„Vom Art Nouveau bis Surrealismus - Illustrierte Musikpartituren“
Rede zur Ausstellungseröffnung
Kulturhof zum Güldenen Krönbacken, 6. Juli 1997
Sehr geehrte Damen und Herren,
sicherlich kann man Einiges und sehr Verschiedenes zu den so unterschiedlichen Exponaten dieser Ausstellung sagen. Immerhin überblickt die Schau mit den Ausstellungsstücken einen Zeitraum von nicht weniger als fünf Jahrzehnten. Die ältesten Blätter stammen aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die jüngsten aus den 30er Jahren unseres Jahrhunderts. Ein halbes Jahrhundert Kunstgeschichte – und noch dazu das halbe Jahrhundert, das in fast ganz Europa das jahrhundertealte gesellschaftliche System abschafft und technische Revolutionen ins Werk setzt – bringt so vielfältige Entwicklungen, daß man sie nicht auf die eine Linie einer kurzen Einführung bringen kann. Ich möchte mich deshalb hier auf jenen Punkt beschränken, der uns vor allem auffiel, als wir die Blätter durchsahen, und der mir einen sehr guten ersten Zugang zur Gesamtheit der Ausstellung zu geben scheint.
Die Illustrationen zu Notenausgaben stammen zumeist aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Das sind eben die Jahrzehnte der großen gesellschaftlichen wie der großen, bis heute maßgeblichen ästhetischen und kunsttheoretischen Umbrüche. Dazu gehört nicht nur, daß das Diktat der Innovation mit der Strenge, in der es den heutigen Kunstmarkt steuert, in der Zeit der Ersten Avantgarde in den 10er und frühen 20er Jahren formuliert wurde. Wichtiger im Hinblick auf die Exponate unserer Ausstellung ist die Entwicklung, die die Plakatkunst genau um die Jahrhundertwende nimmt.
Denn was an den Notenausgabe auffällt, ist, daß sie dasselbe Spannungsfeld zu bewältigen haben, in dem auch Plakate stehen: Das Spannungsfeld nämlich, innerhalb der Bilder- und Informationsflut der Schaufensterauslagen oder der Litfaßsäulen einer Großstadt kurz und knapp – das heißt im Wortsinne ‚plakativ’ – über einen Gegenstand zu informieren und gleichzeitig Interesse für den beschriebenen oder beworbenen Gegenstand zu wecken. Suggestive Bildgestaltung soll hier konkretes Kaufinteresse anregen. Auf Plakaten wie auf unseren Notenausgaben sind Namen zu nennen – Namen von Komponisten oder Stücken –, es sind Preise zu nennen und Darsteller oder Instrumentenbezeichnungen aufzuführen. Die nicht unerhebliche Schwierigkeit, Schrift – Wörter, über deren Länge man nicht bestimmen kann – in ein Bild zu integrieren, versucht man durch eine rege Entwicklung neuer Arten von Schriftgestaltung den Griff zu bekommen: Man schreibt mit oder ohne Serifen, wechselt wohl auch zur Fraktur, man schreibt Groteske, Futura und und und. Die Schrift kann so selber zum Bild werden oder – wie auch Beispiele unserer Ausstellung zeigen – als Block neben den figurativen Elementen des Bildes stehen, zum Teil durch einen Rahmen ganz deutlich als bildfremde Information markiert.
Die Reflexion des Spannungsfeldes von Information und werbender Suggestion durch die Plakatkünstler selber wird um die Jahrhundertwende deutlich, wenn der Berufsstand beginnt, bewußt nicht mehr Kunst, sondern Werbung als Kunst machen zu wollen. Zwischen 1900 und 1905 trennen sich Kunst und Werbung definitiv. 1903 gründet sich, als erster Berufsverband der Branche, der „Verein deutscher Reklamefachleute“, die so selber für sich die vorher gebräuchliche Bezeichnung Plakatkünstler aufheben. Daß andererseits Warenplakate seit 1896 als Exponate in kunstgewerblichen Ausstellungen fungieren, zeigt, wie durch Historisierung dieser Gestaltungsart die Werbung als eigene und eigenständige Kunstform reflektiert wird. Sie bleibt Kunstform, wird aber von der „freien Kunst“ getrennt betrachtet und beurteilt. „Angewandte Grafik“ nennt die Fondazione Ragghianti im Vorwort des Katalogs diese Ausstellung.
Zurück zu den Plakaten: Die Designtheorie unterscheidet hier drei verschiedene Gestaltungsarten: das sogenannte Prestige-Plakat, das Sachplakat und das Schriftplakat. Meines Erachtens kann man diese Differenzierung sehr gut auch auf die Exponate unserer Ausstellung, auf die so unterschiedlichen Gestaltungsarten der Notenillustrationen also, anwenden.
Das Prestigeplakat zeigt die in der Abbildung streng typisierten Vertreter einer gesellschaftlichen Schicht im Zusammenhang mit dem Produkt, für das geworben werden soll – die Figuren nutzen dieses Produkt, sind damit bekleidet, rauchen es, essen es und so weiter. Das funktioniert bis heute so auf den Plakaten dieser Machart. Das zu bewerbende Produkt wird sozial verortet und so der Nimbus, der die ausgewählte Gesellschaftsschicht umgibt, auf das Produkt übertragen.
Wir finden genau diese Struktur in unseren Exponaten: Die Ausgabe der „Six Valses“ – also sechs Walzer – von Clérice Frères 1908 geschaffen (Nr.147 des Katalogs) – zeigt eine Festivität, einen Salon. Kleidung, Frisuren und die Räumlichkeit, in den hinein die Szenerie entworfen ist, aber auch die Art der Kommunikation zwischen den abgebildeten Figuren weisen sie als Oberschicht aus. Eine Dame, der ein Herr über die Schulter schaut, spielt Klavier – spielt, so muß man annehmen – eben die Walzer, die in der vorliegenden Notenausgabe zu haben sind. Jeder Walzer, das steht in dem optisch abgetrennten Schriftblock auf dem Titelblatt der Ausgabe, ist erhältlich als Ausgabe für Piano solo, Klavier und Gesang, für Gesang alleine wie für ganzes Orchester mit Klavier als Stimmführung. Die Ausgabe, deren Titelseite wir hier haben, ist die Ausgabe für Klavier und Gesang, Sie sehen: diese Variante ist unterstrichen. Es ist die klassische Situation eines 1908 schon traditionellen bürgerlichen Salons des 19. Jahrhunderts und die klassische Ausbildung der Höheren Tochter – Klavier und Gesang – die hier angeboten wie im Bild dargestellt wird. Bevor man also die Notenausgabe aufblättern und entscheiden könnte, ob die Melodie einem gefällt, welche Stimmlage sie vorsieht, ob man die Kompositionen spieltechnisch bewältigt, wird durch die gesellschaftliche Verortung der ‚angebotenen Ware’ bereits ihr Wert suggeriert. Wer diese Walzer spielt, sagt das Bild auf dem Umschlag, der wird in Gesellschaft keinen Faux-Pas begehen. Die Musik ist salonfähig, man kann durch sie nur gewinnen.
Es muß nicht die Oberschicht sein, deren Nimbus ein Plakat oder eine Notenausgabe zur Werbung und gesellschaftlichen Verortung ausnutzt. Die „Valses Chaloupée“, aus demselben Jahr, nämlich auch von 1908 (Nr.149 des Katalogs), wird als „Großer Erfolg der Moulin-Rouge-Revue“ ausgewiesen und spricht damit ein ganz anderes soziales Umfeld an. Schon der Titel des Walzers weist in diese Richtung durch die Sprachschicht, aus der er genommen ist: ‚Chalouper’ ist ein Slang-Wort und bedeutet hin- und herschaukeln, balancieren. Hier tanzen nicht Herren und Damen, sondern Männer, eigentlich zornige Arbeiter, mit ihren Mädchen. Damit man das sieht, sind die beiden ‚Helden’ der winzigen Bildgeschichte oben links noch einmal gesondert portraitiert. Der Wirt hinter dem Tresen macht keinen sonderlich gepflegten Eindruck, der Raum ist enger und schlichter ausgestattet. Wie auf dem Titelbild der „Six Valses“ wird ein schlüssiges Ambiente entworfen, für das die Musik geschaffen ist, zu dem sie paßt.
Sachplakate demgegenüber stellen nur die benannte Sache in den Vordergrund, das „New- York“-Bild wäre so etwas, was ohne die Gestaltung von Figuren auskommt. Hier ist besonders interessant, wie die Errungenschaften der Technik thematisch in die Gestaltung einbezogen werden: Straßenbahnen, Hochhäuser, Brücken, Autos, die ersten Flugzeuge sind zeittypische und beliebte Themen der Sachplakate.
Schriftplakate oder in deren Stil geschaffene Notenausgaben zeichnen sich dadurch aus, daß die Schrift als Figur in die Bildfläche integriert wird und die Figuren zu geometrischen Formen abstrahiert auftauchen, also die Repräsentation eines Gegenstandes oder eines Menschen durch die Abstraktion im Bild aufgehoben wird. Das Ensemble um diese Kinderliederausgaben entspricht diesem Typus der Bildgestaltung.
Meine Damen und Herren, bei diesen Ausführungen wollte ich es belassen. Man sollte unbedingt, was die Schöpfer unserer Exponate anbelangt, auf eine eigenartige Zweiteilung hinweisen: Sehr viele Ausstellungsstücke sind anonym oder mit nicht entziffertem, also unbekanntem Monogramm signiert, vor allem unter den typischen Jugendstilarbeiten. Die Anonymität weist darauf hin, wie üblich, wie sehr ‚Diskurs’ der Zeit die Arbeiten stilistisch sind. Sie wurden von gelernten Gestaltern in Ateliers hergestellt. Daneben haben sich aber in dieser Kunstform auch Künstler betätigt, die in der Kunstgeschichte einen großen Namen haben. René Magritte, von dem der „tango des aveux“ im Treppenhaus ist, von dem auch die „Chimères“ hier ist, hat zwischen Mitte der 20er und Mitte der 30er Jahre um die 60 Musiktitel geschaffen. Wir haben ein Exponat von Henry van de Velde, den op.11 von Ludwig Hess, von Max Klinger die Gestaltung der Brahmslieder in der Vitrine, von Toulouse-Lautrec die Zeichnungen der Dame am Tisch und das Blatt „L’Entoleuse“, von Pierre Bonnard den Leutnant, von Picasso den Spielmann in der Vitrine und die Gitarre auf den poèmes de Ronsard, von Dalí den Spielmann daneben, deutlich signiert und so weiter, das heißt, obwohl es angewandte Grafik, oft sicherlich Auftragswerke waren, haben sich auch ‚freie Künstler’ mit dem Thema der Notenillustration beschäftigt.
So weit meine Hinweise, ich möchte Sie nicht länger vom eigenen Schauen und Entdecken abhalten. Zwei Worte noch zum Dank: Wir sind den Mitarbeiterinnen des Krönbacken, besonders Frau Jörg, zu großem Dank verpflichtet. Sie hat uns über die Woche verteilt jeden Tag unermüdlich zur Seite gestanden und uns darüber hinaus viel Arbeit abgenommen. Ohne ihre Mitarbeit und Hilfe hätten wir anderweitig Berufstätigen die Ausstellungsarbeit nicht ohne weiteres bewältigt. Unser sehr großer dank gilt auch Herrn Frey von der Galerie am Fischmarkt, der uns nicht nur mit seiner in langen Jahren der Galeriearbeit erworbenen ästhetischen Kompetenz und praktischen Fähigkeit beim Hängen der Bilder beratend und tatkräftig zur Seite stand, sondern vor allem zusammen mit Frau Jörg mit seinem Bus’chen die Vitrinen des Kunsthandwerkerverbandes aus der Thüringenhalle in den Krönbacken gebracht hat. Dank natürlich auch der Vorsitzenden dieses Kunsthandwerkerverbandes, Frau Kaiser, die sich unserer Belange angenommen und uns die Vitrinen zur Verfügung gestellt hat. Frau Dr. Lindemann natürlich, die im Vorfeld die Organisation der Ausstellung mit in die Hand genommen und auch während des Aufbaus in der vergangenen Woche begleitet hat. Wir danken Herrn Spartaco Pitonti, dem Capo des Ristorante Paganini aus der Eugen-Richter-Straße in Erfurt, der uns heute gratis ein so wunderbares Buffet gezaubert hat. Alle, die diese Ausstellung mit Genuß betrachten, sind nicht zuletzt dem Ehepaar Draganovic zu Dank verpflichtet, die auf eigene Kosten und Nervenaufwand die Ausstellung – mit allen Formalien, die es gerade in Italien mit sich bringt, wenn man Kunstschätze außer Landes transportiert – aus Lucca nach Erfurt geholt haben und sie auch wieder zurückbringen werden.
Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Vormittag und danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Cornelie Becker