"stip.visite. Christoph Feist. Claudia Neuhaus. Erik Niedling. Nadine Wottke. Kunststipendiaten 2010 des Freistaats Thüringen stellen aus"

Rede zur Ausstellungseröffnung

Neues Museum Weimar, 9. Februar 2011, 17 Uhr

Hier finden Sie den Beitrag von Salve-TV zur Eröffnung der stip.visite.

Sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrter Herr Präsident, Herr Professor Holler, Herr Dr. Völter, Dr. Luhn, Frau Dr. Bestgen, meine sehr geehrten Damen und Herren,

vor allem aber: liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten,

ich freue mich, heute in Ihre Ausstellung einführen zu dürfen und damit meine Betreuung Ihres Stipendienjahres zum Abschluss zu bringen.

Ich möchte im Pavillon mit den Arbeiten von Frau Wottke beginnen. Erröten war der Arbeitstitel für die Werke, die Nadine Wottke im Verlauf des Stipendienjahres geschaffen hat. Es ist ein großangelegter Versuch, den Raum der erotischen Sprache – Körpersprache wie Sprache der Dinge – auszuschreiten: wie paradoxal funktioniert doch Erotik, die zeigt, indem sie verbirgt, die sich auslebt, indem sie sich ziert, die selbstbewusst begehrt, indem sie vor Scham errötet! Und wie eng ist das Erotische mit der Suche des Individuums nach sich selbst, nach dem eigenen Verlangen und dem eigenen Ausdruck verknüpft.

In der künstlerischen Erforschung des einmal gestellten Themenkomplexes umkreisen Wottkes Arbeiten zum einen den Blick auf die Frau. Sie sehen die Ätzradierungen, die Fragmente des weiblichen Körpers verzerrend kombinieren, einzelne Körperteile werden übersteigert, andere verdreht – man macht sich die Frau, wie man sie gerade braucht: Das ist eine lange bekannte These der feministischen Theorie. Unverzichtbar hierzu die Attribute des Erotischen wie die Rose, das Negligé oder der Schleier als Inbegriff des verbergend Zeigenden, die Stöckelschuhe und der Schmuck.

Neben den Blick auf die Frau tritt der Blick der Frau selbst – der angeblich „kastrierende“, selbstbewusste weibliche Blick auf die Welt. Nadine Wottke hat sich dazu selber fotografiert in zwei kleinen 4er-Serien, wie die Fotoautomaten an Bahnhöfen sie ausspucken. Während sie in die Gummi-Verkleidung einer Lustpuppe schlüpft, konterkariert sie ihre Verkleidung zugleich, indem ihre wachen Augen mit wechselndem Ausdruck aus dem Gesicht der Vermummung herausschauen.

Das Schlüpfen in die Gummihaut offenbart den identifikatorischen Aspekt, den der größte Teil ihrer Arbeiten zum Thema Erröten für Nadine Wottke besitzt: Insgesamt sieben großformatige Zeichnungen und Materialdrucke zeigen eine Lustpuppe, die sich selbstbestimmt auf den Weg macht und die vorgegebenen Rollen abschreitet: Mal sieht man sie im Gespräch mit einer Freundin, mal mit Küchenschürze, mal mit Perlenkette geschmückt. Die Zeichnung, die wir für diese Ausstellung ausgewählt haben, zeigt Cindy als Venus, so der Bildtitel, in Anspielung auf den ganzen Reigen von Odalisken, mit dem die Kunstgeschichte aufwartet: Gespielinnen, die, auf einer Ottomane hingelagert, mit Spiegel oder ohne, mit Dienerin oder allein auf ihren Herrn – oder auf den Bildbetrachter eigentlich – zu warten scheinen. Cindy Venus, die von weitem zugleich wie die Morgenröte über einem schattigen Gebirgszug aussieht, Cindy Venus zitiert ihre Vorbilder und konterkariert sie in ihrer Gesichts- und letztendlichen Ausdruckslosigkeit im selben Handstreich.

Die Porzellanfiguren, die wir für die Ausstellung ausgesucht haben, entsprechen der Figur der Zeichnung: Ebenfalls Cindy ist zu sehen, wie sie sich aufpumpt – hier noch mal deutlich der Hinweis auf die Selbstbestimmung, die in den Figuren zum Ausdruck kommen soll – und zu sich steht.

Kommen wir zu den Fotografien von Erik Niedling, Redox. Der Werkzyklus besteht aus 19 Fotografien, von denen 9 relativ kleinformatig sind – ca. 90x70 cm, 9 Werke besitzen das hier gezeigte Format von ca. 160x120 cm und eine Fotografie misst anderthalb mal drei Meter. Für diese Arbeit hat Erik Niedling internationale Zeitungen gesammelt, sortiert und – verbrannt. Die Asche, zum Teil mit Mühe doch noch lesbare Fetzen, hat Erik Niedling fotografiert.

Man soll ja bei einer Rede in Weimar immer mindestens einmal Goethe zitieren. Das ist hier leicht: „Name ist Schall und Rauch“, sagt Faust in der Szene mit der berühmten Gretchen-Frage. Gretchen fragt ihn nach seinem Glauben an Gott und Faust redet sich heraus, „Wer darf ihn nennen, wer bekennen“, preist die Schönheit der Schöpfung und ihrer Liebe und sagt „Gefühl ist alles!/ Name ist Schall und Rauch.“ Man kann aber auch Goethe unfiktional zitieren, da er gesagt haben soll: „Wenn man die Zeitung von letzter Woche liest, weiß man, womit man seine Zeit vergeudet hat“ ...

Wie auch immer: Zeitungen transportieren Ereignisse durch Zeit und Raum. Und auch das Fotografieren bedeutet Festhaltenwollen für die Nachwelt. Die Dokumentation von Ereignissen stand am Anfang des Lichtbildes, sobald es der langwierigen Daguerrotypie der steifen Familien- und Herrscherportraits entwachsen war. Festhaltenwollen aber des Zerstörten, des gerade nicht mehr Erinnerbaren? Erik Niedling knüpft hier an die lange Tradition der Vergänglichkeitsmotivik an, wie sie in Stilleben, „natures mortes“, oder „Totentänzen“ zum Ausdruck kommt. Als postmodernes „memento mori“ thematisiert Redox unseren Drang, alles dokumentarisch festzuhalten, alles erinnerbar zu machen und zu archivieren. Zugleich macht es die Grenzen der Archivierbarkeit sinnfällig.

Im Zeitalter mündlichen Tradierens lagen die Grenzen des Erinnerbaren im Wegsterben der Zeitzeugen. Jan Assmann schildert in seinen Aufsätzen zum Kulturellen Gedächtnis, wie nach einem schwarzen Loch, einem Floating Gap – also einem sich verschiebenden Graben – etwa 80 Jahre nach einem Ereignis, Zusammenhänge entweder vergessen oder in den gemeinschafts­stiftenden Mythos einer Gesellschaft überführt werden.

Wo liegt, in unserer alphabetisierten Kultur, dieses schwarze Loch? Existiert es überhaupt? Haben wir nicht die Möglichkeit, alles längst digital abzuspeichern? Was bedeuten verbrannte Zeitungsmeldungen, da doch alle Nachrichten zugleich ebenso lautlos wie unaufhaltsam durchs Internet reisen? Längst kalkulieren die Informatiker nicht mehr mit Kilo-, Mega- oder Gigabyte, sondern sind über Tera-, Peta-, Exa- und Zettabyte bei der Einheit Yottabyte angekommen. Das sind 1024 Byte. Das wird doch wohl reichen! Uns kann nichts passieren. – Oder?

Was ist mit der Lesbarkeit von Datenträgern? So schnell, wie die Speicherkapazitäten von Chips sich vervielfachen, so schnell veralten ganze Generationen von Speichermedien. Welcher Rechner liest noch Floppy-Disketten? Und was geschieht bei Stromausfall? Glücklich die­jenigen, die die gespeichterten Daten auch noch ausgedruckt im Aktenordner gesammelt haben.

Dem Papier aber drohen andere Mächte: Das Feuer – wie in Niedlings Bildern – und das Wasser. Beide Elemente haben wir in jüngerere Vergangenheit in ihrer zerstörerischen Wirkung auf wichtige Archive unserer Kultur kennengelernt: Beim Brand der Anna-Amalia-Bibliothek und fünf Jahre später beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs.

Niedlings Werk zeigt uns zwei Strategien unserer sammelwütigen Erinnerungskultur auf: Das Dokumentieren – im gedruckten Zeitungsbericht – spiegelt er im Abbilden dieser Zeitungen wider. Die Überführung des einen Speichermediums in ein anderes – die Digitalisierung der Druckerzeugnisse – spiegelt er in der Überführung des geschriebenen Wortes ins Bild der Fotografie. Doch weder die Dokumentation, das zeigt Redox, noch die Vervielfältigung der Speicherplätze schützt Informationen wirklich vor dem Vergessen. Letztendlich steht uns doch immer nur das wirklich zur Verfügung, was wir selber im Herzen bewegen.

„Im Herzen bewegen“ – Sie haben es bestimmt erkannt, ist ein Zitat aus der Bibel. Das heißt: aus alten Bibeln. Heute steht in der Einheitsübersetzung an der Stelle: „dachte darüber nach“. Das ist natürlich etwas völlig anderes. Also in den alten Bibeln steht: „im Herzen bewegen“ und in den ganz alten Bibeln stand – gar nichts, sondern es waren Bilder zu sehen. Zumindest in den Armenbibeln, den biblia pauperum, weil die meisten Menschen ja nicht lesen konnten. Diese Armenbibeln sowie Einblattdrucke und Flugblätter der Frühen Neuzeit hat sich Christoph Feist zum Vorbild seiner Arbeit genommen. Sein Ziel ist die Entwicklung einer Bilder-Alphabets. Alle typischen Lebenssituationen, die ganze Palette individueller Gefühle und zwischen­menschlicher Interaktionen sollen durch die Elemente dieses Bilder-Alphabets in die unmittelbare und eindrückliche Evidenz der Zeichnung gehoben werden.

Das Vehikel dieses Bilder-Alphabets ist die meist holzschnitthaft reduzierte Zeichnung. Die Ausdrucksmittel sind Übersteigerung und Überzeichnung: Da weint Orpheus ganze Ströme von Tränen um seine für immer verlorene Euridike, staunenden Figuren treten im Wortsinne die Augen aus dem Kopf, Erdbälle werden in die Presse eingespannt, wo ein Bild die rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zum Ausdruck bringen soll.

Viele Bilderserien Christoph Feists mischen sich gesellschaftspolitisch ein: Langeweile war mein Motor ist eine Serie von Einzel­bildern, die in immer wieder abgewandelter Form den klassischen kapitalismuskritischen Themenkomplex durchdeklinieren: In drastischen Bildern wird die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen hier ebenso angeklagt wie die Ausbeutung der Entwicklungs- und Schwellenländer, die Militarisierung wirtschaftlicher Konflikte oder die unheilvolle Verknüpfung industriellen Geschäftsgebarens mit überkommen Vorstellungen auftrumpfender Männlichkeit. Ebenso entfaltet Büllerbü Babylon (in der Vitrine im Oberlichtsaal) als fiktionale Geschichte die Invasion schwedischen Kapitals in eine friedliche und geordnete Zwergenwelt. Rettung erwächst den Geknechteten in dieser surrealen Geschichte aus dem Einschreiten des Heiligen Nikolaus, der „Heiligen Astrid“ (Lindgren) und ihrer mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Kinderbuchgestalten.

Anders hingegen die Geschichte Das schwarze Quadrat, ebenfalls im Oberlichtsaal. Der Titel spielt auf das gleichnamige, wohl berühmteste Werk des russischen Malers Kasimir Malewitschs an. Die Geschichte stellt dessen künstlerische Entwicklung Malewitschs zwischen 1907 und 1915 – dem Entstehungsjahr des Schwarzen Quadrats – dar und stellt sie dem seelischen und körperlichen Verfall des gescheiterten Möchtegern-Malers Adolf Hitler gegenüber. Während Feist uns Malewitsch als Künstler zeigt, der an seiner Arbeit wächst und schließlich im Suprematismus zum ureigenen Ausdruck findet, tritt uns Hitler als junger Mann gegenüber, der sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt und im Obdachlosenasyl zusehends verfällt, bis der Krieg ihm endlich ein Betätigungsfeld – im Feld – eröffnet. In ihrer Verknüpfung dieser beiden Personen stellt diese fiktive Bilderfolge einen genuin künstlerischen Zugriff auf Geschichte dar. Ohne den stringenten Beweis historischer Forschung vorlegen zu wollen, geriert er vor unseren Augen das Psychogramm eines Mannes, der mit 20 Jahren sein Leben bereits als gescheitert betrachten muß. Achten Sie auf die künstlerischen Mittel Feists in der Gestaltung der Augen, der Haare, des Backen- und natürlich vor allem des Schnurrbartes Hitlers.

Zuletzt möchte ich Ihnen das Büchlein Eskapismus ahoi ans Herz legen, in dem die holzschnitthafte Bildsprache des Künstlers in Reinkultur zum Tragen kommt. Es ist ein sehr lustiges, unterhaltsames und kunsthistorisch anspielungsreiches Büchlein – wenn etwa die Darstellung eines Schiffbruchs Caspar David Friedrichs Eismeer (auch Gescheiterte Hoffnung) zitiert. Ein hervorragendes Büchlein – wir durften es in der Vitrine leider nicht aufblättern, es ist aber im Museumsladen käuflich zu erwerben – unbedingt ansehen und kaufen!!!

Kommen wir zu den Fotografien von Claudia Neuhaus. Bisher in der Portraitfotografie profiliert, ging ihr Interesse im vergangenen Jahr – nicht zuletzt durch einen kurzen, aber sicherlich dennoch prägenden New-York-Aufenthalt – auf Innenräume und Architektur über. Gehängt ist ab heute zweierlei: drei Arbeiten, die in New York entstanden, sowie ergänzend der 19teilige, Zyklus Die Besucher. Er zeigt 16 Menschen nach ihrem Besuch des Konzentrationslagers Buchenwald, zweimal den Appellplatz und eine Aussicht auf Weimar vom Ettersberg aus. Die ausdrucksstarken Portraits fangen den Reflex von Gefühlen ein, wie er sich auf den fast in jedem Fall abgewendeten Gesichtern der Besucher spiegelt.

Wenden wir uns aber zunächst der Skyline von New York City im Abendlicht zu. Die Konkurrenz für solche Bilder ist fast unüberschaubar. Seit 20 Jahren ist Jason Hawkes im Flugzeug unterwegs und hat phantastische Nacht-Ansichten von London, New York und anderen Städten festgehalten – berühmte Skylines wie anonyme Straßen, bekannte Gebäude wie leuchtende Autobahnkreuze. Secret City von Jason Langer war unlängst zu sehen als Versuch, das Nachtleben beliebiger, nicht namhafter Städte als eine Art Unterwelt wahrnehmbar zu machen.

Vor dem Hintergrund dieser Konkurrenz macht sich Claudia Neuhaus auf den Weg, um sich laufend einen eigenen Blick auf ihre Objekte zu erarbeiten. Ihre Aufnahme zeigt eine Wolken­kratzer-Silhouette mit Brücke – eine typische New-York-Ansicht also. Das Augenmerk der Fotografin lag offensichtlich auf dem Licht: Das brechende Licht des vergehenden Tages, das sein wunderschönes Farbenspiel an den Himmel malt, kontrastiert mit dem Kunstlicht der Brückenbeleuchtung und den grellen Spots der Werbe­plakate.

Wesentlicher für die eigene Handschrift der Künstlerin scheinen mir die beiden fast identischen Aufnahmen aus einer Schule in Brooklyn zu sein. Kaum etwas unterscheidet die Bilder – man könnte „finde fünf Unterschiede“ spielen: Das Objekt am Fenster ist einmal von vorne, einmal von der Rückseite zu sehen. Der Schattenfall der Kommode ist auf beiden Ansichten etwas anders, der Schrank scheint einmal geöffnet, einmal verschlossen zu sein. Das alles ist aber meines Erachtens nicht der springende Punkt. Die Bilder – Sie sehen es an den Titeln – sind kurz vor bzw. kurz nach der Mittagsstunde entstanden – ein Zeitpunkt, in dem bei angloamerika­nischen Zeitangaben der Zusatz „am“ (ante meridiem) zu „pm“ (post meridiem) wechselt. Es ist, als würde am Mittag der Tag herumgedreht wie eine Medaille, um am Nachmittag gleichsam die Rückseite des Tages in wiederum 12 Stundenschritten abzuschreiten. Diese Sichtweise würde das Objekt vor dem Fenster erklären, das einmal von vorn, einmal von der Rückseite zu sehen ist.

Wenn wir nun in Rechnung stellen, daß Frau Neuhaus vom Portrait her kommt, in dem nicht das Aussehen der Person, sondern der Reflex innerer Gefühle, der Reflex eines inneren Leuchtens auf dem Gesicht eingefangen wird, so scheint es in den Innenraumansichten von Claudia Neuhaus ebenfalls nicht um die Inszenierung der Räume zu gehen. Betrachten wir hierzu noch einmal die Aussicht auf Weimar vom Ettersberg aus, also einer Landschaftsansicht, die noch ganz im Kontext der Portraitfotografie steht: Unerlässlich sind auf diesem Bild die winzigen Sonnenflecken, die die Landschaft als Reflex des Tageslichts durchziehen. Im Kontext der Besucherfotografie, die es nicht auf die Physiognomie, sondern auf den Reflex der Gefühle im Gesicht abgesehen hat, heißt das, in der Aussicht wird nicht Weimar abgebildet, sondern die Stimmung des Tages, wie sie sich in den Lichtreflexen der Landschaft darstellt.

So wären m.E. auch die beiden fast identischen Aufnahmen dieses Schulraums zu verstehen als Suche nach der Stimmung des Tages, wie sie sich im Reflex des erleuchteten Raumes spiegelt.

Hier möchte ich schließen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar