Der Stein der Weisen
Thomas Nicolai. Konstruktionen. Traum von Babel
Cornelie Becker
„Wahr, wahr, ohne Zweifel und gewiß:/ Das Untere gleicht dem Oberen, und das Obere dem Unteren, zur Vollendung der Wunder des Einen./ Und wie alle Dinge aus dem Einen sind, aus der Meditation des Einen, so werden auch alle Dinge aus diesem Einen durch Abwandlung geboren.“
Diese kryptischen Verse aus der Tabula smaragdina, einer allen Alchemisten seit dem Mittelalter wohlbekannten arabischen Weisheitslehre des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts, könnten als Motto und Motiv über dem inneren künstlerischen Antrieb Thomas Nicolais stehen.
Den Traum von Babel ruft Thomas Nicolai uns im Untertitel seines vorliegenden Katalogs Konstruktionen ins Gedächtnis: Konstruktionen im Schatten des babylonischen Turmes.
In einer Zeit ungeminderter technischer Aufrüstung des (Makro)Kosmos und beginnender gentechnischer Manipulierbarkeit der irdischen Mikrokosmen schickt in einer dieser Konstruktionen eine Kunst sich an, an die natürliche Würde nicht-menschlicher Lebenswelten zu erinnern: Was den hierzulande immer grobmaschiger werdenden Kategorien menschlicher Alltagserfahrung zu entgehen pflegt, soll - so jedenfalls schreibt es der Text zum Seerosengenerator - unserer Wahrnehmung kompatibel, für unsere Ohren hörbar gemacht werden.
Und so plant denn Thomas Nicolai eine Maschine. Doch es ist eine besondere Maschine: Die vielfältigen Schichten von Schaltplänen nämlich, deren Folienbilder sich wie anatomische Querschnitte vom Menschen zu einem komplexen Geäst vernetzter Schläuche und kommunizierender Röhren, verbundener Kammern und ableitender Auffangbecken überlagern, täuscht bewußt nicht dauerhaft darüber hinweg, daß der Seerosengenerator nicht funktioniert.
Auf den hybriden Anspruch des Menschen (zu ergänzen jeweils: der abendländischen Zivilisation), die Welt wie ein Gott zu beherrschen, formulieren Nicolais ausgetüftelte Installationen eine doppelzüngige Antwort: Im magischen Simulakrum der Maschine, im nicht funktionierenden, ja strukturell dysfunktionalen Technik-Fake wird der Technik durch sie selbst - in der Übersteigerung ihrer alles durchdringen wollenden Prinzipien - eine Absage erteilt: In der scheiternden Technik wird der Traum vom Scheitern der Technik selber zur Darstellung gebracht.
Noch einmal: Geträumt wird hier nicht vom Eiffelturm, sondern vom babylonischen, und von diesem wissen wir nur eines wirklich sicher: daß er nicht - und prinzipiell nicht - zu realisieren war. Wer, um Gott gleich zu sein, einen Turm bis in den Himmel bauen will, verdient nach der Überlieferung nur, daß die Sprachen sich verwirren und er nicht einmal mehr die Welt versteht. Die Konstruktionen im Schatten des babylonischen Turms erscheinen - in Anlehnung an die magisch-“unwissenschaftliche“ Technik-Rezeption in der Kunst Wladimir Tatlins - als neues Denkmal einer (Dritten) Internationalen, die man erst braucht, wenn das Projekt von Babel gescheitert ist.
So stellt sich auch die Installation Rosenhofkapelle - wie Le jardin, der paradisische „hortus conclusus“, im Namen schon aufgeladen mit Jahrhunderten religiös-literarischer Symboltradition - als Maschine dar, die der Ausrichtung auf Utilitarität und Effizienz entzogen bleibt: Sie produziert nichts als die Ruhe eines zufälligen Betrachters, sie verwandelt nichts, wenn nicht Lebenszeit in Kontemplation, und sie treibt nichts an als sich selbst. Wie das organische Leben ist sie zwecklos, kreist im Zyklus der Jahreszeiten wie die Erde um sich selbst und erschöpft ihren Sinn im eigenen sporadischen Funktionieren.
Die mit einer scheinbaren Funktionalität semantisch aufgeladenen Installationen Thomas Nicolais verbinden die mystische Suche der magischen Alchemie mit Elementen der klassischen Avantgarde. Die komplizierte Konstruktion des Seerosengenerators macht durch die im Text erläuterte künstlerische Intention auf Wert und Würde uns fremder Lebenswelten aufmerksam. Tatsächlich hörbar macht die Maschine sie freilich nicht. Das Kunstwerk liefert nicht im gewohnten akustischen Signal leicht konsumierbare Informationen. In seiner Intention aber verändert es den Menschen so, daß er sich vor dem inneren Ohr selber hörbar macht, was der alltäglichen menschlichen Wahrnehmung verschlossen bleibt. Im Gegensatz zur funktionalen Technik dient die Kunst Nicolais dem Menschen nicht zu seiner Bequemlichkeit, sondern verändert ihn: Die dysfunktionale Maschine wird so zum Stein der Weisen. Alchemie und Konstruktivismus, zwei Strömungen, die auf den Achsen ihrer chronologisch so entfernten Epochen parallel verlaufen, verschmilzt Thomas Nicolai im Unendlichen der Bildenden Kunst.
Der Text erschien zuerst im Druck in: Thomas Nicolai. Konstruktionen. Traum von Babel, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Galerie im Kunsthaus Erfurt, 24. Oktober - 29. November 1997, hg. von der Galerie im Kunsthaus Erfurt, Erfurt 1997, S. 43 - 44.