„Netz Works. Ursula Paul“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Ausstellungseröffnung mit Ursula Paul und dem Kanzler der Bauhaus-Universität Weimar, Dr. Heiko Schultz

Kanzleramt der Bauhaus-Universität Weimar, 27. Juni 1997

Sehr geehrter Herr Dr. Schultz, liebe Frau Paul, meine sehr geehrte Damen und Herren,

Überpräsenz und Isolierung – genauer: Überpräsenz durch Isolierung scheint mir das zentrale Thema in der künstlerischen Arbeit von Ursula Paul zu sein.

Überpräsenz und Isolierung – in diesem Spannungsfeld bewegen sich, wenn ich richtig sehe, bereits die frühen Fotografien – etwa die Gedankenwanderung von 1992 (an den Außenseiten der Treppe im Erdgeschoß), - die ihre überdimensionierend vergrößerten Gegenstände in der Abbildung dekontextualisieren, isolieren und in Doppelbelichtungen des Fotopapiers überblenden und verfremden.

Unter den Schlagwörtern von Überpräsenz und Isolierung wäre zu subsumieren, wenn – wie in den schwarz/weißen Bürstenderwischen von 1994, die im Kellergeschoß zu sehen sind – wenn nahe der Tradition der Optical Art ins Dreidimensionale und ins Holografische spielende Foto-Objekte die groben und dichten Borstenbüschel einer Arbeitsbürste in verwirrend tanzenden Figuren verwandeln. Die Möglichkeit einer isolierten und kontextlosen, lotrechten Aufsicht – in diesem Fall auf die Borsten einer Bürste – in der Reprokamera fotografiert, verleiht dem Detail eine Eigenständigkeit und Präsenz zurück, die es im alltäglichen Umgang mit dem gesamten Gegenstand für uns längst verloren hat. Details werden in diesen Abbildungen für uns plötzlich wieder so wichtig wie für ein Kind – weil sie uns genauso beängstigend übergroß entgegentreten.

„Kind“ war das Stichwort für die Biografie: 1956 wird Ursula Paul in Darmstadt geboren und absolviert nach ihrem Studienabschluß in Germanistik und Politik eine Ausbildung zur Lithographin. In diesem Beruf arbeitet sie auch noch, als sie sich 1987 zu einem Studium der freien Bildenden Kunst an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz immatrikuliert. Nach dem Diplom ist sie an der Mainzer Universität als Zuständige für künstlerische Reproduktionstechniken tätig, seit 1994 Lehrbeauftragte in Mainz für unterschiedliche künstlerische Fragestellungen zwischen Wahrnehmung und Präsentation. Ursula Paul lebt in Frankfurt. Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen zeigten ihre Arbeiten bisher in Wiesbaden, Ingelheim, Frankfurt und Mainz.

Zuständig für Reproduktionstechniken, habe ich gesagt, war Ursula Paul. Nun – in der Tat: Sie zeigt uns hier sehr viele Fotografien. Aber Reproduktionen sind es nicht. Seit längerem hat die beunruhigende Gewißheit sich herumgesprochen, daß Fotografien als – etwa juristische – Beweismittel nicht mehr tauglich sind. Die avancierten Technologien der Computergraphik lassen es schon lange zu, scheinbar naturgetreu abzubilden, was so nie ausgesehen und zu zeigen, was so nie geschehen ist. In der Computersimulation wird sichtbar gemacht, was dem Auge verborgen bleibt. Auf der Fotoplatte erscheint das Geflecht von Adern und Geweben, das uns selber durchzieht. Farblich differenziert hervorgehoben wird der bewußten Wahrnehmung in den Blick gerückt, was im Innern unserer selbst für uns selbst vorbewußt vonstatten geht.

Ursula Paul reflektiert in ihren Arbeiten, was ihre Fotografen-Kollegen vollziehen und mitvollziehen. Die Fotografien, die Sie hier sehen, sind – das habe ich eingangs schon angedeutet – nicht computergrafisch manipuliert. Und dennoch simulieren sie und täuschen die objektive Abbildung vor. Sie manipulieren – nicht die Welt, nicht die abgebildeten Dinge oder die fertigen Fotografien – aber unsere Augen und unsere Wahrnehmungsgewohnheiten. Mit den fertigen Mustern und Bildern im Kopf des Betrachters wird gespielt, und in der Belichtung der Fotoplatte wird der Betrachter hinters Licht geführt.

Es sind – um es altmodisch zu formulieren – Mikrokosmos und Makrokosmos, die hier ineinander überführt und gegeneinander verschoben und ausgespielt werden. Wie Standbilder eines Films, der das Zerfließen und Ineinanderfließen zweier Farben zum Thema hätte, überführt das Treppenbild vom Erdgeschoß zum Ersten Stock (es stammt aus dem Jahr 1992) die rote Farbe ins Blau. Farbtropfen sind dabei, wie Blut unter dem Objektträger eines Mikroskops, unter die Glasplatten ausrangierter Diarahmen gepreßt. Aus jedem Zusammenhang der Umgebung herausgenommen, erscheint der einzelne Tropfen, wie wir das von Blutbildern aus medizinischen Zeitschriften oder sogar aus eigener Erfahrung kennen, wie ein eigenständiges organisches Gebilde, wird präsent wie ein kleines Tier, das sich auf uns zu bewegen könnte: Überpräsenz durch Isolierung.

Überpräsenz – Omnipräsenz – und Isolation sind aber auch die Themen, unter denen heutige Kulturwissenschaftler die mit der fortschreitenden Vernetzung der Welt einhergehenden sozialen Probleme zu beschreiben und in der Folge durch gegenläufige Maßnahmen zu bewältigen versuchen.

Nachdem die Verkehrsnetze von Bahn und Automobil die Stadt ins Land exportiert und die Relevanz von räumlicher Nähe für die Kommunikation relativiert haben, wird vom digitalen Netz der Computer die Globalisierung und Omnipräsenz der Kommunikation bei gleichzeitiger Isolierung des Menschen außerhalb des Netzes – vielleicht vorhergesagt, vielleicht heraufbeschworen. In seinem 250 Seiten starken Essay Telepolis verbreitet der Medientheoretiker Florian Rötzer hörbar rabenschwarze Zukunftsvisionen: „Interaktive und vernetzte Medien“, schreibt er, „werden tiefgreifend in die bereits dem Verfall preisgegebenen, schon von der Urbanität zersetzten Nähe- Verhältnisse eingreifen. Durch die Einrichtung von Telearbeitsplätzen, durch Teleshopping und Telebanking, durch das Abrufen von Informationen und anderen alltäglichen Notwendigkeiten werden sie den Zwang reduzieren, noch nach draußen gehen zu müssen [...]. Individualisierung, die auf Dauer gestellte innenorientierte Entscheidungsaufforderung, zwischen Optionen zu wählen, verträgt sich nicht mit der dauerhaften Bindung an Orte und an Menschen, mit denen man räumlich nahe zusammenlebt. Anders als in der realen body-to-body-Präsenz werden mit den wachsenden Möglichkeiten der tele-Existenz auch die Erwartungen steigen, nicht auf eine Identität festgelegt zu werden, sondern zwischen diesen ebenso zu zappen wie zwischen den Programmen.“

Der Mensch, auf der Suche nach einem Reich, das nicht von dieser Welt wäre, findet sich aufgespalten in eine virtuelle Existenz im Netz und eine reelle körperliche Präsenz. Bei immer mehr Netz-Nutzern (Nutz-Nießern) gesellt sich dem Wohnen im eigenen Heim das Wohnen auf der Home-Page zu. Rabenschwarz malt Rötzer seine Zukunftsvision, ohne die Chancen zu sehen, die die Bejahung einer fragmentierten Identität dem Individuum bietet. Doch dies soll uns an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Wenden wir uns noch einmal den Netzen in den Arbeiten Ursula Pauls zu.

Denn „Netz-Works“ heißt die Ausstellung, die wir heute eröffnen, und eigenen Angaben zufolge liegt der Schwerpunkt der künstlerischen Arbeit Ursula Pauls „in der Auseinandersetzung mit dem Thema der Durchdringung, Vernetzung und Verspannung.“

„Sie müssen sich mit Spinnen beschäftigen“, sagte mir Ursula Paul gestern. Und wie sie es sagte, überstieg es die gute alte feministische Tradition, von der Spinne das Männerfressen zu lernen. Es ist die Faszination für die Perfektion des Neztebauens, die Ursula Paul an die Beschäftigung mit Spinnen und Spinnen-Netzen bindet. „Alles, was wir Menschen machen, ist dagegen Flickwerk“, sagte sie.

Als Raumentwurf hatte es im letzten Jahr begonnen, diese Faszination, hatte begonnen mit der Vitrine, die Sie im Konferenzraum im Kellergeschoß sehen. Hatte begonnen und wurde weitergeführt als Suche nach dieser unnachahmlichen Möglichkeit des Drahtseilaktes auf einem klebrigen, hauchdünnen Faden, auf dem seidenen Faden, an dem das Leben der Spinne hängt wie das Leben dessen, der ihr ins Netz gegangen ist. Wie mit einem Netz umgibt uns Ursula Paul mit ihren Fotoinstallationen in den Bogengängen. Die Kunst verschmilzt in einer Weise mit der Architektur, daß sie als Kunst, traditionell verstanden als Zusatz zur Architektur, kaum noch wahrzunehmen ist, und man – ehe man sich’s versieht – ins Netz gegangen ist. Daß die Arbeiten nur kleine Nummern tragen, aber nicht durch Schilder betitelt und ausgewiesen sind, haben wir mit Absicht gemacht. Die durchweg rahmenlosen Arbeiten, die von sich aus keine Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Kunst und Raum ziehen, sollten sich ganz mit der Raumsituation verbinden und den gesamten Raum zum Netz machen können.

Zu einem Netz dann, das die unsichtbaren und unbemerkten Netze spiegeln könnte, aus denen wir aufgebaut sind, die uns durchziehen oder einfach durchdringen: das Geflecht unserer Gewebe und Gefäße wie die kodierten Signale der Funknetze, Sendebereiche und digitalisierten Radiowellen.

Gerade diese letztgenannten Netze werden in der in meinen Augen besten Arbeit Ursula Pauls wörtlich zum Greifen nahe gebracht und veranschaulicht: Es ist die Arbeit – wie sich das gehört – mit der Nummer 1, der Fotokreis links im Konferenzraum. Auf dreifache Weise wird hier die Abbildung oder Darstellung einer Netzstruktur mit sich selbst überlagert und das Netz in drei Schritten von der Virtualität in die greifbar-räumliche Präsenz überführt. Der Fotokreis nämlich bildet zunächst ein Netz fotografisch ab – das gibt es bei Ursula Paul öfter, im Zimmer des Herrn Kanzler hängen auch solche Fotografien. Die Arbeit im Konferenzraum aber geht weiter. Die Fotos vom Netz sind durch eine Nähmaschine gejagt und so mit einem weiteren Netz überspannt worden. Auch dies gibt es noch öfter, so im ersten Stock in den Sekretariaten. Als dritten Schritt greift das Netz bei der Arbeit im Keller wirklich auf den Raum über – Sie werden das sehen –, da der Fotokreis durch zwischengespannte Fäden mit sich selbst verbunden wird.

Die von den Medientheoretikern vorhergesagte Spaltung des vernetzten Menschen in eine reale und eine virtuelle, auf dem Bildschirm abgebildete Präsenz – und die Überführung der einen Existenz in die andere – wird im Fotokreis vorgeführt. Wie ein Funksignal, das in einem Handy ankommt und durch das Klingeln des Handys ein klassisches Konzert stört, so wird das virtuelle Netz der Abbildung zum realiter präsenten, zum wirksamen Netz, in dem man sich verfangen kann.

Ich möchte Sie nun endlich erlösen und nicht länger sprechen. Gehen Sie und sehen Sie sich die Arbeiten an. Gehen Sie und folgen Sie den Spuren, die die Kunst Ursula Pauls in die Architektur der Räumlichkeiten gelegt hat. Gehen Sie, aber gehen Sie ihr nicht ins Netz! Es könnte sich auch dann noch als tragfähig erweisen. Gehen Sie!

Vielen Dank!

Cornelie Becker