Skulptur . Weimar . 2008. Günter Ullmann

Rede zur Ausstellungseröffnung

während der Eröffnungsrede zu Günter Ullmann im Dorotheenhof; Foto: Helmut Hengst

Romantikhotel Dorotheenhof Weimar, 8. Juni 2008

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie zur in diesem Jahr zehnten Ausstellung der Reihe Skulptur . Weimar . Vierzehn Skulpturen von Günter Ullmann sind zu sehen, neun hier im Garten des Dorotheenhofes, fünf weitere ab morgen auf dem bekannten Parcours durch die Weimarer Innenstadt bis hinauf zum Hauptbahnhof.

Japonese BalanceGeomantische OrtszeichenSuperstrings: Die Werktitel Günter Ullmanns verraten Einflüsse unterschiedlichster kultureller Deutungs- und Orientierungsmuster auf das Werk des 1946 im sächsischen Meerane geborenen Künstlers. Elemente pantheistischer Religion, esoterischer Spiritualität und aufgeklärter Wissenschaft westlicher Prägung verschmelzen hier mit den formalen Vorgaben der skulpturalen Moderne. Die Ergebnisse dieses Prozesses sind die immer authentischen Zeugnisse einer klaren künstlerischen Intention: Günter Ullmann will den Betrachter aus der Bewusstseinsbeschränkung des technikbezogenen nachaufklärerischen Denkens befreien. Er will jeden Rezipienten seiner Kunst die eigenen Kräfte wieder entdecken lassen, die für jeden von uns Tausende von Wirklichkeiten jenseits der sogenannten Realität zum Vorschein bringen. Und diese Intention ist bei Ullmann nicht modisch aufgesetzter Impetus. Es ist ein tief empfundenes künstlerisches wie menschliches Interesse. Dies beweist sein in den Formen der Zeichnung, der Malerei, der Monotypie wie der Skulptur so konsistentes Schaffen.

Lassen Sie mich einige Worte zur Biographie Günter Ullmanns verlieren: 1946 in Meerane geboren, fuhr er Mitte der 60er Jahre zur See – bis nach Afrika und Mittelamerika – und schloss Ende der 60er Jahre ein Studium der Museologie in Leipzig an. Anfang der 70er Jahre, während er bereits im Armeemuseum Dresden für die Abteilung Kunst und Dokumentation zuständig war, absolvierte er außerdem ein Fernstudium im Fach Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. 1974 übernahm er die Leitung von Museum und Kunstsammlung Schloss Hinterglauchau. Weil er hier 1976 zum 50. Geburtstag Gerhard Altenbourgs eine Ausstellung zu dessen Werk zeigte, wurde ihm die Direktion entzogen und jegliche Tätigkeit im kulturellen Bereich untersagt. Eine Phase autodidaktischer Beschäftigung mit Malerei und Bildhauerei setzte ein, die mit der Ausbürgerung aus der DDR 1980 eine jähe Zäsur erfuhr. Ullmann zog mit seiner Familie nach Düsseldorf, arbeitete in der Restaurierungswerkstatt seiner Frau mit und wurde schließlich 1985 Mitglied des Berufsverbandes Bildender Künstler NRW. Bis Anfang-Mitte der 90er Jahre stehen Arbeiten auf Papier im Mittelpunkt seines Kunstschaffens, erst dann wendet er sich mit zahlreichen Werken aus Chrom-Nickel-Stahl der Skulptur zu – die er heute übrigens gemeinsam mit seinem Bruder in dessen Metallwerkstatt selber baut, nicht bauen lässt.

Mit den Geomantischen Ortszeichen begibt sich Ullmann an den Ursprung der Skulptur überhaupt. Denn – glaubt man der jüdischen Überlieferung – so war die erste Skulptur die Markierung eines besonderen Ortes: Sie kennen aus dem ersten Buch Mose die Geschichte Jakobs, des Sohnes Isaaks, der seinen Bruder Esau um das Erbe betrügt und in die Heimat seiner Mutter flieht, um dort eine Familie zu gründen. Nach dem ersten Tagesmarsch legt er sich zum Schlafen und sieht im Traum eine Leiter in den Himmel ragen. Engel steigen herauf und herab und an der Spitze der Himmelsleiter thront Jahwe, der Jakob, dem Enkel Abrahams, gegenüber das Versprechen von Landnahme und zahlreicher Nachkommenschaft erneuert. Als Jakob erwacht, markiert er seine Schlafstätte durch eine Steinskulptur, nämlich einen kleinen Turm, tauft den Ort Beth-el (deutsch – „Gotteshaus“) und gelobt, bei glücklicher Heimkehr an der markierten Stätte einen Tempel zu errichten. Auf diese Traumvision nehmen christliche Kirchen Bezug, wenn ihr Deckengewölbe in blaue Farbe getaucht ist und himmlische Heerscharen zeigt. An diesem Ort, bedeutet das, neigt sich der Himmel zur Erde. Es ist ein besonderer Ort, der uns für spirituelle Erfahrungen öffnet.

Der Begriff der Geomantischen Ortszeichen bestimmt den Kunstraum, der um eine Skulptur entsteht, ebenfalls als Ort möglicher spiritueller Erfahrungen, auf jeden Fall als besonderen Ort. Geomantie bezeichnet eine die Erde betreffende Orakelwissenschaft (von griechisch mantheía = die Weissagung), die seit mehreren Jahrtausenden in China praktiziert und durch arabische Wissenschaftler dem Europa des Hochmittelalters bekannt wurde. Geomantische Beobachtungen nehmen Landschaftsverläufe, Wasseradern und gefühlte Erdenergien in den Blick, um den idealen Standort von Bauwerken, Grab- und Kultstätten zu bestimmen. – Dass das Heil, das so beschworen wird, unter Umständen nicht wirklich dauerhaft ist, zeigt allerdings eine sehr traurige aktuelle Geschichte: Schlägt man nämlich unter „Geomantie“ im Lexikon nach, stößt man auf einen alten chinesischen Stich, der abbildet, wie mithilfe der Geomantie im sichuansesischen Fürstentum des vierten vorchristlichen Jahrhunderts durch Vermessung der Landschaft und Beobachtung unterirdischer Wasserläufe der Standort der neuen Hauptstadt bestimmt wurde. Es ging um die Stadt Chengdu, deren Name zu deutsch einfach „werde Hauptstadt“ bedeutet. In der Tat war Chengdu eine prosperierende Stadt, um das Jahr 1000 Zentrum des Buchdrucks. Jetzt hat ein Erdbeben sie zerstört und Zigtausenden von Menschen unter ihren Trümmern den Tod gebracht.

Doch Günter Ullmann war auch vor dieser schrecklichen Nachricht weit davon entfernt, den Weissagungen der Geomantie zu verfallen – er ist ein viel zu vielseitiger Denker, um sich einer einzigen Lehre ganz verschreiben zu können. Was er sagen will, ist, dass „es mehr Ding’ gibt im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumt“, wie man gerne mit Hamlet sagt. Wer eine Skulptur aufstellt, möchte einen Ort markieren und als besonderen hervorheben. Die ästhetische Schwelle, die Kunst im öffentlichen Raum heraushebt oder überhaupt erst als solche sichtbar macht, hebt ganze Plätze aus der stumpfen Diesseitsbezogenheit unseres geschäftigen Alltags heraus und macht sie zu Kristallisationspunkten einer ganzheitlicheren Seinserfahrung. Wo eine Skulptur steht, da ist ein Ort, der uns für spirituelle Erfahrungen öffnet. Darum geht es Günter Ullmann.

So unterscheiden sich seine Werke denn auch fundamental von der formal ähnlichen konstruktivistischen Kunst. Denn der Konstruktivismus erschöpft sich bewusst in der Rückversicherung in den geometrischen Grundformen und gründet in ebenjenem technokratischen Weltbild, dem Ullmann ja gerade entfliehen will. Dies macht der bereits angesprochene zweite große Werkkomplex deutlich, der sich thematisch aus den Forschungen der Quantenmechanik speist.

Auch für hartgesottene Atheisten ist die Welt der Elementarteilchen bekanntlich der letzte Hort des Numinosen: Beheimatet in Wahrscheinlichkeitsaufenthaltsräumen, entziehen sie sich nach wie vor jeder Berechenbarkeit. Denn da jeder mikrophysikalische Messvorgang in den Zustand des beobachteten Teilchens eingreift, kann jeweils nur entweder dessen Impuls, d.h. die gerichtete Geschwindigkeit, oder dessen Position bestimmt werden (wofür Werner Heisenberg 1927 den Begriff der „Unschärferelation“ einführte). Der weitere Weg des Teilchens bleibt unberechenbar. Albert Einstein wollte nicht an das grundsätzlich Zufällige der Quantenmechanik glauben – bekannt ist sein mürrischer Ausspruch „Der Alte würfelt nicht!“. Dennoch ist die Weltformel, die das Verhalten und das Miteinander-Reagieren kleinster Teilchen vorhersagbar machte, noch nicht gefunden – auch nicht mit der Theorie der „Superstrings“, jener im zehndimensionalen Raum schwingenden Textur des Universums. Rätselhaft auch die widersprüchliche Doppelnatur des Lichtes, welches zum einen als Welle – Welle bedeutet: Energietransport ohne Massetransport –, zum anderen jedoch auch als Masseteilchen nachweisbar ist. Nach wie vor ist das mögliche Dritte nicht gefunden, das diese Aporie auflösen könnte.

Wesentlich für alle Versuche mit Licht ist der schmale Spalt, an dem Licht gebrochen wird. Unverkennbar spielen Ullmanns Tore der Ferne auf solche Versuchsanordnungen an. Das Licht, das am Spalt seine heilige Natur – wie Goethe es nannte – preisgibt, fungiert seit der mittelalterlichen Kunst als Zeichen des Unsichtbaren. Ein Lichttor ist ein Form gewordenes spirituelles Erlebnis, zeigt – wie eine Himmelsleiter – eine göttliche Erscheinung an, ist ein Moment der Ewigkeit, ein Moment des Todes im Leben. Ein Lichttor markiert „diesen einen Punkt“, den Günter Ullmann in allen seinen Werken zu fassen sucht, „diesen einen Punkt, in dem unser Geist mit dem Kosmos, dem Weltgeist, verschmilzt.“

Diese Aussage lässt erkennen, dass Günter Ullmann auch fernöstlicher Philosophie gegenüber aufgeschlossen sein muss. (Der Begriff des Weltgeistes freilich ist hegelianisch, aber die Idee der Verschmelzung des göttlichen Funkens in uns mit dem großen ewigen Feuer, das ist fernöstliche Weisheit.) Man kennt die japanische Kunst des Bogenschießens namens Kyudo. Kyudo – zu deutsch: „Weg des Bogens“ – wurde vor etwa 1000 Jahren aus einem Hofzeremoniell zu einer Kampftechnik entwickelt und verhalf den Samurai-Kriegern zu ihrem hohen gesellschaftlichen Ansehen. Heute fungiert Kyudo als quasi-religiöses Exerzitium, um das sich rituelle Handlungen ranken, die genauso wichtig sind wie das eigentliche Schießen selbst. Niemals ist in all der Zeit das Sportgerät verbessert worden. Denn es ist der Mensch, der sich in seiner Anpassung an die Welt, durch Harmonisierung von Geist, Kraft und Technik, vervollkommnen soll. Das Treffen der Zielscheibe ist dem Kyodoka weniger wert als das Bewusstsein, zum richtigen Zeitpunkt den Pfeil von der Sehne gelassen zu haben. Dieser Zeitpunkt hat sogar einen Namen: „Hanare“ heißt er und meint den Moment, wenn nach langem, ruhigen Zielen Schütze und Ziel eins geworden sind und der Pfeil, frei von Gedanken und Intentionen des Schützen, die Sehne verlassen kann.

Der Kyudoka schießt mit dem Yumi, einem asymmetrischen, bis zu 2,30 Meter langen Bogen. Der obere Wurfarm ist deutlich höher als der untere. Der Pfeil liegt also nicht mittig an. Und dennoch ist der Yumi die ausgewogenste, nicht verbesserbare Form, die die kontemplative Kunst des Kyudo ermöglicht.

So sind auch die mit Japonese Balance betitelten Werke Günter Ullmanns deutlich asymmetrisch. Schwebende Kugeln im ältesten der drei Werke, Elemente, die sich der Schwerkraft zu entziehen scheinen, Naturgesetze, die außer Kraft gesetzt sind: Die Balance schreibt sich auch hier nicht von einer möglichen Spiegelachse im Werk her. Die Anordnung der Löcher, die um die auf Japan verweisende Kirschblüte aus Japonese Balance 2 in den Stahl gestanzt sind, zeigt eine Ausgewogenheit, die höher ist als die geometrische Vernunft.

Eine typische japanische Zimmermannsaxt – tasuki – besitzt eine rot lackierte, unregelmäßige Vertiefung am Blatt. Das Werkzeug wird so mit religiöser Bedeutung aufgeladen: Die rote Mulde symbolisiert die Fehlbarkeit alles von Menschen Geschaffenen und soll Abbitte leisten für das Eingreifen in die vollkommene göttliche Natur. Auch diese kleine Geschichte passt zum Kunstschaffen Günter Ullmanns, der japanisches Handwerkszeug auch schon als objet trouvé zum Kunstwerk erhoben hat: alles hängt irgendwie mit allem zusammen, die Natur ist größer als der Mensch, und wir sollen all unsere Sinne schärfen, um als Teil der Natur an ihrer Größe zu partizipieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, M.A., Weimar