„Stein – Mauer – Raum – Haus. Gudrun Wiesmann. Fotografien“
Rede zur Ausstellungseröffnung
Galerie im Kinoklub am Hirschlachufer, Erfurt, 6. Juli 2000
Sehr geehrte Damen und Herren,
als vor knapp 100 Jahren die Malerei in die Abstraktion ging, gab es sicherlich dafür mehrere Gründe. Einer davon aber war, dass die Abbildfunktion, der sich die Malerei bis dahin weitgehend verschrieben hatte (man denke an Portraits oder idealische Landschaften), von der Fotografie übernommen wurde. Die Fotografie hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Daguerrotypie (benannt nach ihrem Erfinder, dem Franzosen Louis Jacques Daguerre) weiterentwickelt, aus einer Technik der „camera obscura“, vor der man halbe Stunden lang reglos verharren musste, zu einer Fertigkeit der schnellen, detailgenauen Dokumentation.
So verzog sich die Malerei, dieses Arbeitsfeldes beraubt, in den Kubismus, in eine abstrakte oder reduzierte Kunst, monochrome Bilder, in die Beschränkung auf die Arbeit mit den Grundfarben und geometrischen Grundfiguren von Dreieck, Quadrat und Kreis, d.h. schließlich in die Konkrete Kunst, die unter Zurücknahme jedes subjektiven Ausdruckswillens des Künstlers die „objektiven bildnerischen Mittel der Darstellung“ wirken lassen wollte.
Betritt man seit heute die Galerie im Kinoklub Erfurt, verfällt man auf die Idee, auch die Fotografie ziehe sich, in dem Maße, in dem sie zur Kunst wird, aus ihrer Abbildfunktion zurück und schaffe – Konkrete Kunst. (Frage wäre dann, welches Medium heute die Abbildfunktion übernimmt – vielleicht die Talkshows oder Big Brother im Fernsehen – das soll aber unsere Sorge nicht sein!) Fotografie wird zur Konkreten Kunst, hatte ich gesagt: Denn dies genau ist es, was die Blickfänger der Ausstellung von Gudrun Wiesmann – die Schwarz-Weiß-Arbeiten gegenüber der Eingangstür – schlicht und ergreifend darstellen. Schauen Sie nur das Foto an, das den Blick in eine französische Galerie mit fast abgebauter Ausstellung zeigt: Wichtig ist nicht mehr die Darstellung, nicht mal mehr der Raum mit der Tiefenwirkung seiner Dreidimensionalität. Wichtig sind die Farb-Räume, die sich aus Lichteinfall und Schattenwurf im Raum ergeben. Wichtig sind die Flächen, als die dieses Spiel von Licht und Schatten wahrnehmbar wird: Das Rechteck der Tür, des lichtdurchlässigen Rollos am Fenster, das Fenster zwischen den Räumen. Und ja: das Fenster! Das ist natürlich der eigentliche Coup, denn dieses Fenster gibt den Blick frei auf ein Bild von Marc Rothko (bzw. ein Bild in seinem Stil) – ein Gemälde jedenfalls aus zwei rechteckigen Farbflächen – hell-dunkel –, die genau das Korrespondieren der Farbflächen des gesamten Fotos aufnehmen und es so von innen heraus deutbar machen.
Als ich mir neulich die Fotos für die Ausstellung angesehen habe, habe ich Gudrun Wiesmann gefragt, warum sie gerade die schwarz/weiß-Bilder gegenüber der Tür hängt. Sehen Sie: lauter wunderbare Aufnahmen zeigt die Ausstellung, von Grabmalen in der Wüste, Arkaden, Moscheen, exotischen Bauwerken. Und was hängt als Blickfang? Schwarz/weiße Flächen. Aber das ist eben der Punkt: Gudruns Antwort auf meine Frage war: „Weil das meine wichtigsten Fotos sind“. Die Antwort zeigt, wohin die Entwicklung Gudrun Wiesmanns in der Fotografie geht. Es geht um die Projektion der Dreidimensionalität in die Fläche, um die Wahrnehmung des Raumes als Komposition von Farbflächen, die das geübte Auge der studierten Architektin und Fotografin aus dem Raumkontinuum herausschneidet.
Gehen wir noch mal in der Entwicklung zurück und denken an eine Ausstellung, die Gudrun Wiesmann (damals Bracharz) vor drei Jahren in Gotha gezeigt hat. „Portugal – kein Reisebericht“ hieß die Ausstellung. Auch damals wurde an den Fotos deutlich, dass Gudrun Architektin ist und nicht Psychologin. Die Gebäude, die auch damals schon mit großer Vorliebe für Fenster und Türen gezeigt wurden, standen auch damals schon abgelöst vom Menschen mit ihrer spezifischen Ästhetik, mit Licht und Schatten im Vordergrund. Menschen, wo sie vorkamen, dienten nur als ästhetisches Aperçu. Ich erinnere an das Foto mit dem Titel Lissabon, das eine asymmetrisch behängte Wäscheleine mit zwei knallroten Pullovern hinter einem ebenso knallroten, zerbeulten R4 zeigt. Das ganze vor einer offenen Haustür, aus der eben die Frau des Hauses mit dem dritten roten Pullover einen forschenden Blick auf die Straße wirft. Dieses Foto war glaube ich einigermaßen typisch für die Ausstellung vor drei Jahren: Wichtig war der zufällige Augenblick, die sich findenden Farbflächen im situativen objet trouvé, das die Fotografie dokumentieren wollte.
Schauen Sie sich dagegen heute um, so wird eine erstaunliche Entwicklung deutlich. Dieses Foto ist ein Ausschnitt – aber die größere, vollständige Fotografie ist nur wegen dieses Ausschnitts entstanden, den Gudrun Wiesmann schon vor dem ‚lebenden Objekt’ als fototauglich für ihre Zwecke erkannte – das Foto ist ein Ausschnitt aus der Abbildung einer Häuserzeile. Von der Häuserzeile ist aber nichts mehr zu erkennen, und sie ist auch unwichtig. Wichtig sind die Korrespondenzen der durch den Lichteinfall unterschiedlich eingefärbten Flächen, die Korrespondenzen der Winkel. So auch in der Krönung dieser Aufnahmetechnik, dem Foto o.T., das Sie von der Einladungskarte her kennen: Daß es sich hier um den Blick in einen Innenhof handelt, um die Geländer einer Feuerleiter, ist überhaupt nicht mehr zu identifizieren. Der ganze Raum ist auf seine Wirkung in der Fläche hin von der Fotografin wahrgenommen und so aufs Fotopapier gebracht worden.
Mit dieser Fotografie, mit der heutigen Ausstellung, denke ich, überschreitet Gudrun Wiesmann die Schwelle von der exzellenten Fotografie zur Kunst. Daß sie atmosphärisch dichte Fotografien schaffen kann, hat Gudrun Wiesmann bewiesen. Man denke an das Foto, mit dem sie sich über den Erfurter Fotoklub im Internet präsentiert: Die zum Verkauf ausgehängten Fische im Schaufenster eines Lissaboner Händlers. Die glasigen Augen der toten Tiere scheinen zum Betrachter hin und weiter durch ihn hindurchzusehen. Es ist kaum möglich, sich dem blicklosen Blick, dem blinden Schauen dieser Geschöpfe zu entziehen. – Ein exzellentes Foto!
Die heutige Ausstellung markiert den Umschlag zu einer ganz entgegengesetzt arbeitenden Bildaussage. Aus den Lichtflächen der Mauerteile ist jede subjektive, eindrückliche, atmosphärische Wirkung abgezogen. Die Fotografin nimmt sich ganz zurück hinter die Wirkung der „objektiven“ bildkünstlerischen Ausdrucksmittel von Linie und Fläche: Es ist das Programm der Konkreten Kunst, das aus den neueren Arbeiten, insbesondere den schwarz/weiß-Fotos von Gudrun Wiesmann ablesbar wird. Der Raum wird auf die Fläche reduziert, die umgebende Architektur wird als Stichwortgeber für die Korrespondenz von Farbflächen, Linien, Winkeln und streng geometrischen Formen wahrgenommen. Daß dieser Ausdruckswille ein unerhörtes Maß an Abstraktionsvermögen und fotografischer Vorstellungsgabe erfordert, muß nicht betont werden. Dieses Augenmaß bringt Gudrun Wiesmann mit. Sie ist eben Architektin, nicht Psychologin.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Cornelie Becker-Lamers