Trau deinen Augen nicht

Zur Farbfeldmalerei des Weimarer Künstlers Jürgen Beyer

Farbfeldmalerei - color field painting - verbindet man für gewöhnlich mit der US-amerikanischen Kunst, die direkt im Anschluß an den Zweiten Weltkrieg aufkam. Künstler wie Barnett Newman oder Mark Rothko, Kenneth Noland, Hans Hofmann und andere entwickelten auf der Grundlage der europäischen Moderne, insbesondere der suprematistischen Avantgarde um Kasimir Malewitsch, Aleksandr Rodtschenko oder Olga Rozanova einen abstrakten Expressionismus, der in minimalistischer Weise das Bild auf die Farbfläche reduzierte. Bekannt ist Rodtschenkos Diktum, das letzte Bild sei gemalt, als er 1921 in Moskau ein Triptychon aus drei gleichgroßen Leinwänden ausstellte: eine rot, die nächste gelb, die dritte blau.

Linie, Farbe und Fläche hatten endgültig ihre nur dienende Funktion verloren, in welcher der Betrachter durch sie hindurch nur auf das Bildsujet schaute. Es war möglich geworden, die kompositiongebenden Mittel der Malerei zu deren eigentlichem Thema zu machen. Und diese Möglichkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Als Barnett Newman ab 1966 mehrere Farbfeldbilder mit dem Titel "Who's afraid of red, yellow and blue" (Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau) schuf, bezog sich der provozierende Titel nicht nur auf Rodtschenko, sondern sowohl auf die Funktionalisierung der Farben in der Bauhaus-Didaxe als auch auf die De-Stijl-Bewegung um Theo van Doesburg und Piet Mondrian.

Auf dieser sich im 20. Jahrhundert ganz breit entwickelnden und weiter in Konkrete und Serielle Kunst ausdifferenzierenden Basis ruht die Kunst von Jürgen Beyer. Beyer, von Hause aus Architekt, hat parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit immer auch gemalt. Über die Landschaftsmalerei und an Oskar Schlemmers Werk geschulte abstrahiert-figurative Arbeiten entdeckte er im Laufe der 90er Jahre die Farbfeldmalerei für sich und verfolgt diese Richtung seither sehr konzentriert.

Bei einem Überblicken größerer Teile des bisherigen Gesamtwerks Jürgen Beyers entsteht für den Betrachter der Eindruck sehr ernsthaften künstlerischen Experimentierens mit Farbe, Fläche und Linie, ihren Wirkungen und Wechselwirkungen im Bildraum und auf den Betrachter. Seit den Farbforschungen Johann Wolfgang Goethes schon weiß man, daß das menschliche Auge nicht wenig zum subjektiven Eindruck einer Farbe beiträgt. Phylogenetisch jung und alles andere als überlebensnotwendig, ist das Farbensehen für den Menschen gewissermaßen Lust und Luxus und das Auge leistet sich allerlei Späße an relativem Sehen: Nach Grün sieht man Rot - auch auf rein weißer Fläche, ja sogar geschlossenen Auges. Auch in der Blauen Stunde erscheinen Briefkästen gelb, weil das Auge die relativ langwelligeren Strahlen registriert und als Reiz ans Gehirn weitermeldet. Von dergleichen Beispielen trügerischen subjektiven Farbeindrucks kann die Forschung reihenweise erzählen. Fest steht: Geht es ums Farbensehen, sollte man seinen Augen nicht trauen.

Das Format der Bilder ist dabei nicht das Wesentlichste. Jedenfalls in der Kunst Jürgen Beyers (bei Newman schon). Kleine Aquarelle und Zeichnungen denken die großen Formate (110x300 cm, 200x260 cm) auf dem Zeichenblock vor. Buntstiftschraffuren belegen die ersten Flächen mit Farbe. Im großen Format streicht Jürgen Beyer die geometrisch konstruierten Flächen mit Pinseln unterschiedlicher Breite und Acrylfarben ein. Mehrere Farbschichten werden es meist, bis der Farbton genau den Vorstellungen des Künstlers für genau dieses nächste Bild entspricht. Pinselstriche dürfen nicht sichtbar bleiben: "Sichtbare Mühe ist zu wenig Mühe", wie Marie von Ebner-Eschenbach es einmal formulierte. Der Entstehungsprozeß der Fläche darf nicht rekonstruierbar sein, weil dies uno actu ihre Faktizität relativieren oder gar in Frage stellen würde. Die Fläche ist die Fläche - das gehört bei Jürgen Beyer unbedingt zur Bildaussage. Daß oder gar auf welche Art und Weise sie geworden ist, muß vor Abschluß des Werkes vergessen gemacht werden. Dennoch hat Jürgen Beyer immer der Versuchung widerstanden - vielleicht kam er auch gar nicht erst auf die Idee - die Farben auf die Fläche zu sprühen. Er malt - und wenn eine Fläche fertig ist, klebt er Rand oder Ränder vorsichtig mit Kreppband ab. Die benachbarte Fläche wird in Angriff genommen.

Das Werk formt sich im Werden und im Beobachtet-Werden durch den Maler. Jürgen Beyer erzählt von Eindrücken im Schaffensprozeß: Wie eine Farbfläche so gar keine Wirkung erzielte. Er trug Linien auf. Sofort wurde die Fläche - man möchte beinahe sagen: ein ganz neuer Mensch. Die Linie verlieh der Fläche mit einem Mal Charakter und Ausdruck. Sie positionierte und definierte die Farbe. Im Farbensehen ist ja wie erwähnt alles relativ. Also muß der Künstler Relationen schaffen.

Jede Nachbarfarbe beeinflußt die Fläche, die zuerst entstand. So sieht man bei Jürgen Beyer ganze Versuchsreihen geometrisch identischer, farblich aber völlig konträr ausformulierter Bilder: "Grün im Schwarz" (2013; Abb. S. 3) und "Schwarz im Blau" (2016; Abb. S. 4) zum Beispiel. Oder, in einem einzigen Bild nebeneinander angeordnet der vierteilige "Farbklang über Schwarz" (2014; Abb. S. 17), der über vier schwarzen Quadraten vier Rottöne vom Violett bis zum Orange durchdekliniert. Oder das Paar "Glühen I" und "Glühen II" (beide 2014; Abb. S. 16), das einen orange gefaßten schwarzen Balken durch einen hellgelb gefaßten orangenen Balken auf violett ersetzt und so mit Komplementärkontrasten spielt: Es ergibt sich, wie man so schön sagt, ein völlig anderes Bild.

Frappierend auch die Divergenz der Eindrücke, die das Werkpaar "Farbraum beruhigt" und "Farbraum belebt" (beide 2012; Abb. S. 34) erzeugen. Beide Leinwände (im vorliegenden Katalog sind die entsprechenden Papierarbeiten abgebildet) sind links von einer Farbfläche in Karminrot bestimmt, die fast die Hälfte der Bildbreite ausfüllt. Die rechte Hälfte teilen sich ein schmalerer Streifen dunklen Oranges und, mittig zwischen beiden Rottönen situiert, eine etwas breitere himmelblaue Fläche. Im ersten Fall ("beruhigt") flankieren zwei zarte weiße Streifen, die senkrecht durch die rote und die orangene Fläche verlaufen, die himmelblaue Fläche im identischen Abstand. Im anderen Fall ("belebt") durchzieht die feine weiße Linie das Blau und teilt die Fläche im Verhältnis von gut drei Fünfteln zu zwei Fünfteln. Schwarze Linien aber teilen die Flächen des Karminrot und des dunklen Orange zu ungleichen Teilen. Optische Täuschungen entstehen oder werden durch den Betrachter vermutet durch die ungleiche Teilung der Flächen: Der rechte Teil der orangenen Fläche ist nicht gleich der linken blauen? Doch, ist er. Er wirkt nur breiter, weil die linke Abteilung der orangenen Fläche schmaler ist als der verbleibende Rest der blauen.

Trotz völlig anders gewählter Farben erinnert "Farbraum belebt" an eines der berühmtesten Bilder Barnett Newmans: An das "Vir Heroicus Sublimis", das Newman 1950/51 schuf. Dennoch sind Jürgen Beyers Arbeiten vollständig unabhängig, ja sogar in Unkenntnis dieses Werkes entstanden. Beyer malte, wonach sein Formempfinden strebte, was seine 'Architektenseele' an farbflächeninduzierten Raumwirkungen austesten wollte. Als Jürgen Beyer des "Vir Heroicus" ansichtig wurde, fühlte er sich verständlicherweise wie vom Blitz getroffen. Da empfand und schuf einer die gleichen Bilder wie er selber! Von diesem Zeitpunkt an entstanden alle Werke Beyers nolens volens - das entzieht sich dann dem bewußten Zugriff und jeder willkürlichen Steuerung - im Dialog mit, in Abgrenzung von, beeinflußt durch Werke Barnett Newmans. Tauchen also die schon erwähnten drei senkrechten Farbblöcke, wobei identische Flächen eine zwar kongruente, aber andersfarbige einrahmen ("Grün im Schwarz"), in vier Werken von Barnett Newmans 18teiliger Serie "Cantos" (1963/64) auf? Nein, denn bei Newman ist der mittlere der drei Streifen stärker - und bei den Flächenrelationen dieser Malerei ist jede Variation eine Veränderung im Ganzen.

In jedem Fall aber inspirieren die Fragen, die die umfängliche kunstwissenschaftliche Forschung an das Werk Barnett Newmans stellt, auch die Betrachtung des Werks von Jürgen Beyer. So bleibt einem Gesprächspartner beim ersten Atelierbesuch schon nicht verborgen, daß Beyer die Frage einer Rahmung seiner Farbflächen sehr stark umtreibt. Das heißt die Frage: Wirkt eine Farbflächenkomposition eindrücklicher mit oder ohne Rahmen? Wird ein Rahmen die Bildaussage unterstützen oder wirkt er ihr entgegen? Verstärkt ein Rahmen die Wirkung oder ist er hinsichtlich dessen irrelevant? Und welche Farbe sollte dieser Rahmen dann haben? Kontrastreich zu den Farben der Bildflächen, oder kontrastarm - im Extremfall gar aus einer der beiden Flächen heraus- und um die andere herumwachsend?

Der Künstler würde seine Bilder nicht hervorbringen, wollte er die Betrachter nicht in die Lösung dieser Frage einbeziehen bzw. uns an seinen Erkenntnissen teilhaben lassen. Kunst schaffen heißt den Dialog suchen. Wir dürfen daher diese Frage für uns selber beantworten und unsere Erfahrungen kommunizieren, denn Jürgen Beyer hat sie in zwei Werkpaaren exemplarisch bearbeitet. Im vorliegenden Katalog stellt er sie uns zur Anschauung zur Verfügung: In den vier, alle aus dem Jahr 2018 stammenden, Werken "Schwarz-Grau" und "Schwarz-Grau mit rotbraunem Rand" sowie "Schwarz-Rot" und "Schwarz-Rot mit rotem Rand" (Abb. S. 40/41).

Richtig interessant wird die Frage nach dem Rahmen, wenn man bedenkt, daß die Werke des color field painting - ob das Newman oder Rothko ist - vor dem Hintergrund einer möglichen Ausschnitthaftigkeit ihrer Farbflächen diskutiert werden. Wenn es nach der Meinung der Kunstgeschichte geht, ist gerade den ultrafeinen Rändern von Newmans "Who's afraid of red, yellow and blue III" ablesbar, daß man sich diese beiden ungleichen Streifen als Anschnitte von Flächen prinzipiell unendlicher Ausdehnung vorzustellen hat. Da sie nur an je einer Seite vom mittigen Rot begrenzt werden, ist ihre Ausdehnung über den Bildrand hinaus zu den drei offenen Seiten hin möglich. Nun wird klar, wie relevant die Frage nach einem Rahmen wird. Ein Rahmen definiert die sichtbaren Farbfelder als endliche Flächen. Existent ist nach Willen des künstlerischen Schöpfers dann exakt das und nur das, was er sichtbar gemacht hat. Dieselbe Farbfeldkonstruktion ohne Rahmen bereitet der metaphysischen Interpretation einer Darstellung des Nicht-Darstellbaren - nämlich einer Unendlichkeit von Fläche und Bildraum - den Weg.

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, wie fundamental sich das Werk Jürgen Beyers von dem Mark Rothkos und Barnett Newmans hinsichtlich ihrer künstlerischen Intention unterscheidet. Während beide amerikanischen Künstler (übrigens beide jüdischen Ursprungs, was für etliche ihrer Werke und Werktitel erhellend ist) sich von religiöser und spiritueller Sehnsucht getrieben fühlen und mit ihren für den Blickwinkel jedes Betrachters überdimensionierten (bspw. 270x600 cm großen) Farbflächen oder ganzen ausgestalteten Räumen ekstatische Verschmelzungs- und Identitätserfahrungen zu vermitteln suchen, experimentiert Jürgen Beyer nicht mit Blick auf ein Jenseits. Seine Werke sind Suche und Versuche innerhalb des weltlichen Raumes: Nach der Wirkung von Farben, nach ihrer gegenseitigen Beeinflussung und dem Platz farbiger Flächen im Raum, meditativ zwar, aber ohne religiöse Überhöhung.

Virulent für Jürgen Beyers Bilder ist aber ebenfalls die Frage nach dem Nebeneinander oder der Überlagerung von Farbfeldern. In den Werktiteln von "Großes Kreuz vor grünem Licht" (2011; Abb. S. 19) und "Übereinander geschichtet" (2012; Abb. S. 22) gibt der Künstler selber den Hinweis auf die von ihm gewünschte Lesart seiner Anordnung der Flächen: Ein breites schwarzes Kreuz ist nicht von mehrfarbigen Farbflächen umgeben, sondern es wurde vor einem zweifarbigen Tableau ähnlich dem schon erwähnten "Schwarz im Blau" aufgerichtet. Der Begriff "Licht" suggeriert sogar das Leuchten oder Aufscheinen einer grünen Fläche aus dem Bildraum heraus. In "Übereinander geschichtet" erläutert der Titel, daß das dunkelblaue Quadrat der hellroten und der rotvioletten Fläche aufruht, nicht nur von ihnen eingerahmt wird. So ergänzen wir unwillkürlich den rotvioletten Winkel und die hellrote Klammer ihrerseits zu breiten Rechtecken und können übrigens in Betracht ziehen, sie über den Bildrand hinaus weiterzudenken.

Das Weiterdenken über den Bildrand hinaus, die Frage nach der Überlagerung oder dem Durchblick in ein Dahinter betreffen natürlich die Streifen im selben Maße wie die Farbfelder. Die Tatsache, daß uns vom Künstler in den Werken "Schwarzer Pfahl" und dem Zentralstück der dreiteiligen Arbeit "Tore" (alle 2014; Abb. S. 14/15) identische Bilder einmal als Eindruck der Öffnung in ein dunkles Irgendwo (Tor), zum andern als Pfahl auf rotem Grund präsentiert wird, zeigt, wie Jürgen Beyer selber mit den Möglichkeiten unserer Seherfahrungen und Wahrnehmungsmuster spielt und sie dabei zugleich erweitert.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar

Der Text erschien in dem Katalog "Jürgen Beyer", Weimar 2019, S. 44-47.