Mit der Wachheit der Sinne - aus der Tiefe der Stille
Rede zur Eröffnung der Ausstellung mit Werken von K.H. Bastian - B. Debus - M. Ernst - E. Franz - C. Hartung - M. Kühn-Leihbecher
KUNSTPavillon Eisenach, Freitag, 18. März 2016, 19 Uhr
Lieber Peter Schäfer, liebe Künstlerinnen und Künstler, sehr geehrte Damen und Herren,
der Kunstpavillon Eisenach ist innen größer als außen! Das fiel uns beim Aufbau der neuen Ausstellung auf - denn wir können 60 Werke von den sechs Künstlerinnen und Künstlern zeigen, die sich 2014 in einer Projektgruppe des Verbandes Bildender Künstler Thüringen zu einem gemeinsamen Ausstellungvorhaben zusammengefunden haben. "Mit der Wachheit der Sinne - aus der Tiefe der Stille" lautet der assoziationsreiche Titel - und er bildet das Programm zu einer Werkschau, die Holzskulptur und Metallgestaltung, Papierarbeiten und Tafelbilder vereint.
Was verbindet die sechs Künstlerinnen und Künstler? Studienkollegen sind es ja nun definitiv nicht. Vom Altersspektrum und von der Ausbildung her, von der Wahl ihrer Materialien und der künstlerischen Mittel her möchte man fast sagen, sie könnten unterschiedlicher nicht sein.
Und dennoch hat Karl-Heinz Bastian, der die Ausstellung konzipiert und in weiten Teilen kuratiert hat, diese speziellen Kolleginnen und Kollegen nicht ohne Vorbedacht angesprochen. Ich möchte die Werke der einzelnen Künstlerinnen und Künstler vorstellen, indem ich ein größeres Thema anhand der Exponate diskutiere: Die Frage nämlich nach der spezifischen Leistung der Bildenden Kunst innerhalb der Schönen Künste und in Abgrenzung zum intellektuellen Diskurs.
Ein Riesenthema - werden Sie denken - was maßt sie sich an? Natürlich kann ich das Thema an dieser Stelle nicht annährend erschöpfend bearbeiten. Aber die Frage formulieren, das Problembewußtsein schärfen und einige Argumente zusammentragen, das kann ich anhand dieser Ausstellung hier besonders gut. Um nun ein bißchen genauer zu erklären, was ich meine, greife ich als Beispiel die beiden Skulpturen und das Relief von Beate Debus heraus möchte damit aber ein Prinzip erläutern, das ich in allen hier vertretenen Arbeiten "am Werk" sehe.
Schauen wir also die beiden Skulpturen und das Wandrelief von Beate Debus an. Alle drei Werke heißen "Tanz" und das ist für meine Argumentation sehr gut so: "Opfertanz", "Exzentrischer Tanz" und "Konzentrischer Tanz". Das sind bei weitem nicht alle "Tänze", die die Künstlerin geschaffen hat - die Kataloge liegen aus, Sie können sich im Laufe des Abends davon überzeugen.
Die Arbeiten mit dem Titel "Tanz" umkreisen das Thema von Bewegung im Raum - von Raum einnehmen und Raum geben. Wie man an der farblichen Gestaltung der Werke sieht, sind es - obwohl aus einem Stück geschaffen - zwei Körper, die hier miteinander ringen, sich umkreisen, sich stützen oder frei geben, sich halten oder voneinander weg streben. Wenn Beate Debus in einem ganzen Werkzyklus immer wieder das Thema zweier Körper im Raum bildkünstlerisch reflektiert, erschließt sich das Wechselspiel von stützen und schweben, tragen und getragensein, festhalten und freigeben ohne sprachliche Erläuterung. Auf unnachahmliche Weise wird hier das Typische der Bewegung in einer Figurenkonstellation so herausgearbeitet, daß das Wesentliche daran sichtbar wird und übertragbar wird - die Skulpturen spiegeln häufig nicht nur die körperliche Bewegung im Raum, sondern darüber hinaus die psychische Interaktion zweier Charaktere, das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein polarer charakterlicher Dispositionen - Halt geben, Halt brauchen. Der Tanz zweier Körper im Raum wird zur Chiffre psychischer Vorgänge, was im Werk von Beate Debus denn auch ganz schlüssig dazu führte, daß ein umfangreicher Werkzyklus zum Thema Kopf entstand - Bewegung im Kopf wird als Ausgangspunkt und Steuerung der Bewegung der Körper sichtbar und nachvollziehbar gemacht - sowie anschließend ein großer Werkzyklus zum Thema des geöffneten Körpers.
Viele von Beate Debus Skulpturen also heißen "Tanz", viele heißen "Kopf", viele umkreisen das Wort "corpus" in ihrem Titel. Wie viele von Karl Heinz Bastians Durchlichtbildern oder Ölmalereien aber heißen "Kontemplation"? Das geht von I bis XX mindestens. Wie viele von Cordula Hartungs Werken heißen ganz allgemein "Farbfelder" oder "Überlagerungen", "Fraktale Struktur", "Transformation"? Die Werktitel, so hat es den Anschein, dienen eher dazu, die Arbeiten im eigenen Archiv, in den Katalogen und Exponatelisten zu unterscheiden. Sie gehen dem Schaffensprozeß nicht voraus, weil dieser sich viel zu intuitiv vollzieht, um bereits in Sprache faßbar zu sein. Die Titel, die den Werken zuletzt verliehen werden, wollen daher nicht und müssen auch nicht den Zugang zu einzelnen Werken für den Betrachter erleichtern. Das Fehlen der individuellen Werktitel deutet hier nicht auf das Fehlen einer Idee, sondern im Gegenteil darauf, daß sie als Werke der Bildenden Kunst ohne sprachliche Erläuterung auskommen. Das Gefühl, das das künstlerische Schaffen angetrieben hat, wird hier in einer Weise künstlerisch zum Ausdruck gebracht, die dieses Gefühl dem Betrachter direkt und im Idealfall richtiggehend körperlich mitteilt - denken Sie etwa an das Überwältigtsein von einer Farbwirkung - in den farbigen Japanpapierbildern Cordula Hartungs, in den wie von innen heraus leuchtenden Farbschattierungen Elvira Franz', in den von der Wirkung von Kirchenfenstern inspirierten Durchlichtbildern Karl-Heinz Bastians. (Entsprechend für die anderen Künste die Ergriffenheit durch eine bestimmte Musik, die schlagartige Erkenntnis durch eine genau richtige Formulierung in einem lyrischen Text.)
Die Werke, hatte ich gesagt, kommen ohne Erläuterung aus, weil sie mit den originär bildkünstlerischen Mitteln auszudrücken vermögen, was gezeigt werden soll. Das ist wichtig. Denn einer der Ausgangspunkte für das Ausstellungsprojekt von Karl-Heinz Bastian waren Irritationen angesichts künstlerischer Exponate, die etwa mithilfe auf die Wand aufgebrachter, losgelöster Sätze einen Scheindiskurs eröffnen, der auf erläuternden Schrifttafeln u.U. noch einmal gedoppelt wird. Der Denkanstoß tritt in solchen Fällen an die Stelle künstlerischer Antworten, die die argumentierende Rede ja eigentlich hinter sich zu lassen und das zu Sagende eben mit den Mitteln der Bildenden Kunst zu formen und zu formulieren hätten.
Wesentlich für die Sichtbarmachung einer ganz bestimmten künstlerischen Fragestellung im künstlerischen Werk ist - in einer Zeit, in der das nur Visuelle immer mehr zum nur Virtuellen zu verkommen droht und man Bilder im Wortsinne vom Tisch - vom Tablet - wischen kann wie ein lästiges Staubkorn - wesentlich für die Sichtbarmachung eines ganz bestimmten künstlerischen Erkenntnisinteresses im künstlerischen Werk ist die Wertschätzung und die mußevolle Bearbeitung des künstlerischen Materials, ist selbstverständlich die vollkommene Meisterschaft im Handwerklichen und ist die Kommunikation zwischen Künstler und Werkstoff im Schaffensprozeß. Damit ein Werk eine Idee seines Schöpfers sichtbar machen kann, muß das Material durchdrungen worden sein, muß etwas wie eine innere Vereinigung von Künstler und Material stattgefunden haben.
Das klingt esoterisch, ist aber wohl einfach die Beschreibung dessen, was im künstlerischen Schaffensprozeß passiert. Bei Beate Debus ist es das Hineingehen in den intakten Baumstamm - die Skulpturen sind aus einem Stück und lediglich zur besseren Lesbarkeit gebrannt bzw. mit Schlämmkreide geweißt - bei Michael Ernst ist das die Auseinandersetzung mit dem Stahl - um nicht gleich zu sagen, mit dem Element Feuer. Das Schmieden ist die Gratwanderung zwischen dem Verbrennen des Stahls und der Erstarrung des erkaltenden Werkstücks. Das Demiurgische, Weltenschöpferische hat im Schmiedehandwerk seit alters her seine feste Verkörperung gefunden. Hier wird erkennbar - und für den Betrachter dennoch eigentlich unglaublich - Materie bezwungen, wie man so schön sagt - und doch ist es der schaffende Mensch, der sich den Eigenheiten der Materie unterordnen muß, um sie beherrschen zu können. Rhythmische Bewegung im Raum auch hier: Der im Schmiedefeuer erhitzte Stahl wird zum Knoten gewunden wie ein Tuch. Der Inbegriff des Harten wird in die schmeichelnde Form gezwungen, wie sie eigentlich nur ein Tuch, der Inbegriff des Weichen und Anschmiegsamen, einnehmen kann. Mit der Kraft eines Hebels - der durch den größeren Abstand zum Werkstück den Schmied auch vor der über 1000 Grad hohen Hitze schützt - mit der Kraft des Hebels werden zentimeterstarke Stahlarme gefügig gemacht und erstarren in der fließenden Bewegung.
Cordula Hartung richtet ihren Werkstoff, häufig Japanpapier, in vielen Arbeitsschritten zu, bis das gefärbte, gewachste, gebügelte, ein zweites Mal gefärbte, in Streifen gerissene und neu zusammengesetzte Material die Farbe und Haptik so in Szene setzt, wie die Künstlerin es vor ihrem inneren Auge vorhergesehen hat. Sie sehen, wie in der "Transformation", aber auch im "Feldversuch" und den "H-und V-Quadraten" die gegenläufigen oder querstehenden Fließrichtungen des Papiers die abschattierten Farbverläufe gegeneinander führen. Das Werk von Cordula Hartung, das sein Material meines Erachtens am besten inszeniert, sind zwei acht Meter lange und 30 Zentimeter schmale Bahnen mit aufgetackerten Papierstreifen aus dem Aktenschredder. Die geschredderten Papiere wirken mit ihrer Kräuselung wie viele viele Haare - die Papierbahnen hängen von der Wand und erstrecken sich in den Raum wie zwei lange Flockati-Teppiche. Die Arbeit von 1991 heißt "Schwarze Seele, weiße Weste und dazwischen Aktenreste" - 1991 natürlich ein unglaublich witziger Titel, aber kein Titel, den das Werk bräuchte, um auf den Betrachter zu wirken. Visuell und haptisch verständlich ist es unmittelbar.
Schauen wir auf die Werke, die den Begriff der Schöpfung schon in der Entstehung des Materials mit sich bringen: Die handgeschöpften Papiere von Marita Kühn-Leihbecher. Die Kommunikation mit dem Material ist hier dem Schaffensprozeß ebenso eingeschrieben, wie wenn Beate Debus sich einem Baumstamm nähert. Selbst Papier zu schöpfen, ist für Marita Kühn-Leihbecher die Grundlage ihrer künstlerischen Arbeit mit Papier überhaupt. Die Entscheidung für die künstlerische Technik kann nicht dem Inhalt der Arbeit vorausgehen, denn indem sie ihr Material von Grund auf selbst erschafft und so die Haptik, die Stärke und damit die mögliche Transparenz, die Dichte des Papiers, seine Farbe selbst bestimmt, entsteht der Inhalt der Arbeit zugleich mit der Form, ist die Idee mit der Gestaltung des Materials untrennbar verbunden. Eine engere Kommunikation zwischen Künstler und Material ist kaum vorstellbar, als wenn das Material als Teil des künstlerischen Schaffensprozesses überhaupt erst hergestellt wird. Ist die Entscheidung gefallen, ein Papier zu lassen, wie es ist, treten weitere Elemente wie Wollfäden hinzu und es entstehen Collagen aus Papierschichten, die mehr oder weniger transparent, überlagertes Material durchscheinen und erahnen lassen. Farben schreiten die Fläche aus, gestalten den Bildraum, teilen oder spiegeln ihn, lassen Bewegung und Ausgleich spürbar werden.
Die Spiegelungen sind auch eines der Gestaltungsprinzipien in den Bildräumen von Elvira Franz. Vielleicht in bewußter Anspielung auf die seriellen Arbeiten Richard Paul Lohses, spielt sie mit Farbabstufungen in Bildräumen, die sie durch organisch geschwungene Linien strukturiert hat. Das Organische ist denn auch bereits der Unterschied zu Richard Paul Lohse, dessen konkrete Kunst sich immer strikt an die Berechenbarkeit der geraden Linie und der rechteckigen Fläche gehalten hat. Elvira Franz geht - wie sie selbst sagt - im Fall der dreiteiligen "Überlagerungen" ursprünglich von der Sinuskurve aus. In organischen Wellen durchschneiden sich querlaufende Kreissegmente und teilen gleichförmige Flächen ab. Im harmonisch eng gehaltenen Farbverlauf moduliert sie im Farbspektrum vom Roten über das Blaue ins Türkisgrüne hinein - vom fast weißen Rosé ins satte Blutrot und vom horizonthellen Bleu ins tiefdunkle Nachtblau. Grellweiße oder sehr helle Flächen im Zentrum anderer Werke wie in "Bewegtes Licht - wandernde Schatten" oder dem "Großen Gelben" lassen die Bilder wie von innen heraus leuchten. Wie das auch Cordula Hartung und Karl-Heinz Bastian für die eigene Arbeitsweise beschreiben, läßt Elvira Franz ein Werk lange liegen oder stehen, bis intuitiv gewußt wird, wo die Arbeit hingehen soll. Elvira Franz übermalt wieder und wieder - und stets mit der größten Sorgfalt - bis die Farbverläufe so gleichförmig im Bild erscheinen, wie wir das hier beobachten können. Die Wirkung dieser intensiven Arbeit läßt nicht auf sich warten: Die Bilder ziehen den Betrachter unmittelbar in ihren Bann.
Betrachten wir noch ganz kurz die Arbeiten Karl Heinz Bastians. Er hört es nicht gern, wenn man seine Werke als konkrete Kunst bezeichnet. Das Ausloten des Bildraums durch Farbe und Fläche, ja die reine Inszenierung der Proportionen legt den Gedanken an die konkrete Kunst nahe - was die Durchlichtbilder betrifft, sogar ganz deutlich an die Bewegung des De Stijl und die Arbeiten Piet Mondrians. Doch fällt auch hier auf, daß das Farbspektrum, das Mondrian ja streng auf Rot, Blau, Gelb und Weiß zwischen schwarzen Linien beschränkt, bei Karl-Heinz Bastian viel weiter ist. Mischfarben haben hier den Vorrang vor den reinen Farben, die Flächen selber tönen, wenn auch zum Teil kaum merklich, ins Dunkle ab oder hellen sich auf - wie in den Arbeiten von Elvira Franz organisch, Schritt für Schritt, manchmal unmerklich. Die Flächen sind häufig in geschwungenen Grenzen gefaßt. Was die Werke aber vor allem von der konkreten Kunst unterscheidet, ist die Arbeitsweise des Künstlers. Achten die konkreten Künstler bewußt auf die Berechenbarkeit und Meßbarkeit ihrer bildnerischen Mittel, so arbeitet Karl-Heinz Bastian intuitiv. Als Teil der Schöpfung hat der Mensch, hat der Künstler Teil an den Naturgesetzen. Das Kunstwerk, an dem Karl-Heinz Bastian arbeitet, bis die äußere Form mit dem inneren Bild zur Deckung gebracht ist, wird, gerade weil es aus den Tiefen der Intuition erschaffen wurde, die äußere Welt sichtbarer machen. "Inmitten des Schweigens ward mir zugesprochen ein verborgenes Wort" - dieses Zitat des spätmittelalterlichen Mystikers Meister Eckart war lange der Arbeitstitel für das Ausstellungsvorhaben, das heute (nach Kleinsassen) zum zweiten Mal in ganz eigener Form realisiert wurde.
Aus der überfließenden Bejahung der Welt - und das gilt jetzt wieder für alle hier versammelten Künstler - entstehen Werke, die sich der Kontemplation erschließen. Die Arbeiten speichern Zeit, die Zeit, die es brauchte, um sie zu erschaffen - und sie verschenken diese Zeit in der ruhigen Betrachtung an den Besucher weiter. (Dabei kommt natürlich den ruhig ausschwingenden kinetischen Kunstwerken von Michael Ernst eine besondere Bedeutung zu.) So setzt diese Ausstellung in der "Smartphonegesellschaft" einen Kontrapunkt gegen Eventkultur und Effekthascherei, gegen die virtuelle Bilderflut und gegen Arbeiten, in denen die intellektuelle Erklärung einer Schautafel die ergreifende Evidenz der Kunst zu ersetzen versucht. Ich wünsche der Ausstellung viel Erfolg - tatsächlich gerade auch mit Schulklassen. Ich glaube, die Kunstwerke haben den Jugendlichen jede Menge mitzuteilen.
Die Biographien der beteiligten Künstlerinnen und Künstler entnehmen Sie bitte dem kleinen Katalog, den die Kunststation Kleinsassen herausgegeben hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar