„Angelika Uliczka Zeichnungen und Objekte“
Rede zur Ausstellungseröffnung
Galerie Zement, Frankfurt a.M., 17. April 1999
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe Angelika Uliczka vor gut zwei Jahren kennengelernt, als die Galerie im Kunsthaus Erfurt ihre Arbeiten vorgestellt hat. Damals war ich auch als Rednerin eingeladen und habe meine Einführung ganz auf das zeichnerische Werk Angelika Uliczkas beschränkt: beschränken können, da die Serien von Zeichnungen von der Entschlossenheit des Arbeitens und Ringens in dieser Form künstlerischen Ausdrucks die wenigen Objekte, die auch damals präsentiert wurden, weit überwog.
Angelika rief mich nun vor einigen Wochen wieder an, um mich für den heutigen Abend zu engagieren. Sie hatte meine Rede in angenehmer Erinnerung und wollte sie noch einmal hören. Wie wenig das möglich sein sollte, stellte ich fest, als ich heute Vormittag diese Ausstellung betrat.
Allein die Tatsache, daß die Arbeit an Objekten und Objektgruppen so auffallend nachgezogen hat und Sie heute also viel mehr Objekte im Verhältnis zu den Arbeiten auf Papier sehen können, markiert einen entscheidenden Entwicklungsschritt in Angelikas künstlerischer Arbeit, einen Schritt, der auch im graphischen Werk nachzuvollziehen ist. Ich möchte Ihnen die _ Entwicklung verdeutlichen, indem ich einen kleinen Ausschnitt dessen zitiere, was damals auf das Werk Angelikas genau zu passen schien und was Angelika mir im Januar 1997 als ihr künstlerisches Programm bestätigte:
„Das Auffallendste“, so hatte ich in Erfurt die Arbeiten beschrieben, ,das Auffallendste an den Zeichnungen Angelika Uliczkas ist die Unabgeschlossenheit der dargestellten Formen. Jedes Bild wirkt wie ein Bildausschnitt und suggeriert eine Fortsetzung der Darstellung jenseits des Blattrandes.“ Als „Zeichnungen, in denen die Gedanken über den (Bild-)Rand hinausgehen“ sind die Arbeiten denn auch im Gästebuch des Erfurter Kunsthauses beschrieben und gelobt worden. „Die fragmentierte zeichnerische Darstellung“, das ist jetzt wieder mein damaliger Text, „soll ganz bewußt das Dargestellte einer eindeutigen Festlegung des ‚entweder ja oder nein’ entziehen. Eine Form ist scheinbar dargestellt, aber sie ist nur angeschnitten, angedeutet, nicht vollständig ausgeführt, sie ist im Grunde immer eben gerade nicht dargestellt, sondern wird als vollständige Form nur suggeriert. Es ist, als thematisierten die Arbeiten Uliczkas den Prozeß des Anfangens selbst: Sobald ein Betrachter nämlich beginnt, die angeschnittenen Formen über den Blattrand hinaus in Gedanken weiterzuzeichnen, verfängt er sich in der paradoxalen Struktur, die für den Anfang schlechthin charakteristisch ist. In ihrem Anfang ist die antizipierte Sache vollständig anwesend und vollständig abwesend zugleich.“
Soweit, gekürzt, der Kern dessen, was ich zu Angelikas Arbeiten vor gut zwei Jahren gesagt habe. Auffallend gegenüber den Serien von grundsätzlich schwarz/weißen Tusche- und Bleistiftzeichnungen, die Angelika damals zeigte, ist nun zum einen mehr Farbigkeit und Mehrfarbigkeit und eine Erweiterung der Techniken ins Aquarell und die Acrylmalerei bei den Papierarbeiten. Viel aufschlußreicher ist aber wie gesagt die Hinwendung zum Objekt.
Mehr Objekte heißt mehr Mut zur abgeschlossenen Form. Selbstbewußt werden hier künstlerische Setzungen vorgenommen, das Objekt tritt uns als Teil der Welt entgegen, über den wir stolpern, an dem wir uns stoßen, mit dem wir uns jedenfalls auseinandersetzen müssen. Im Objekt gibt sich das Werk Angelika Uliczkas nicht mehr als zeichnerische Emanation eines tastend-schüchternen Schaffensprozesses dem Betrachter anheim, indem es ihn auf die Bilder im eigenen Kopf zurückwirft. Das Objekt ist selber Gegenbild. Im Objekt wie in der geschlossenen Form einer Darstellung thematisiert die Künstlerin nicht mehr ihren Arbeitsprozeß, sondern blickt uns – nonchalant aber geradewegs – in die Augen.
Die angeschnittene Form, wo sie noch auftaucht, ist vom Bildinhalt zum bewußten Stilmittel geworden: Vorstellungsübungen II beispielsweise ist erst 1998/99 entstanden. Das entscheidende aber ist der Titel: 1996 hätte unter solchen Bildern Angelikas o. T. gestanden. Heute werden wir durch den Titel Vorstellungsübungen augenzwinkernd provoziert und wohlwollend auf den Arm genommen. Die Mehrdeutigkeit wird bewußter beherrscht und im Werk selber reflektiert.
Werktitel wie Vorstellungsübungen sind Früchte einer Beschäftigung mit Sprache, der Angelika Uliczka sich in den letzten Jahren verstärkt zugewandt hat: Die bildkünstlerische Arbeit wirkt auf die Sprache, die Kurzformeln ihrer eigenen Betitelungen zurück. So macht der Titel 6 Richtige auf die Mehrdeutigkeit dieses im Alltag so gedankenlos und unbedenklich gebrauchten Kürzels aufmerksam: Die sechs weißen Säckchen, die hier am Boden wie auf einer Perlenschnur aufgereiht liegen, sind zu vieldeutig, um auf die Veranschaulichung eines lohnenden Lottogewinns reduzierbar zu sein. Es sind Eisbeutel, Kopfkissen, es sind vielleicht Geldsäcke – oder haben hier im Gegenteil sechs Leute ihre Siebensachen gepackt? Das geschnürte Bündel, zugleich Sinnbild unbeschreiblichen Reichtums wie unbeschreiblicher Armut – unbeschreiblichen Reichtums, wenn es wie im Märchen voller Gold ist, unbeschreiblicher Armut, wenn es nur eben die letzten Habseligkeiten eines Menschen enthält –, das geschnürte Bündel scheint man doch auf diesen gemeinsamen Nenner bringen zu können: daß es das jeweils Wichtigste und jeweils Richtige enthält.
Auch für die Objektgruppe der Drei Schwestern ist der Titel unerläßlich für die Deutung. Die Arbeit wurde 1996 begonnen und über einen längeren Zeitraum hin fertiggestellt. Der Titel, der diese Objektgruppe zum witzigsten Exponat dieser Ausstellung macht, ist dem Werk erst vor ganz kurzer Zeit gegeben worden. Eine Festlegung und Deutung durch den Titel bereichert die Arbeit aber ungemein: „Drei Schwestern“ also. Ungerecht, wie’s nun mal zugeht auf der Welt, hat die eine die Wickler und die andere die Locken. Mit langen Armen versucht die große, die ganze Welt zu umschlingen, verfångt sich dabei aber immer wieder in sich selbst und dem eigenen Verlangen nach allem, was möglichst anders ist als sie selbst. Die Mittlere – das ”Sandwichkind" sagt man dazu bekanntlich, weil die Mittleren immer von oben und unten eins drauf kriegen – die Mittlere ist ein Pilzkopf der Beatle-Ära, introvertiert, und schottet sich unter einer struppigen Oberfläche komplett von den Außenwelt ab. Komplementärfarbig dazu die dritte, deren leuchtende und plüschig-weiche Außenwand einen tönernen grauen Fremdkörper einschließt. Was soll man sagen? Um sich selbst kreisen sie irgendwie alle.
Angelikas Entwicklung weg von der Darstellung tastender Anfänge, hin zur mutigen Setzung von Gegen-Welten in der Kunst ist auch die hier vollständig gehängte Serie von Papierarbeiten in verschiedenen Techniken. In elf disparaten, völlig unterschiedlichen Bildern von der schwarz/weiß-Zeichnung bis zum schillernden Aquarell wird hier eine ganze Welt vorgeführt, unerklärt, unerklärlich, die wir zunächst einmal einfach zu akzeptieren haben, wie sie ist. Wir machen hier, in der Begegnung mit der Kunst, noch einmal die Erfahrung des Kindes, das der Welt der Erwachsenen und. der anderen Kinder zu begegnen und erste Erfahrungen zu memorieren, zu kategorisieren und zu verarbeiten hat. Das Reagieren geht dem Agieren voraus. Tastend ist hier nicht mehr das zeichnerische Werk, sondern der Betrachter, an den es die programmatische Unsicherheit früherer Zeichnungen zurückgegeben hat.
Die Auseinandersetzung mit Körper, Bewegung und Tanz, der Angelika Uliczka sich in den letzten Jahren ebenfalls verstärkt gewidmet hat, spiegelt sich in der Entwicklung des o. T. von 1995 zu den Körperkleidern aus diesem Jahr oder auch zu Nana von 1998/99, beides Serien, die hier nur in Ausschnitten gezeigt werden. Nicht nur, daß die Serien jetzt Namen tragen und damit schon viel bestimmter daherkommen. Der Ausgangspunkt der unmodifizierten Linie wird weiter bearbeitet. Die geschlossene Liniengruppe hier auf der Gouache von 1995 strebt dem Blattrand entgegen, als bemühe sie sich, möglichst unbemerkt übers Papier zu kommen – ungefähr wie manche Menschen versuchen, möglichst schnell einen freien Platz zu überqueren. In den Körperkleidern brechen die Liniengruppen auf und entfalten in Flächen und Kreuzungen ein Eigenleben. Im Mädchenlied, einer Serie, die fortgeführt werden soll, wird die Linie wieder in ihrer Abbildfunktion in die Pflicht genommen: Die mimetische Darstellung von Mädchen und Frau leistet hier Deutungen der Zeichnungen, die die Abbildungen jeweils umschließen – m.E. werden hier mehr oder weniger verträumt oder deutlich wahrgenommene Körpererfahrungen dargestellt, die den Figuren selber jeweils mehr oder weniger verständlich sind.
Bei diesen Deutungen möchte ich es belassen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Cornelie Becker-Lamers