Stefan Böhm
Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Kunsthalle Arnstadt, Samstag, 25. Januar 2025, 19 Uhr
Liebe Sybille Suchy, lieber Stefan Böhm, sehr geehrte Damen und Herren,
es ist eine kategorial besondere Ausstellung, die heute hier in der Kunsthalle eröffnet wird. Denn wir sehen nicht nur fertige Arbeiten des Steinbildhauers Stefan Böhm. Sondern wir erhalten dreierlei Einblicke in sein Werk:
Wir sehen erstens die fertigen Skulpturen,
aber dazu zweitens auch Rohlinge von Steinen, die ihrer Bearbeitung erst noch harren, sowie Fotografien aus dem Entstehungsprozeß einer Skulptur.
Und drittens sehen wir Detailansichten ausgewählter Kunstwerke, Detailansichten die durch ihren konzentrierten Blick auf einzelne Werkabschnitte, Werkausschnitte, ganz eigene Bildaussagen in der fotografischen Fläche produzieren. Mit ihren Verfremdungseffekten, ihrem trompe l'œil, also mit ihrem Potenzial zur optischen Täuschung, sind die Werkfotografien selber bereits wieder eigenständige Kunstwerke.
Ich werde auf jeden der drei einzelnen Aspekte dieser Ausstellung im folgenden eingehen, möchte aber, bevor ich über die Kunstwerke rede, zunächst mit dem beruflichen Werdegang des Künstlers Stefan Böhm beginnen.
Stefan Böhm wurde in Weimar geboren, konnte bereits zu Ende seiner Schulzeit in einer Fachklasse für Metallgestaltung lernen und absolvierte nach seinem Schulabschluß Mitte der 90er Jahre eine Ausbildung zum Steinmetz und Steinbildhauer. Doch auch der freie künstlerische Zugriff auf das Material Stein war bereits in der Jugend in Stefan Böhm angelegt. Parallel zu seiner berufsorientierten Ausbildung schuf er daher bereits als junger Erwachsener Steinskulpturen. Den Sprung in die Existenz als freischaffender Künstler wagte er mit Anfang 30, nachdem er sich zum Steinmetz und Steinbildhauer in der Denkmalpflege weitergebildet hatte, einen Meisterbrief besaß und als Mitarbeiter einer Baufirma an der Restaurierung etlicher bedeutender Bauwerke mitgewirkt hatte: dem Kloster und der Kaiserpfalz Memleben, dem Collegium Maius der Alten Universität Erfurt, dem Augustinerkloster Erfurt, mehreren Schlössern und Kirchen. Er kennt die Umsetzung von Auftragsarbeiten nach Kundenwunsch und die Arbeit in der Sepulkralkultur und führte sie doch häufig aus, als sich parallel in seinem Kopf Gestaltungsideen für eigene Kunstwerke zu formieren begannen. 2007 machte er sich deshalb als Steinbildhauer selbständig und ist seit 2020 Mitglied im Verband Bildender Künstler Thüringen.
Ab 2001 war Stefan Böhm jahrelang in der Denkmalpflege tätig. Das geht nicht spurlos an einem vorüber, und so eröffnet dieses Stichwort denn auch einen möglichen Zugang zum Urgrund auch seines künstlerischen Schaffens in Stein: Stefan Böhm sucht in seinen Steinskulpturen - wie individuell konzipiert sie uns auch immer gegenübertreten mögen - nie nur die Schöpfung von etwas Neuem, sondern immer auch das Bewahren dessen, was ist.
Doch wen diese Suche umtreibt, den treibt bald eine viel tieferliegende um, nämlich die Frage: Was ist denn? Was ist denn das Wesen des Steins, den ich da vor mir habe? Und das ist eben ein Problem, das immer auch in der Denkmalpflege auftaucht, wenn man es mit einem beispielsweise 1000 Jahre alten Gebäude zu tun hat. Das Gebäude ist meist auch in historischer Zeit bereits vielfach anrestauriert, überbaut oder umgestaltet worden und es ist zu fragen: Was wollen wir erhalten? Bis wohin gehen wir zurück? Welche Schicht legen wir frei? Wie dokumentieren wir an bestimmten Stellen die Zustände, die wir nicht für das ganze Bauwerk festhalten können oder möchten? Wie also werden wir der wechselvollen Geschichte gerecht? Wann haben wir das Wesentliche unseres Gegenstandes erkannt, erreicht, freigelegt - und wann müssen wir aufhören weiterzuarbeiten? Wann ist - bezogen auf eine Steinskulptur - das Werk vollendet? Und wie kann der Künstler das Gewordensein, also das 'Leben' eines Steins sichtbar machen?
Diese Frage spielt eine zentrale Rolle im Schaffen von Stefan Böhm. Er denkt dabei in sehr großen Zeiträumen. Schließlich geht es um Steine und die sind bekanntlich steinalt. Er hat seine historisch weit ausgreifende Perspektive einmal sehr schön formuliert, indem er sagte, so ein Stein sei ja immer in Bewegung, immer unter Druck - ja, er werde auch durch Tektonik angehoben, breche wohl auch aus einem größeren Felsen aus, liege mal 100.000 Jahre, und dann gehe es schon wieder weiter. Stefan Böhm schreitet in Äonenschritten durch die Geschichte. Das Material der Skulpturen, die wir hier sehen, ist - vom Muschelkalk bis zur Grauwacke - ist zwischen 200 Millionen und 400 Millionen Jahre alt. Das Küken der heutigen Ausstellung ist das kleine Sofa aus Weimarer Travertin, das hat lediglich 20 Tausend bis 200 Tausend Jahre auf seinem vom Künstler so schön glattgeschliffenen Buckel.
Auch für Stefan Böhm stellt sich angesichts seiner Steinfunde die Frage nach dem Wesen und der Geschichte, also nach dem Gewordensein jedes einzelnen Steins. Und an dieser Stelle kommen die Rohlinge und kommen die Fotografien des Arbeitsprozesses als ganz wesentliches Element der heutigen Ausstellung zum Tragen. Denn die unbehauenen Steine machen uns Betrachtern sinnfällig, wie tastend die Arbeit des Steinbildhauers vorgehen muß. Da kann keine Zeichnung vorangehen, die das fertige Werk entwirft und dann geht es an die Arbeit. Wo es - wie besonders beim Travertin - darum geht, versteinerte Spuren einst eingeschlossener Tiere und Pflanzen sichtbar zu machen - und darum geht es Stefan Böhm natürlich, denn genau das sind ja die Zeugnisse der Lebensgeschichte des Steins und der Zeitalter, durch die er bereits gegangen ist, wo es darum geht, Spuren organischer oder mineralischer Einschlüsse, Einschlüsse von Erzen oder Lufteinschlüsse und Gipsausspülungen sichtbar zu machen, da muß der Bildhauer Schicht für Schicht nachsehen, was an Zeugnissen vergangener Zeiten vorhanden ist. Und er muß einschätzen können, wie ein Fund sich vermutlich ins Innere des Steins hinein weiterentwickeln wird. Nur mit viel Erfahrung und Gespür kann er dann die künstlerische Entscheidung treffen, ob es sich lohnt, eine Stelle noch weiter abzutragen, oder ob die optimale Form eines Einschlusses erreicht sein wird. Das Ziel der Arbeit ist für Stefan Böhm nie eine figürliche Skulptur - auch wenn die Evolution in ihrer aufrechten, geschwungenen Gestalt spontan an die spätmittelalterliche Figur einer Madonna mit ihrem Kind auf der Hüfte erinnert. Das Ziel oder das künstlerische Erkenntnisinteresse ist bei Stefan Böhm immer, den Stein so zu bearbeiten, daß mit seinen charakteristischen Einschlüssen die individuelle Schönheit des Steins optimal zur Geltung kommt.
Bei Vulkangestein wie Diabas oder Basalt ist es nicht das Freilegen möglicher gesteinsfremder Einschlüsse, sondern es ist die Politur, die die Schönheit des Steins hervortreten läßt. Die Bearbeitung ist damit eine völlig andere, wenn auch nicht weniger Schritt für Schritt tastend. Der Stein ist hart und undurchdringlich und nach seiner Politur von einer geradezu strahlenden Dunkelheit. Kantige und aufgerauhte Flächen wechseln sich in den Werken von Stefan Böhm mit streichelweich geschliffenen Flächen ab und scheinen die Aufgabe zu haben, die glänzenden Teile der Skulptur optimal zur Geltung zu bringen. Doch auch diese Formen sind zu Beginn der künstlerischen Arbeit nicht vorgefaßt. Es geht nicht um den Effekt oder das Dekorative des polierten Steins, das irgendwie zum Vorschein zu kommen hätte. Die Politur ist kein Selbstzweck. Stefan Böhm will Welt weder abbilden - in figürlichen Skulpturen - noch einfach doppeln - in der Ausstellung von nach einer bestimmten Vorstellung zurechtgemachten Steinen. Stefan Böhm möchte Welt freilegen und sichtbar machen, wie sie eigentlich ist: steinalt und im Wortsinne ehrwürdig, vielfältig geworden, rätselhaft und bezaubernd schön.
Um dies zu erreichen, muß auch im Hartgestein die Form dem Material eines Steins folgen. Für die Steinskulpturen Stefan Böhms gilt somit die Umkehrung dessen, was als künstlerischer Zugriff geläufig ist. Ist man gewohnt, daß Künstler sich in einer bestimmten Darstellung entäußern möchten und nach dem Material suchen, das die Darstellbarkeit am besten unterstützt, so geht Stefan Böhm in seinen Steinskulpturen den umgekehrten Weg: Nicht das Material dient der möglichst perfekten Hervorbringung der Form, sondern die Form dient der möglichst perfekten Inszenierung des Materials. Das Freilegen der jeweiligen Besonderheit jedes Steins muß der Künstler im Verlauf jedes Schaffensprozesses immer wieder erst selber herausfinden. Jeder Schaffensprozeß trifft eine Entscheidung, was es denn diesmal sei, was es da veredelt zu bewahren gelte. Und jeder einzelne Schaffensprozeß gibt dann eine individuell zugeschnittene Antwort auf die Frage, die ich eingangs formuliert habe. Wenn ich bewahren möchte, was ist: Was ist denn? Was ist das Wesen des nächsten zu bearbeitenden Steins?
Sie sehen: Stefan Böhm setzt sich mit jedem einzelnen Gesteinsbrocken sehr intensiv auseinander. Er bemüht sich, dessen charakteristische Eigenart herauszufinden und es mit viel körperlichem, intellektuellem und seelischem Einsatz zu ermöglichen, daß sie optimal sichtbar wird und zum Tragen kommt. Entsprechend schwer muß es Stefan Böhm fallen, eine Arbeit als beendet zu erklären und sich von ihr zu lösen.
Aber Stefan Böhm wäre nicht Stefan Böhm, wenn er nicht auch aus diesem emotionalen Dilemma einen Ausweg gefunden hätte. Und damit komme ich zum dritten Aspekt der heutigen Ausstellung: den Werksfotografien. Nach dem Abschluß einer Arbeit ist vor dem Fotografieren dieser abgeschlossenen Arbeit. Indem Stefan Böhm seine fertigen Skulpturen in einem völlig neuen künstlerischen Schöpfungsakt in Fotokunst überführt, hat er noch eine ganze Weile Gelegenheit, sich weiterhin mit der jeweiligen Skulptur zu beschäftigen, sich an ihr zu erfreuen und - unsere Wahrnehmung auf diese Skulptur zu steuern.
Indem einzelne, zum Teil winzige Abschnitte einer Skulptur von der Werksumgebung isoliert, vielleicht vergrößert, jedenfalls aber gedreht und gewendet und mit gesteuertem Lichteinfall ins Bild gesetzt werden, kann Stefan Böhm sicher stellen, daß dem Betrachter genau dieses Detail einer Arbeit in keinem Fall entgehen wird. Verborgene Semantiken werden sichtbar - etwa wenn rein formale Ausstülpungen eines Steins, herausgelöst in den Blick genommen, plötzlich als figürliches Profil eines liegenden Kopfes erscheinen können. Die Arbeit Ursprung - längst in fremdem Privatbesitz - fotografiert Stefan Böhm so, daß die Grenzen von Fotografie und Grafik verschwimmen. Das linke der drei Bilder ist keine Zeichnung oder Radierung - es sieht nur so aus. Glattpolierte Steinflächen eines pechschwarzen Pikrit werden - wie auf einer Detailfotografie von Wahrscheinlichkeit und Dualismus - zum Bild einer Meereswoge, deren gefährlich ruhiges Wasser sich bald in der Gischt einer brechenden Welle zu kräuseln scheint. Durch Raum und Zeit schließlich greift einen Aspekt der Skulptur heraus, die als Detail des Kunstwerks das Bild eines Höhenkamms in uns abruft. Ein fantastisches Bild - ein fantastischer Werktitel. Denn diese Fotografie transzendiert tatsächlich das Vergehen von Raum und Zeit. Die Detailansicht scheint uns zeigen zu wollen, daß in jedem seiner Bruchstücke immer der gesamte Berg enthalten ist, aus dem ein Stein einst abgespalten wurde.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar