen dauernder Liebe und knisternder Erotik - zugleich Wegbereiterin wie Gegenspielerin monogamer Treue - nachgespürt. Maler wählen seit dem Barock vorzugsweise antike oder biblische Themen - Leda mit dem Schwan, Pan und Syrinx, Diana und die Nymphen, Bathseba, Susanna im Bade und viele mehr -, um dem Betrachter die Unwiderstehlichkeit erotischer Momente spürbar werden zu lassen. Der Mensch kommt von der Liebe nicht los. Sie beschäftigt ihn unaufhörlich. Seit Jahrhunderten verschmachten darum allabendlich Heldinnen und Helden aus Oper und Drama auf den Theaterbühnen der Welt.
Wahrlich: Beschrieben, besungen und getanzt wurden Liebe und Verliebtheit vieltausendfach.
Zeigen aber kann das Wesen der Erotik die Serie neuer Werke des Glaskünstlers Wolfgang Nickel. Mehr noch: "Lustgärten", die neuen Zeichnungen und Malereien in Glas, geben das Wesen der Liebe in einer Weise adäquat wieder, wie es kaum einem anderen künstlerischen Medium gegeben scheint.
Was tut Wolfgang Nickel und was macht seine Arbeiten so einzigartig?
Ausgangspunkt der "Lustgärten" war ein Lustgarten. Ein echter Lustgarten, am Südhang der Schmalkaldener Wilhelmsburg anläßlich der Landesgartenschau 2015 als barocke Anlage anhand einer einzigen verbliebenen Zeichnung rekonstruiert. Nun haben historische Stadtpläne und Gemarkungskarten Wolfgang Nickel seit langem inspiriert. Die Möglichkeit einer realen oder doch zumindest gedanklichen Rekonstruktion, die Analyse von Umbauten, Erweiterungen und Anpassungen, das Sichtbarmachen von Veränderungen und den daraus resultierenden Schichtungen von Bebauung und Landschaftsstruktur stellen für seine Kunst, die ja ihrerseits von Überlagerungen und Schichtungen lebt, reizvolle Anregungen dar. So ist es nicht verwunderlich, daß die gärtnerischen Rekonstruktionen in seiner Heimatstadt Nickels Interesse weckten. Anläßlich seiner Ausstellung im Sommer 2016 wurden die "Lustgärten" als Arbeitstitel einer weiteren Sonderausstellung in zwei Räumen der Wilhelmsburg zwischen Künstler und Museumsleitung abgestimmt.
Es entstanden Werke wie "Schlossanlage", "Der erste Lustgarten", "Der andere Lustgarten", "Der vierte Lustgarten" - Konstruktionszeichnungen in Glas mit zum Teil noch lesbaren Schriftelementen: "Exercierplatz", "Pfalz". Besonders in "Der vierte Lustgarten" kommt die ganze Schönheit der eingebrannten, im Rahmen auf zentimeterweitem Abstand zum weißen Hintergrund gehaltenen Hinterglasmalerei zum Tragen, wenn die Glasfarbe im Sonnenlicht orangefarbene Schatten auf den Bildhintergrund wirft. Von innen heraus leuchtende Punkte und Flächen, wie von alten Kirchenfenstern in Sakralarchitektur geworfen, strahlen aus dem Kunstwerk heraus und führen zu einer Überlagerung der Zeichnung mit ihrem eigenen Schatten.
Schrift wie Bauzeichnung gehen ins Ornamentale über, wenn etwa im "Sechsten Lustgarten" die vierfach achsensymmetrische Anlage dem Schmuckelement einer quadratischen Zierkachel vergleichbar wird und rote vegetabile Muster die Wahrnehmung der Zeichnung überlagern. In "Obere Blumenterrasse Luststück" und "Geisha mit Kranichen" ergänzt ein völlig neuer inhaltlicher Aspekt der Arbeiten die Darstellung der Landschaftsarchitekturen: Köpfe werden erkennbar, Körper oder Körperteile in der "Blumenterrasse", die nicht ohne weiteres zu ganzen Figuren zusammensetzbar sind. Die blutrote "Geisha" schließlich verdrängt die in zarten weißen Linien gehaltene Gartendarstellung im Hintergrund fast vollständig aus der Wahrnehmung.
Von den "Lustgärten" war die Assoziation zur Lust selber nämlich nicht weit gewesen. Wolfgang Nickel begann, sich mit den Zeichnungen der "Shunga" - zu deutsch "Frühlingsbilder" - künstlerisch auseinanderzusetzen. Die originalen "Frühlingsbilder" entstanden im Japan der Edo-Zeit, in welcher sich der Inselstaat vollständig gegenüber allen westlichen Einflüssen abgeschottet hatte. Während dreier Jahrhunderte also ab 1600 publizierten namhafte japanische Künstler meist unter Pseudonym Holzschnitte und Zeichnungen, die weite Verbreitung fanden, bis sie um 1900 in Japan verboten wurden -genau um die Zeit, als im Österreich des Fin de siècle Grafiker wie Franz von Bayros ebensolche Werke auf den Markt zu werfen begannen: in ihrer Eindeutigkeit brutale Anleitungen zur Zärtlichkeit, schamlose Gebrauchsanweisungen für die menschlichen Sexualorgane.
Wolfgang Nickel nimmt Elemente der Shunga-Zeichnungen in die eigenen Glasarbeiten auf. In "Du bist mehr als der Frühling", in "Morgenröte" und im "Regenspiel", in "Enthüllung" und "Fröhliches Treiben" sind liebende Paare, ist der freudige Schreck im ersten Entdecken des Körpers dargestellt. Liebevoll und mit handwerklicher Meisterschaft umreißen wenige Striche hübsche oder niedliche, jedenfalls sympathische Physiognomien, die den Betrachter für die Figuren einnehmen. Die Körper sind vielfach verfremdet. So vermögen die Rundungen abgewinkelter Beine kaum wirklich die Stellung eines der Körper abbilden zu wollen. Sie scheinen eher wie die Genrezitate der nachempfundenen, rein ornamental zu verstehenden japanischen Schriftzeichen ins Bild gesetzt.
Anders als die "Shunga" verbergen die Zeichnungen Nickels ebensoviel wie sie zeigen. In der buchstäblichen Vielschichtigkeit - nämlich der Mehrfachbemalung des mit jeder neuen Farbschicht erneut gebrannten Glases - durchdringen und überlagern sich die teiltransparenten Schichten der Zeichnungen und Ornamente, verhüllen und interpretieren sich. Ist ein Motiv auf die Vorder- wie die Rückseite einer Glasplatte gezeichnet wie etwa in "Enthüllung", erscheinen die Konturen uneindeutig und verschwommen und verändern sich je nach Position des Betrachters zum Bild. Der im Vorbeigehen sich wandelnde Lichteinfall auf die spiegelnde Fläche tut ein übriges, um Inhalte zu überblenden und zu verbergen.
Wolfgang Nickel überläßt keine seiner Darstellungen jener obszönen Eindeutigkeit, die den Shunga-Zeichnungen eignet. In seinen "Lustgärten" gibt er den Figuren die Verhüllung in der Zurschaustellung körperlicher Liebe zurück und schafft damit ebenjenes verbergende Zeigen, dessen Paradoxalität unabdingbar zum Wesen der Erotik gehört. In ihren Lichtspielen, im gegenseitigen Klären und Verklären der Bildgehalte bringen nicht nur die dargestellten Inhalte der "Lustgärten", sondern die Glasarbeiten selbst auch formal ebenjenes Flirren hervor, dessen erotische Spannung die Blicke Liebender füreinander erkennbar macht.
Konkreter als spätromantische Musik und vielfältiger als ein moderner Ausdruckstanz erzählt jedes Bild mehr als nur eine Liebesgeschichte: Mehr als nur eine, denn für jeden Betrachter sind die Situationen einer anderen Erzählung entnommen, und sooft wir eine dieser archetypischen Konstellationen anschauen, schreibt ihre Geschichte sich anders weiter; und mehr als nur eine Liebesgeschichte. In ihrem Schillern und ihrer Uneindeutigkeit, in der Unmöglichkeit, sie thematisch festzulegen und auf einen einzigen Inhalt zu reduzieren, in ihrem Spiegeln und Blenden und den unergründbar dunklen Punkten mehrfacher Überlagerungen erzählen die "Lustgärten" vom Wesen der Liebe selbst.
Dr. Cornelie Becker-Lamers