Von der Liebe zum vollkommenen Augenblick
Rede zur Ausstellungseröffnung
„Gudrun Bracharz: Portugal – kein Reisebericht“
Kulturhaus Gotha, 3. Juni 1997
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Portugal – kein Reisebericht“: So hat Gudrun Bracharz die Ausstellung ihrer ungewöhnlichen Urlaubsfotografien genannt, die wir ab heute hier im Kulturhaus sehen.
„Kein Reisebericht“? Was wäre denn ein Reisebericht, daß diese Ausstellung sich so betont davon abgrenzt? Und vor allem: Was wäre an einem Reisebericht so ‚schlimm’? Was könnte er liefern wollen an Bildern und Informationen? Was würde man unwillkürlich von einem Reisebericht erwarten, welche Träume, welches Menschenbild?
Der Kulturphilosoph Boris Groys bezeichnet in einem seiner letzten Aufsätze den Tourismus als „Maschine zur Verwandlung des Vorläufigen ins Monumentale“. In der Tat ist der Durchreisende, wie ihn der heutige Massentourismus hervorbringt, nur allzu häufig ganz bewußt gewillt, nicht zu genau hinzusehen bei dem, was ihm begegnet. Sein notwendig flüchtiger Blick heftet sich nur zu gern an Bauwerke, die in ihrer Monumentalität den Anschein des Ewigen und Unzerstörbaren erwecken. Ein ehrwürdiges Alter mehrerer Jahrhunderte oder gar Jahrtausende verleiht diesen Bauwerken den Rang unverwüstlicher, in Wind und Wetter standhafter Naturdenkmäler und jagt dem sensations-, d.h. gefühlshungrigen Touristen den kalten Schauer der Ehrfurcht den Rücken hinab.
Von solchen Ereignissen pflegen Reiseberichte zu erzählen. Als Urlaubsgrüße werden nachcolorierte Abbildungen blankpolierter Monumente verschickt, vielleicht in dem Glauben, den zuhause Gebliebenen eine innere Anteilnahme an den Besonderheiten der betreffenden Stadt und Kultur zu ermöglichen. Man spielt Verständnis und spiegelt eine Vertrautheit vor, die durch den Exotismus der fremden Umgebung nur angenehm-anregende Reize zu erhalten vorgibt. Daß eine erste Begegnung, der Beginn der Bekanntschaft mit einer Kultur überhaupt erst möglich macht, daß diese Kultur dem Reisenden fremd werden kann, wird meist unterschlagen.
Wie klein der Schritt von der überschwenglichen Betrachtung zur theoretisch untermauerten Idealisierung ist, ist aus mehreren Jahrhunderten Literaturgeschichte abzulesen. Seit den Erzählungen des Marco Polo sind es ausnahmslos Reiseberichte, in denen von einem fernen, ewigen Utopia geschrieben wird, von der perfekten und dauerhaften Stadt auf einer Insel, in unzugänglichen Bergen, wenn nicht gar unter Wasser oder auf einem anderen Stern.
Es sind diese, in einer langen Tradition unserer Kultur vorformulierten Träume, die der heutige Tourismus aufnimmt, indem er mit der Sehnsucht nach dem fernen Utopia spielt: Da gibt es – auf den Fotografien der Reisebüros – scheinbar endlose weiße, unberührte Strände, die wilde Palmen an den Ufern eines farblich ins Türkisblaue spielenden Meeres wachsen lassen. Da gibt es – auf den Fotografien der Reisebüros – monumentale, makellose Prachtbauten, deren ehrwürdige stucküberladene Renaissancefassade, deren gewagte hypermoderne Glaskonstruktion sie als ewig und dauerhaft erscheinen lassen: Im einen Fall so sehr viel älter als jeder Mensch, der lebt, erscheinen sie als nicht-geworden und ewig. Im anderen Fall architektonisch so zeitgemäß, daß sie allen Visionen der perfekten Konstruktion entsprechen, wirken sie unzerstörbar und wie für die Ewigkeit gebaut.
Das utopische Bild der idealen Stadt, die uns ausschließlich dort begegnet, wo wir nicht, jedenfalls nicht dauerhaft sind, wird auf das Bild eines utopischen Menschen übertragen, den seine paradiesische Umgebung – die Zielgruppe Tourist soll diese Umgebung zur Urlaubsumgebung wählen – glücklich, unverstellt, unbeschwert und einfach ‚anders’ macht. (Man erinnert sich an die berühmte TUI-Werbung mit dem „Du meckerst ja gar nicht“.)
All dies zeigt Gudrun Bracharz nicht. Ihre Ausstellung ist kein Reisebericht und entzieht sich durch die bewußte Suche nach dem Alltäglichen jeder Versuchung zu flachen Schwärmereien von der exotischen Welt. Ihre Bilder wollen und können nichts erzählen von einem fernen Utopia, denn Gudrun Bracharz war bei ihrer Reise nicht auf dem Weg dorthin. Utopia liegt, das scheinen ihre Bilder sagen zu wollen, in den Augen der Betrachterin. Utopia liegt in der Liebesfähigkeit (das heißt in der Fähigkeit, das Unvollkommene zu lieben: Denn das Vollkommene zu ‚lieben’ ist leicht, Liebe beginnt dort, wo man Unvollkommenheit wahrnimmt und trotzdem liebt). Utopia liegt in der Befähigung zum „Blick für das Unwesentliche“: „Der Blick für das Unwesentliche“ – das war der Arbeitstitel, den sich Gudrun Bracharz für diese Ausstellung gegeben hatte. Utopia – das ist die Fähigkeit zur Liebe zu dem, was nicht zu halten ist, was nicht verläßlich und dauerhaft ist, was einen immer wieder verläßt, verletzt, schutzlos zurücklässt. Utopia – das ist die Liebe zum vollkommenen Augenblick, auch wenn – oder gerade weil – er im nächsten Moment vergangen sein wird.
So sind es Impressionen, die Gudrun Bracharz uns zeigt: Bilder, die nicht kultur- oder naturgeschichtliche Verbindlichkeit beanspruchen, Bilder, die kein dokumentarisch zuverlässiger Reiseführer sein wollen, sondern die Reize einzufangen versuchen, flüchtige Ergebnisse des ständigen Spiels von Licht und Zufall. Diesseits ihrer Monumente und diesseits ihrer Musealisierung wird eine Stadt durch diese Fotografien in ihrer Atmosphäre nachgezeichnet. In dem Bewußtsein, daß Individualität gerade dort zutage tritt, wo die Unverwechselbarkeit eines Ortes nur aus der persönlichen Kenntnis dieses Ortes entsteht, suchen die Fotografien nach Abbildungen von Alltag in den Ortschaften: Ein vorn zerbeulter, roter Renault unter den asymmetrisch aufgehängten roten Pullovern auf der Wäscheleine – ein alltäglicher farbästhetischer Zufallstreffer, der mit der behängten Wäscheleine den nie abschließbaren Prozeß alltäglicher Restaurierung thematisiert. Doch da tritt auch noch die Frau des Hauses vor die Tür, den dritten roten Pullover am Leibe, und macht durch ihr zufälliges Erscheinen den Schnappschuß im Vorübergehen zur vollkommenen Komposition. Mit Lissabon ist das Bild untertitelt. Das heißt, auch das ist Lissabon. Das heißt, das ist auch Lissabon. Das heißt, dies ist eigentlich Lissabon. Lissabon wäre tot, hätte es nur das Kastell São Jorge, seine berühmten Kirchen São Vicente de Fora, São Roque, die Ruine Do Carmo, den Torre de Belém. Lissabon wäre tot ohne Dinge wie den zerbeulten roten R4. Nicht das einzigartige Monument, sondern der Alltag ist das besondere Gesicht einer Stadt, weil er es ist, der sich in aller Regel dem Blick der Touristen entzieht.
Freilich, Gudrun Bracharz war Touristin in den Städten, deren Fotografien sie hier ausstellt. Die Bilder entstanden auf einer 14tägigen, 2000 Kilometer genießenden Reise längs durch Portugal. Doch Gudrun Bracharz muß in Städten immer eine Touristin der besonderen Art sein. Denn sie ist Architektin und hat durch eine zwanzigjährige Berufserfahrung den gezielteren Blick, die schnellere Auffassungsgabe für das, was sie den „Blick für das Unwesentliche“ nennt. Aus ihrer alltäglichen Arbeit der Restaurierung historischer Bauten und Wohnhäuser kennt sie die widersprüchliche Wechselbeziehung von Bewahren-Wollen und Verbessern-Müssen, vom Prozeß des genauen Wiederherstellens, der, indem er erneuert, doch immer gerade zerstört und nur behutsam nachempfinden kann, was er als Authentisches und Altes erhalten will.
Der Beweggrund, ein Bauwerk, einen Menschen, einen Moment zu fotografieren, kann in dem Wunsch liegen, der Zerstörung des Bauwerkes, der Veränderung oder dem Tod des Menschen, der Vergänglichkeit des Augenblicks nicht hilflos gegenüberzustehen, sondern der ständigen kulturellen Entropie, dem ständigen Zerfließen des ästhetisch Geordneten die dokumentarische Fotografie entgegenzusetzen. Mit Bildern wie Lissabon – dem roten R4 – hält Gudrun Bracharz fest, was am schnellsten der ästhetischen Entropie anheimfällt: die Schönheit des vergehenden Augenblicks.
Doch die Aussage der Bilder, die hier ausgestellt sind, geht nicht vollständig im Festhalten- Wollen des Augenblicks auf. Vielmehr schwebt sie zwischen der Dokumentation des Vergänglichen – und der Dokumentation der Vergänglichkeit: Abgewohnte Häuser finden wir abgebildet, deren kulturelle Wertigkeit sichtlich nicht so hoch eingeschätzt wird, daß der portugiesische Staat oder die Kommune an ihre Renovierung öffentliche Hand anlegen wird. Sie werden weiter verfallen oder ausgebaut und rein funktional verändert werden.. Jedenfalls wird man sie nie wieder so sehen wie auf diesem Bild. Die Fische am Haken, die glasigen Augen blicklos auf die Fensterscheibe des Ladens gerichtet, sehen wir schon nicht mehr leben, und wir sehen sie im vielleicht letzten Moment, in dem sie überhaupt existieren. Indem sie schützend das Vergängliche aufbewahren, sprechen die Fotografien von Gudrun Bracharz zugleich mit ruhiger Weltweisheit von der Vergänglichkeit selbst. Dabei geht es nicht um Resignation, schon gar nicht um Anklage. Es geht um das Zulassen dessen, was nicht zu ändern ist. Mit beinahe barocker Lebensweisheit wird als vergänglich relativiert, was in der Bilderflut unserer illustrierten Kultur als materieller Wert über alle anderen Werte gestellt wird. Als Utopia wird diesem heutigen Hang zum Materiellen die Liebe zum vollkommenen Augenblick entgegengestellt, die Liebe zum Augenblick, auch wenn – oder gerade weil – er im nächsten Moment vergangen sein wird.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Cornelie Becker