„descendi in ortum meum“. Die Einhornjagd als Darstellung der Verkündigung
Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Sichtbarer Glaube. Das Kirchenjahr im Spiegel mittelalterlicher Kunst“ der Stiftung Weimarer Klassik
Schlossmuseum Weimar, 18. März 2007.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wir stehen vor der Innenseite des rechten Flügels des sogenannten Heilsberger Altars. Er wird um 1490 datiert und dem in Erfurt wirkenden Meister des Allendorfer Altars zugeschrieben. Den linken Flügel, der auf der Innenseite die Anbetung zeigt, sehen Sie auf der gegenüberliegenden Seite. Dieser rechte Flügel hier verbindet zwei Motivstränge miteinander: Die Einhornjagd und das Motiv der Verkündigung Mariens – eine Motivverbindung, die für das Thüringen des 15. Jahrhunderts fast als typisch bezeichnet werden kann: Von 24 europaweit noch nachweisbaren Tafelbildern dieser Motivik befinden sich allein elf in Mittelthüringen, darunter das älteste sowie das jüngste Retabel dieser Art.
Der Gestalt des Einhorns wohnt wohl ursprünglich, im fernöstlichen Kulturraum, eine kosmische (Mond-)Symbolik inne: Als Kampf zwischen Einhorn und Stier findet der Wechsel der Jahreszeiten mythologische Darstellung. Die indische Legende aus dem Mahabarata jedoch erzählt von einem Einsiedler Einhorn, der als Gazellen- und Menschensohn asketisch lebt und daher Indra, den Regengott beherrscht. Da der Regen für die Fruchtbarkeit des Landes wie der Menschen steht, muß das Einhorn bei einer langen Dürre zum König gebracht werden. Die Königstochter fängt ihn mit List und bringt ihn ins Schloss. Aus dieser indischen Erzählung hat sich die im Mittelalter dann auch in Europa verbreitende Geschichte entwickelt: Die Geschichte von der Jungfrau, die das Einhorn fangen kann.
Der Physiologus, ein Bestiarium der Spätantike (Alexandria 2.-4. Jahrhundert n.Chr.), beschreibt das Einhorn als unbesiegbar stark und nicht zu fangen – außer durch eine Jungfrau, der es sich bereitwillig hingibt und in ihrem Schoß einschläft. Durch einen Übersetzungsfehler fand das „Einhorn“ auch Eingang in Bibeltexte, im Pentateuch und den Psalmen etwa. Heute wird an diesen Stellen „Wildstier“ oder „Büffel“ übersetzt, das hebräische re’em ist dadurch korrekter wiedergegeben. Da man so aber einer langen Tradition bildkünstlerischer und literarischer Werke den Boden entzieht, halte ich die bessere Übersetzung für schlechter. Re’em jedenfalls wurde griechisch Monokeros, in der Vulgata dann zu Unicornus und bei Luther zum Einhorn. Heute weist nicht einmal mehr die lateinische Bibel, wie der Vatican sie verantwortet, das „Unicornus“ auf.
Im Mittelalter wird die unbesiegbare Stärke des Einhorn sowie die Tatsache, daß sein Horn dreifach gewunden ist und es stehendes Wasser reinigt, so daß alle Tiere trinken können, auf Christus übertragen. Wir haben eine kleine Textstelle aus dem Lob der Keuschheit des Eisenacher Stadtschreibers Johannes Rothe auf dem Programmzettel abgedruckt, bei Bedarf kann ich den Text im Zusammenhang vortragen. Vier Besonderheiten des Einhorns werden hierin beschrieben und jeweils auf Christus, Maria und die Dreifaltigkeit hin allegorisch ausgelegt.
Nun aber zum zweiten, vordergründigeren Motivstrang, der Verkündigung. Die Verkündigung ist ein sehr beliebtes Motiv der Bildenden Kunst, seit den Anfängen. Aus Italien sind Darstellungen des 3. Jahrhunderts bekannt. Auch in der Einhorn-Verkündigung sind die wesentlichen Elemente der ikonographischen Tradition zu finden: Wir haben Maria, der Engel Gabriel naht ihr von links.
Über die Rechts-Links-Symbolik wäre viel zu sagen. Denn die tiefere Bedeutung der Anordnung ist u.a. davon abhängig, ob nur die beiden Gestalten oder eine dritte, nämlich Gottvater in der Mitte mit dargestellt ist, wie wir das beispielsweise auch hier finden. Belassen wir es für den ersten Überblick bei einem Verweis auf die Leserichtung: Seit dem Frühmittelalter kommt der Engel hauptsächlich von links, denn das Geschehen ist zukunftsgerichtet, in spätantiken Darstellungen kommt der Engel von rechts, weil die Bilder sich an der Leserichtung des Hebräischen und Arabischen orientierten.
Also: Engel und Maria, Gottvater, von dessen Händen der Segen ausgeht. Wir finden hier als Taube den Heiligen Geist. Das Konzil von Nicea hat im Jahr 325 die Versinnbildlichung des Heiligen Geistes durch die Taube offiziell anerkannt. Seither ist sie in Verkündigungsdarstellungen und in Darstellungen des Pfingstgeschehens zu finden, obwohl für die Darstellung speziell dieser Szenen keine textliche Grundlage dafür besteht. Das Bild vom Heiligen Geist als Taube erwächst aus der Szene der Taufe Jesu im Jordan.
Gottvater – Christus auf dem Kreuz – Heiliger Geist: Die Darstellung der gesamten Trinität verweist darauf, daß alle drei zusammen das Heilsgeschehen in Gang gesetzt haben. Alle übrigens mit Heiligenschein, nicht aber der Engel, das ist typisch für dieses Bildmotiv – im Gegensatz zu den italienischen Verkündigungsszenen, in denen der Engel stets mit Heiligenschein zu erkennen ist.
Abweichend von den üblichen, beispielsweise italienischen, Verkündigungsszenen aus dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit trägt Gabriel keine Lilie, ist Maria nicht von Palastarchitektur umgeben. Sie liest nicht. Sie spinnt nicht (die Purpurwolle für den neuen Tempelvorhang – die Textvorlage stammt aus einem Protoevangelium). Sondern: Sie fängt ein Einhorn. Das Bildmotiv scheint vor allem darauf abzuzielen, Maria als Jungfrau auszuweisen, denn das signalisiert das Einhorn: Es lässt sich nur von einer Jungfrau fangen. Hinzu kommt, daß das Bildmotiv Einhornjagd im hortus conclusus als Darstellung der Verkündigung mit der Zeit eine Fülle anderer mariologischer Symbole anhäuft, von denen etliche auf Jungfräulichkeit hinweisen. Ich komme gleich im einzelnen darauf zurück, möchte aber zunächst das Motiv in aller Kürze zeitlich einordnen und die Entwicklung des Bildmotivs zusammenfassen.
Das Bildmotiv der Einhorn-Verkündigung existiert ca. 150 Jahre lang, von 1400 bis etwa 1550, da das Konzil von Trient in der Mitte des 16. Jahrhunderts die Symbolisierung Christi durch das Einhorn verbietet. Warum das Bildmotiv auftaucht, wissen wir nicht – wir haben den bereits erwähnten Text Lob der Keuschheit von Johannes Rothe, der aber nicht direkt diese Szene vor-schreibt, sondern bei seiner Allegorese im Allgemeineren verbleibt. Wir können uns nur vorstellen, warum das Motiv verboten wird. (Wir haben dazu auch einen Text parat, wenn das gewünscht wird). Wie ich eingangs schon erwähnte, ist das Motiv als Altarbild europaweit derzeit noch 24mal auffindbar, sämtliche Bilder im damals deutschen Sprachraum. Elf der 24 Zeugnisse stammen aus Thüringen und befinden sich auch noch hier, darunter das älteste – das ist die Mitteltafel des Triptychons im Erfurter Dom – und das jüngste, das seit der Restaurierung besagten Triptychons auch im Dom hängt.
Es ist auffällig, daß die mariologischen Symbole nicht von Beginn des Bildmotivs an alle versammelt sind. Das Triptychon im Dom zeigt den Kern der Szene: Maria mit dem Einhorn, Gabriel mit Jagdhorn und Lanze, die Jagdhunde (das sind die Tugenden, wir kommen darauf zurück) und den Weidenzaun, der den verschlossenen Garten andeutet. Die Szenerie spielt sich aber im Kreis der 14 Nothelfer ab und ist noch gänzlich vom mittelalterlichen Stil geprägt, der Himmel ist golden, das Einhorn ist golden, die Figuren sind je nach Wichtigkeit riesengroß wie Maria oder winzig klein wie zwei Stifterfiguren. Das zweite Bild der Motivreihe ist auch in Erfurt entstanden, hängt jetzt hier: Goethe hat es 1828 über die Grenze geschafft. Es enthält wenige der später so typischen Motive. Dafür hat es den Vorzug, jeweils die Textstellen mit anzugeben, aus denen die Symbole stammen.
Der Flügel des Heilsberger Altars hier vereinigt dann schon sehr viele Mariensymbole, die in allen späteren Bildern auftauchen: Zunächst den Garten selber, der auch unserem Vortrag den Titel gegeben hat. „Descendi in ortum meum“ ist das Spruchband des kleinen Christus, der auf dem Erfurter Triptychon auf Maria herabschwebt: „Ich stieg herab in meinen Garten“. Maria ist das „Vernünfftige Paradies“, wie es in der zeitgenössischen Literatur heißt. Die vier Hunde symbolisieren nach spätmittelalterlichem Muster die Tugenden, in unserem Fall die Tugenden, die Jesus dazu gebracht haben, sich als Mensch für die Menschen hinzugeben. Es sind misericordia – das Mitleid; veritas – die Wahrhaftigkeit; iustitia – die Gerechtigkeit und pax – die Friedfertigkeit.
Die porta clausa, die verschlossene Pforte (die, was die textliche Vorlage betrifft, eigentlich mit der porta Ezechielis identisch ist, die porta Ezechielis wird hier jedoch gesondert noch einmal genannt), die Pforte aus der Vision des Hesekiel also, die im himmlischen Jerusalem immer verschlossen bleibt, weil der Herr hindurchgeschritten ist (wenn Sie im Erfurter Stadtmuseum im Haus zum Stockfisch sind, sehen Sie dort eine Ausprägung unseres Bildmotivs, bei dem tatsächlich gerade ein alter Herr durch diese Pforte schreitet). Fons signatus, der verschlossene Quell aus dem Hohenlied, hier ohne Beschriftung. Aus dem Hohenlied auch „Sicut lilium inter spinas sic amica mea inter filias“ – „Wie die Lilie unter Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern“, hier ohne Bild. Ebenso „Quasi oliva speciosa exaltata sum in campis“ ohne Bild – „Wie der kostbare Ölbaum bin ich in den Feldern aufgewachsen“. Das Vlies des Gideon, vellis Gideonis, hier auch mit Gideon, aus dem Buch der Richter, die urna aurea, das Mannagefäß aus dem Buch Exodus, das nie aufhört, Speise zu spenden, die virga Aaron, die eigentlich zwölf Stäbe (hier 10+1, sonst 12+1), von denen einer in einer Mandelblüte ergrünte, um das Geschlecht Aarons als Priesterkaste auszuweisen (4.Buch Mose). Ganz wichtig natürlich, aber auch in Nicht-Einhorn-Verkündigungen zu finden, der englische Gruß und die Antwort der Maria: „Ave gracia plena dominus tecum“ – „Ecce ancilla domini fiat michi secundum verbum tuum“.
Stilgeschichtlich interessant ist in der Motivreihe auch der Umschlag von mittelalterlicher zu neuzeitlicher, ‚realistischer’ Darstellungsweise.
Ja – und das Einhorn. Es stellt normalerweise den Partner der jeweiligen Jungfrau dar, nicht ihr Kind. Außerdem doppelt es bei Deutung als Christus die Darstellung Jesu im Bild, denn dieser kommt ja auch aus der Wolke herabgeschwebt ...
Aber für die theologischen Ausführungen gebe ich das Wort jetzt an Herrn Dr. Hiddemann weiter.
Cornelie Becker-Lamers