"... und die Schmiedekunst ist Zauber"

Zu den kinetischen Objekten des Metallbildhauers Michael Ernst

Wer erfand die mechanischen Künste? In der griechischen Mythologie wird dies Athene zugeschrieben, jener Göttin, in deren Heiligtum niemand anders als Hephaistos - als Gott des Feuers der Schmied des Olymp - gemeinsam mit ihr verehrt wurde. Denn man weiß, "daß jedem Werkzeug der Bronzezeit, jeder Waffe und jedem Gebrauchsgegenstand magische Eigenschaften zukamen und daß der Schmied eine Art Zauberer war."[1] Dichter, Schmiede und Ärzte - alle also, die mit Worten oder Werken neue Welten hervorbrachten und so in die Schöpfung eingriffen - waren in der Antike benachbart und gleichrangig. Dieses Bewußtsein findet sich auch in Brauchtum und Volksglauben Mitteleuropas wieder: Der Dorfschmied, der als Meisterstück die Hufeisen allein nach dem Augenmaß formen muß und die Pferde beschlägt, heilt auch schwindsüchtige Kinder und fesselt Luzifer durch rituelles Tun.[2]

Der Schmied ist eine Art Zauberer. Dessen scheint sich Michael Ernst durchaus bewußt zu sein. Michael Ernst ist Kunstschmied, stammt auch schon aus einer Kunsthandwerkerfamilie und rückt in seinem Werk den demiurgischen Zugriff mehr und mehr in den Vordergrund.

Denn längst hat die künstlerische Arbeit von Michael Ernst sich von der einfachen Metallplastik zum kinetischen Objekt weiterentwickelt. Mit kosmischen Modellen wie "Kosmos III" (2012) oder dem Klangobjekt "Turntable" (2011) spielt er auf die Werke dessen an, der einst den Göttern ihre glänzende Sonnenscheibe schuf: Hephaistos oder - in Rom dann - Vulcanus, dessen Namen die mythologischen Lexika gerne "von volo, ich fliege", herleiten möchten, "weil das Feuer ein fliegendes Wesen sey"[3]. "Kosmos I" (2008) läßt Anklänge an einen Zirkel erkennen, dem neben Hammer und Amboß dritten Werkzeug der Schmiede, wenn sie runde dreibeinige Tische, Scheiben, Schalen und Schilde oder Helme zu fertigen hatten.

Am deutlichsten wird der gleichsam weltenschöpferische Impetus im Werk von Michael Ernst, wenn er Tierfiguren in seinen Mobiles und beweglichen Objekten zum Fliegen bringt. Die "Zugvögel" (2003/ 2010), sturmerprobt in der Lübecker Bucht, sind drei enzianblau lackierte Figuren an langen Stangen, deren Gegengewicht eine Art breit ausgehämmerter Schwanzflosse bildet. Die Angriffsfläche für den Wind ist in dieser Flosse groß, und so schweben die "Zugvögel" schon bei schwächeren Böen bewegt durch den Himmel: Bewegung - das ist Leben. Und wenn auch nicht wirklich das Leben der stählernen "Vögel", so doch die Lebendigkeit des Windes, die in der Bewegung der Figuren sichtbar wird.

Und tatsächlich ringt Michael Ernst in seinem Werk um die Darstellbarkeit der dem Auge verborgenen Ordnungen und Naturgesetze. Jede kinetische Plastik Ernsts muß deshalb durch ihre akzidentielle Gestalt hindurch auf das Prinzip ihrer Bewegung hin betrachtet werden. Bewegung und Beweglichkeit jedes seiner Objekte sind weder Selbstzweck noch Effekthascherei: Ihre Schönheit beruht auf ihrer Angemessenheit und ihre Angemessenheit auf ihrer zuverlässigen Unterordnung unter die Gesetze von Ausgleich und Balance, Kraft und Gegenkraft.

So fasziniert auch der "Vogelzirkus" (2008) mit seinen aus jeweils einem Stück geschmiedeten drei Tieren, die durch einen Ring zu fliegen scheinen. Die beiden breitflossigen Gegengewichte sorgen für einen Windwiderstand, dessen potentiell zerstörerische Gewalt aber durch den niedrigen Schwerpunkt der Gesamtskulptur durch ebendieselben Flossen wiederum aufgefangen wird: Naturgesetze im Gleichgewicht, Leben in der Balance. Eine phantastische Konstruktion!

Doch auch der "Große Nagelbaum" (2004/ 2012) nimmt den Betrachter gefangen: Mit seinen 4,80 m Höhe und den klobigen, vierkantigen Hufen ist er doch ein äußerst fragiles, umgekehrtes Mobile, dessen Spinnenarme nicht befestigt aneinander hängen, sondern wie mit Fingerspitzen lose aufeinander aufruhen. Wird ein Arm ausgelenkt, bewegt er die anderen mit. Das Werk verdeutlicht die gegenseitige Abhängigkeit der Skulpturenteile, indem es die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Bewegungen sichtbar macht.

"Windzange II" (2004), die "Windzange IV" (2006) und die "Windscheren I und II" (2007/ 2010) verkörpern die Art von Kunstwerken, die Michael Ernst für seine zukünftige Arbeit projektiert: lang ausgreifende Arme, deren Trägheit jede hektische, kurzlebige Bewegung unterbindet und uns an einer kontemplativen Bewegung des langen Atems teilhaben läßt.

Denn ist die Lebenswelt in unserer hektischen Zeit nicht bewegt genug? Diese Frage stellt Guido Magnaguagno in seinem Vorwort zum Katalog der Ausstellung "Bewegliche Teile, Formen des Kinetischen"[4] : Warum mußte nach den ersten Experimenten wie Duchamps "Rotoreliefs" (1935), nach Alexander Calders und - für Michael Ernst wichtiger: George Rickeys - "Mobiles" (ab 1930/ 1945) um 1955 die kinetische Kunst noch einmal richtiggehend erfunden werden, wo das Statische des klassischen Objekts und der gefrorene Augenblick des Tafelbildes ihre Ruhe und Geschlossenheit doch so wohltuend den Nicht-Orten und der Schnellebigkeit unserer Umwelt entgegensetzen können?

In der Tat entsprang die Wiederbelebung der Kinetik für die Bildende Kunst Mitte der 50er Jahre zunächst einer Art Ikonoklasmus, einem sarkastischen Impuls der Bilderstürmerei. Doch mit Hans Haackes ventilatorgeblähtem Tuch ("Blue Sail" 1964/65) oder Günther Ueckers "Sandspirale" (1970) brachte die kinetische Kunst schon bald Werke hervor, die in ihrer kontemplativen Wirkmächtigkeit und den mythologischen Grundlagen ihrer Gestalt als Formulierungen einer Idee gelten können, die auch Michael Ernst umtreibt. Schließlich sind es keine beweglichen Puppen, die Ernst baut, oder lustige Windrädchen, die im Kreise um die Wette sirren. Hephaistos war mit Aphrodite, der Göttin der Liebe, verheiratet: Es geht um mehr als um Spaß und Ablenkung.

Was Michael Ernst mit seinen Kunstwerken anstrebt, hat einen spirituellen Kern. Es ist die Versinnbildlichung einer Bewegung, die aus der Ruhe geboren wird und die uns diese Ruhe deshalb mitteilen kann. Wem es gelingt, sich in die Betrachtung etwa der bewegten "Windschere" zu versenken, wird sich selbst in neue Dimensionen hinein weiten. Etwas wird erfahrbar, das größer ist als der Mensch.

Wie Menschen gerne in stürzendes Wasser schauen, weil dessen Bewegung immer neu und doch immer dieselbe ist, so fasziniert uns die ruhige Stetigkeit, mit der ausgelenkte Gewichte der kinetischen Kunst Michaels Ernsts Pendelschlag für Pendelschlag langsam wieder in eine Balance zurückfinden. Dieser Tanz der Bögen und Kreissegmente, der Kugeln, Scheiben oder Klangschalen macht uns das Kunstwerk durchsichtig für eine Choreographie der Naturgesetze, die alles Irdische in Kraft und Gegenkraft zuletzt immer der Erdanziehung überantworten. Und wie das Wehen des Windes und der Gang der Gestirne aus der Drehung der Erde resultieren, die für uns Menschen doch stillzustehen scheint, so verweisen die kinetischen Objekte auf das Wesen des Lebendigen als einer ausgeglichenen Abfolge von angemessener Bewegung und zeitweiliger Ruhe.

Die Auslenkbarkeit einzelner Glieder einer Skulptur verleitet uns als mit Spieltrieb begabte Menschen, eine kinetische Plastik auch wirklich in Bewegung zu setzen. Die Faszination, die der Anblick ihrer Rückkehr zu einer Position der Ruhe ausübt, verleitet uns, ihrer Bewegung bis zuletzt zuzuschauen. Versenken wir uns dann in ihren Anblick, bescheren uns die angemessenen Bewegungen der Skulptur in ihrer Suche nach dem Ausgleich der Kräfte eine Bewußtseinserweiterung, die uns in neue Dimensionen der Wahrnehmung wie der Selbstwahrnehmung führt.

So nehmen kinetische Kunstwerke ihre Betrachter gleichsam bei der Hand, um sie in der Konzentration auf ein Äußeres in eine tiefere Innerlichkeit zurückzuführen - bis zu dem Teil in uns, der größer ist als wir selbst.

Es ist Zauberei.

 

Cornelie Becker-Lamers

 

Der Text erschien im Druck unter folgendem Titel:

Cornelie Becker-Lamers, "... und die Schmiedekunst ist Zauber". Zu den kinetischen Objekten des Metallbildhauers Michael Ernst, in: Galerie Profil (Hg) Michael Ernst. Metallbildhauer. Katalog anläßlich der Ausstellung Skulptur . Weimar . 2012, organisiert und kuratiert durch die Galerie Profil Weimar, Weimar 2012, S. 3-5.


[1] Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, autorisierte deutsche Übersetzung von Hugo Seinfeld ... nach der im Jahre 1955 erschienenen amerikanischen Penguin-Ausgabe, Köln 2008, Kap. 23.1, S. 76.

[2] Vgl. Bächtold-Stäubli wie Anm. 1, Sp. 260-262.

[3] Artikel "Vulcanus" in: Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1770, Darmstadt 1996, Sp. 2483-2492, Sp. 2483.

[4] Bewegliche Teile, Formen des Kinetischen : [anläßlich der Ausstellung Bewegliche Teile, Formen des Kinetischen, Kunsthaus Graz am Landesmuseum Joanneum, 9.10.2004 - 16.1.2005 etc.] hg. v. Peter Pakesch und Guido Magnaguano, Köln 2004, S. 7-11, S. 7.