Moment im Fluß der Zeit

Bereits 2016 ist die Ausstellung "Mit der Wachheit der Sinne - aus der Tiefe der Stille" der Projektgruppe des Verbandes Bildender Künstler Thüringen um den Projektinitiator, den Weimarer Maler Karl Heinz Bastian, vom 17. Januar bis 13. März in der Kunststation Kleinsassen (hessische Rhön) und vom 18. März bis 8. Mai im Kunstpavillon Eisenach zu sehen gewesen. Das Konzept der Ausstellung mit Werken der von ihren Materialien und künstlerischen Positionen her so unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstlern Karl Heinz Bastian (Malerei), Beate Debus (Holzbildhauerei und Graphik), Michael Ernst (geschmiedeter Stahl und kinetische Objekte), Elvira Franz (Malerei), Cordula Hartung (Papierobjekte) und Marita Kühn-Leihbecher (Collagen aus handgeschöpften Papieren) schien allen Beteiligten jedoch so tragfähig, daß für das Jahr 2018 noch einmal eine Wanderausstellung mit zum Teil neueren Werken derselben Künstlergruppe konzipiert wurde. Wir freuen uns, daß diese Arbeiten nun vom 3. März bis 6. Mai 2018 im Wasserschloß Klaffenbach bei Chemnitz, vom 23. Juni bis 2. September 2018 im Kunsthaus Meyenburg Nordhausen und vom 16. September bis 18. November 2018 im Quellenmuseum Bad Wildungen erneut in verschiedenen Bundesländern zu sehen sein werden.

Verschiedene Publikationen erschienen bereits 2016 zum Ausstellungsprojekt, so zunächst eine Broschüre mit den konzeptionellen Texten des Initiators Karl-Heinz Bastian und einführenden Texten in die Arbeit der einzelnen Beteiligten.[1] Nach Abschluß der ersten Ausstellungsphase stellte dann der Leipziger Fotograf Gustav Franz einen mit informativen Texten unterlegten knapp 20minütiger Rundgang durch die Ausstellung auf YouTube ins Netz.[2]

Um eine Dopplung der bereits vorliegenden Interpretationen zu vermeiden, möchte ich an dieser Stelle die Momentaufnahme in der fließenden Bewegung als roten Faden dieses Ausstellungsprojekts herausstellen.

Ganz explizit macht dies Karl Heinz Bastian für seine Malerei. Er sieht jedes seiner Kunstwerke als Ausschnitt eines Schaffensprozesses - als zeitliche und räumliche Zäsur im ständigen Fluß des lebendigen Werdens und Sich-Entwickelns, als Teil einer größeren Gestalt. Seine Arbeiten können nach allen Seiten über den Bildrand hinaus weitergedacht werden. Sie sind Haltepunkte in einem Arbeitsprozeß, der immer wieder Neues, aber auch immer wieder Variationen einer bestimmten Formentwicklung hervorbringt. Wenn Karl Heinz Bastian die Ideen von "Keim" (z.B. 1986), "Wachstum" (z.B. 1995) und "Verwandlung" (z.B. 2011/17) sowie die "Konstellation" (z.B. 2008) unterschiedlicher farblicher und formaler Impulse im Bildraum sichtbar macht, suchen seine Arbeiten stets nach der Balance von häufig um ein Zentrum herum wachsenden Formen. Jede Symmetrie wird dabei selbstverständlich vermieden: Arretierte Waagschalen tarieren nicht. Balance ist ein Akt der Freiheit und muß in jedem Moment neu errungen werden. Symmetrie schreibt die Formen fest und muß jeden 'Auswuchs' sofort zurückstutzen. Die Formen in den Werken Karl Heinz Bastians aber entwickeln sich gedanklich ständig weiter und finden ihren Ausgleich nicht im identischen Pendant, sondern im Zusammenwirken aller Farben und Formen eines Bildraums.

Daß das oft langwierige Austarieren der Formen, der Farbwahl, des Sättigungsgrades und der Farbverläufe intuitiv vonstatten geht, unterscheidet Bastian von den Schöpfern Konkreter Kunst. Seine Inszenierung der Farben und der Verhältnisse von Fläche und Linie im Raum verschwistern seine Werke zwar der Konkreten Kunst, sie sind jedoch in keiner Weise durch die Berechenbarkeit und Meßbarkeit der bildnerischen Mittel entstanden. Bastian inszeniert autonome Formen, deren relative Gestalt im Prozeß der Bildfindung jeweils ausgehandelt wird.

Auch im Werk der Holzbildhauerin Beate Debus tritt uns die Idee der Momentaufnahme aus dem Fluß der Bewegung schon in den Titeln entgegen: Eine ganze Reihe von Werktiteln lautet auf einen jeweils näher bestimmten "Tanz" (z.B. 2013), andere Skulpturen versinnbildlichen weitere Bewegungen: "Überbeugen" (2015). Obwohl stets aus einem einzigen Baumstamm herausgesägt, macht jedes Kunstwerk durch die farbliche Fassung in Schwarz und Weiß (entstanden durch das Abflämmen bzw. Einschlämmen des Holzes) deutlich, wie hier zwei Gestalten zusammen- oder einander entgegenwirken, sich umschlingen oder aneinander vorbei existieren. Es geht um Fallen und Stützen, um Halten und Schützen, um Fangen und Freigeben, um Standhaftigkeit und Schwäche. In jedem Fall balancieren in diesen Skulpturen - oder ihren zweidimensionalen Entsprechungen, den Vorarbeiten in Graphik und Prägedruck - polare Kräfte einander aus. Das Thema dieses gesamten Werkzyklus, der die Künstlerin seit über einem Jahrzehnt beschäftigt, ist die Bewegung im Raum, die verschiedene Dispositive sozialer Koexistenz sichtbar macht. Ausstellungen, in denen ein Mensch die Skulpturen tanzt oder eine der Arbeiten punktuell nachstellt, [3] zeigen, wie genau das Typische eines Bewegungsmusters in den "Tänzen" von Beate Debus herausgearbeitet ist - und daß die Skulpturen Momentaufnahmen einer weiterfließenden Bewegung darstellen.

Daß der Ursprung dieser körperlichen Dispositive in charakterlichen Eigenheiten und individuellen psychischen Vorgängen liegt, ja, daß die widerstreitenden Kräfte auch in einem einzigen Menschen gegeneinander arbeiten können, hat vor etwa zehn Jahren einen weiteren großen Werkzyklus von Beate Debus angestoßen. Er umkreist das Thema Kopf. Rundgewölbte Stirnen, farblich maskenhaft abgesetzte Augenpartien oder verschobene Gesichtszüge verweisen auf die innere Erregung, die der Ursprung äußerlich wahrnehmbarer Aktivität ist. In der Überzeichnung mimischer Vorgänge schaffen die Werke den Spagat zwischen höchst individueller Form und überindividueller, typisierender Gestaltung.

Die kinetischen Skulpturen von Michael Ernst tragen die Bewegung - kinesis - schon im Namen. Sie sind potentielle Bewegung und jede Auslenkung aus dem Gleichgewicht eine Momentaufnahme ihrer Möglichkeiten. Bereits frühe Windspiele für den Außenraum wie "Zugvögel" oder "Vogelzirkus" (2003/2010 bzw. 2009)[4] veranschaulichen das Wirken der Naturgesetze, indem der Wind die Figuren bewegt, ein tiefgelagerter Schwerpunkt den Aufbau stabilisiert und die Skulptur nach jeder Auslenkung ausschwingend ins Gleichgewicht zurückfindet. Neben fragilen Mobiles, in denen die Auslenkung eines Armes alle anderen mit bewegt, entwickelte Michael Ernst seine kinetischen Kunstwerke weiter bis zu komplexen Klangskulpturen wie "Astrophone" (2010), "Nautilus" (2015/16), "Cycle II" (2016) oder "Kosmos VIII (2017). Sie sind um mehrere Achsen herum auslenkbar, deren Bewegungen sich wiederum untereinander beeinflussen. Die Werke scheinen Planetenbahnen zu simulieren oder einzelne Arme rühren Klangschalen an. Das Zusammenwirken der senkrecht zueinander angeordneten Flügel der Skulpturen offenbaren dem Betrachter im Umkreisen der ruhenden Figur wie in der Auslenkung ihrer Teile immer neue Formbezüge der Flächen im Raum.

Auch die nicht beweglichen Metallplastiken Michael Ernsts, in dieser Ausstellung "Knoten II" (2006) und Arbeiten der neuen Serie "Nexus" (2017), stellen Momentaufnahmen von Bewegung dar. Denn das Schmieden ist, wie der Künstler selbst sagt, immer die Gratwanderung zwischen dem Verbrennen des Stahls und der Erstarrung des erkaltenden Werkstücks. So sind die "Knoten" rhythmische Bewegung im Raum: Der im Schmiedefeuer erhitzte Stahl wird verschlungen wie ein Tuch. Mit der Kraft eines Hebels werden zentimeterstarke Stahlarme gefügig gemacht und erstarren in der fließenden Bewegung. Aber wenn hier Materie 'bezwungen' wird, ist es doch der schaffende Mensch, der sich den Eigenheiten der Materie unterordnen muß, um sie beherrschen zu können. Nicht zuletzt verraten die "Wings" (2006) sowie die Wandreliefs "Steinwerfer" und "Steinzuträger" (beide 2014) die Momentaufnahme einer Bewegung, die den Figuren mitgegeben ist.

Auch wenn Werktitel wie "Bewegtes Licht - wandernde Schatten" (2015) von Elvira Franz ihren Arbeiten meist erst nachträglich verliehen werden, machen sie für den Betrachter doch die Empfindung nachvollziehbar, die im Schaffensprozeß bestimmend gewesen sein muß: Auch die seriellen Arbeiten von Elvira Franz können unter dem Aspekt der Momentaufnahme in einer fließenden Bewegung beschrieben werden. Die intuitiv und mit oft langen schöpferischen Pausen im Arbeitsprozeß entstehenden Bilder zeigen gegeneinander verschobene Farbverläufe in geometrisch angelegten, zum Teil mehrfach achsengespiegelten Flächen, deren geschwungene oder ellipsoide Begrenzungen sich untereinander schneiden und so viele Reihen kleiner Bildabteilungen entstehen lassen. Diese kleinen trapezförmigen Flächen werden farblich derart abgetönt, daß sich in jeder Richtung ein organischer Farbverlauf in den benachbarten Feldern ergibt. Immer wieder mündet ein Farbverlauf in ein strahlendes, ja gleißendes Weiß, das von innen aus dem Bildraum hervorzuleuchten scheint und den Betrachter wie der Vorschein einer anderen Welt in seinen Bann zieht (vgl. "2006-04-08", 2006).

Von Arbeitsweisen der seriellen Konkreten Kunst unterscheidet sich das künstlerische Vorgehen bei Elvira Franz wiederum (wie wir das auch für Karl Heinz Bastian festhalten konnten) durch die Intuition, der in Bildfindung und Ausgestaltung der Werke der Vorzug vor der Berechenbarkeit der bildnerischen Mittel eingeräumt wird. Auch Elvira Franz inszeniert autonome Formen, die im Dialog mit und in Abgrenzung von ihrem bildnerischen Umfeld ihre spezifische Bedeutung erlangen.

Die drei Parameter von Farbton, Helligkeitswert und Sättigung stehen der Künstlerin für ihre Verwandlungen und Farbrhythmen zur Verfügung. Sie kommen auch in "Stufen I und II" (2008/2017) und in der "Romanik"-Serie (2012 bzw. 2016) zum Tragen, die tatsächlich in der Architektur romanischer Basiliken entstanden und im scheinbaren Blick zwischen den Säulen in Kirchenschiff oder Krypta die Illusion einer räumlichen Tiefe erzeugen. Während die gegenstandslosen seriellen Bilder Elvira Franz' bewußt die Kunstgriffe der Perspektive unterlaufen, um die gemalte Fläche wieder als Fläche erfahrbar zu machen, nutzen die Werke etwa der "Romanik"-Reihe für ihre Wirkung das kulturell erworbene Wahrnehmungsmuster der Perspektive. Verjüngung und Verkürzung der Formen treten zu den bildnerischen Mitteln bestimmter Farbverläufe hinzu, um dem Bildraum die Tiefenwirkung der dreidimensionalen Architektur zu verleihen.

Cordula Hartung und Marita Kühn-Leihbecher sind die beiden Künstlerinnen, die in der Ausstellung "Mit der Wachheit der Sinne" Arbeiten aus Papier und Stoffen zeigen. Beide stellen oder richten ihren Werkstoff im Schaffensprozeß erst selber her: Marita Kühn-Leihbecher, indem sie das Papier schöpft (s.u.) - Cordula Hartung, indem sie das Japanpapier in vielen Arbeitsschritten färbt, wachst, bügelt, ein zweites Mal einfärbt, in Streifen reißt und im Bildraum neu zusammensetzt. Auch sie bearbeitet ihr Ausgangsmaterial so lange, bis es Farbe und Haptik optimal in Szene setzt. Gegenläufige oder quer zueinander stehende Fließrichtungen des Papiers führen die abschattierten Farbverläufe gegeneinander. Immer wieder hat Cordula Hartung diese Technik in ihren Werken variiert, so bereits in "Transformation" (1999). In der aktuellen Ausstellung sind es beispielsweise das Werk o.T. (2009) und "Feldversuch II" (2007) sowie die Werkpaare "Fließende Zeit I und II" und "Bio-Rhythmus" (alle 2008), die dem ausfransenden Papier in seinen unzähligen Faltungen und Schattierungen eine geradezu körperliche Präsenz verleihen. Die Künstlerin selber vergleicht die formal gleiche, farblich aber schillernde und abwechslungsreiche Wiederholung der Papierstreifen einer "unendliche(n) Bewegung zwischen imaginären Polen".[5]

Auf die vergehende Zeit und ihre Spuren im Werk Cordula Hartungs verweisen nicht nur die vielen Werke, die "Zeit" und "Spuren" direkt in ihrem Titel tragen. Auch Arbeiten wie "Zwischen den Zeilen" (2009) setzen in ihren rhythmisierten Reihen von Lacktropfen den Verlauf einer Geschichte, die Zeitlichkeit von Sprache und Schrift, den Ablauf der Zeit ins Bild. Kleine Tropfengruppen bilden die Morpheme einer unbekannten Zeichensprache. In ihrer immer wieder organisch abnehmenden Stärke lassen sie an die regelmäßigen Betonungen gebundener Sprache oder an das Atemholen der Erzählenden denken. In der Gestalt der Lacktropfen assoziiert man vielleicht sogar die Umsetzung der Sprache in die punktuellen und rhythmisierten Signale des Morsealphabets. Die Bildausschnitte der wiederum zugleich gleichförmigen wie in sich abwechslungsreichen und rhythmisch gestalteten Reihen weisen über ihre Grenzen hinaus auf die unendliche Erzählung, deren Teil wir sind. Sie sind Momentaufnahmen der fließenden Bewegung von Zeit und Sprache.

Für die Annäherung an das Werk von Marita Kühn-Leihbecher eröffnen sich prinzipiell zwei Wege: der Weg über die Inhalte und Themen der Arbeiten wie der Weg über die formale Gestaltung der Collagen aus handgeschöpftem Papier. So gäbe ihr Gesamtwerk beispielsweise eine eigene Ausstellung zum Thema "Kreuzweg/ Wegkreuz" - in der aktuellen Ausstellung mit der Variante "Kreuzweg/ Wegkreuz mit gelbem Zentrum" (2005) vertreten - her, da ein in der Regel weitgehend gleichschenkliges Kreuz bei Marita Kühn-Leihbecher in vielen Arbeiten inhaltlich im Vordergrund steht oder, wie noch im Werk "Öffnung" (2005) zu ahnen, als Grundlage der formalen Bildgestaltung dient. So tragen auch etliche Werke denselben Namen: "Kreuzweg/ Wegkreuz", ergänzt durch Titel wie "überkreuzt", "durchkreuzt" oder "X-Wirbel" (2010, 2012, 2006, nicht in dieser Ausstellung). Zeigt das Werk zudem die Andeutung romanischer Bögen wie in einer Variante aus dem Jahr 2002, so wird deutlich, daß die Themenwahl, wie sie selber sagt, nicht ganz unabhängig vom langjährigen Wohnort der Künstlerin, dem Kloster Mildenfurth in Wünschendorf, ist. Trotz dieser Tatsache und trotz des Begriffs "Kreuzweg" in den Bildtiteln tritt uns hier aber keine spezifisch christliche Symbolik entgegen, sondern die Form ist in einer übergeordneten kulturellen Symbolik aufgehoben. Die klare Gestalt des gleichschenkligen Kreuzes dürfte ebenfalls verantwortlich für die Beliebtheit dieses Motivs bei Kühn-Leihbecher sein.

Neben den sehr häufig in gedeckten Farben wie Eierschalenweiß, Lichtgrau, Schwarz und Hanfbraun gehaltenen "Wegkreuz"-Bildern trifft man im Werk Marita Kühn-Leihbechers auch auf ausgesprochen bunte Arbeiten, auf plakatartig Plakatives und versteckte politische Stellungnahmen wie "Hautnah" (2011), das auf die Kernschmelze im AKW Fukushima anspielt. So zeigt die Collage "Verbot" (2012) zwei Augenpaare hinter teiltransparentem weißem Papier. Drei schwarze senkrechte Balken können ein Gitterfenster andeuten und schwarze Riegel haben sich um gelbe Farbflächen gelegt. Das Bild reflektiert die Situation mundtot gemachter und inhaftierter Schriftsteller. Die gelbe Farbe gibt dabei den Hinweis auf den Staat, in dem die hier verarbeiteten Zustände konkret anzutreffen sind und den aktuellen Anlaß für den künstlerischen Impuls zum Bild "Verbot" gaben.

Wesentlich in unserem Kontext ist die Annäherung an das Werk Marita Kühn-Leihbechers über die formale Gestaltung und das Haptische des handgeschöpften Papiers. Bis in die Sichtbarkeit der Materialbeschaffenheit hinein tritt uns seine teils filzartige, teils wollig-ausfransende, teils flusige, teils hartfaserig-glatte Oberfläche entgegen. Hanfpapier mit seinem etwas tauben Braunton erdet einige Werke (hier in der Ausstellung "Zentrum", 2009 und "Öffnung", 2005) und gibt den neutralen Hintergrund für den Einsatz der Grundfarben ab. In anderen Werken werden Papierausschnitte in der Collage überlagert, Farbflächen und sekundäre Materialien wie Fäden scheinen durch das z.T. hauchfeine Papier hindurch.

Diese Materialbeschaffenheit des Papiers ist es, die auch das Werk Marita Kühn-Leihbechers in die Momentaufnahmen der Bewegung einreiht: Durch das Selberschöpfen des Papiers bestimmt die Künstlerin allein Haptik, Stärke und damit mögliche Transparenz, Dichte und Farbe ihres Werkstoffs im Schaffensprozeß. Der richtige Zeitpunkt, um den Verlauf der Veränderung zu beeinflussen und das Werden des Papiers zu beenden ist es, der die formale Gestalt jeder neuen Arbeit von Beginn an mitbestimmt. Die intuitive Kreativität im Schöpfen aus der Schöpfung, aber auch die sekundäre eigene Wertung und Korrektur im Machen mit dem Gemachten lassen die Werke Kühn-Leihbechers in Form und Inhalt entstehen. Vom jeweils intuitiv gesetzten Ende der Papierherstellung sind sie nicht zu trennen.

"Welche Bedeutung haben künstlerische Positionen, die aus der Wahrnehmung einer komplexen Wirklichkeit ihre Intentionen in die ureigensten Mittel der Bildenden Kunst, Form und Farbe umsetzen?" fragt das Exposé zum Ausstellungsprojekt "Mit der Wachheit der Sinne - aus der Tiefe der Stille".[6] In ihren Werken, die sich eher der kontemplativen Versenkung als dem rein intellektuellen Zugriff erschließen, beziehen die Künstlerinnen und Künstler dieser Ausstellung vielleicht nicht bewußt, aber intuitiv auch Position gegen die derzeit grassierende Politisierung der "Kuratorenkunst" in den internationalen Biennalen und Kunstprojekten wie gegen eine "Siegerkunst" (Wolfgang Ullrich), deren Auktionspreisen in Materialwert und handwerklicher Umsetzung kein auch nur annähernd adäquater Gegenwert mehr gegenübersteht. Alle an dieser Ausstellung beteiligten Künstlerinnen und Künstler zeichnen sich durch die künstlerische Vision, den Mut und das handwerkliche Können aus, die Welt nicht nur zu doppeln und zu kommentieren, sondern ihr in den Kunstwerken eine Gegenwelt an die Seite zu stellen. Mit handwerklicher Perfektion übernehmen sie Verantwortung für ästhetische Maßstäbe, die sie mit ihren Kunstwerken setzen. Statt Reizüberflutung zu kritisieren, schaffen die einzelnen Kunstwerke Räume der Kontemplation und der bleibenden Schönheit. Aus der überfließenden Bejahung der Welt bleiben die Kunstwerke nicht bei Denkanstößen stehen, sondern geben je eigene Antworten - nicht mit Hilfe intellektueller Erklärungen, sondern mit Hilfe der Erkenntnisse, wie sie nur die unmittelbare Evidenz wirklicher Kunstwerke vermitteln kann.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar


[1] Kunststation Kleinsassen (Hg), Mit der Wachheit der Sinne - aus der Tiefe der Stille. Ein thematisches Ausstellungsprojekt des Verbandes Bildender Künstler Thüringen e.V. 17.01.2016 - 13.03.2016. Karl Heinz Bastian. Beate Debus. Michael Ernst. Elvira Franz. Cordula Hartung. Marita Kühn-Leihbecher, Kleinsassen 2016.

[2] Den Film findet man unter folgender Internetadresse: bit.ly/2rJkMuQ bzw. auf YouTube unter den Stichwörtern Gustav Franz Mit der Wachheit der Sinne. Bilder und Schnitt: Gustav Franz, Texte: Cornelie Becker-Lamers.

[3] Vgl. Zwischen schwarz und weiß. Ein Portrait über Beate Debus, ein Film von Judith Noll und Stefan Witthöft, www.debus-sculptur.de/film.htm sowie Galerie ADA/Die Galerie (Hg), Beate Debus. Werke 2003 - 2016, Katalog zur Ausstellung Licht-Schatten-Tanz. Skulpturen, Reliefs, Graphiken aus drei Jahrzehnten, 2016, S. 30. Vgl. auch www.fine-k.de/projekte/bildende_kunst/beate-debus.html.

[4] Beide Arbeiten sind nicht in der Ausstellung "Mit der Wachheit der Sinne" vertreten, vgl. dazu aber Galerie Profil Weimar (Hg), Michael Ernst. Metallbildhauer. Kinetik - Stahlskulpturen, Katalog zur Ausstellung Skulptur Weimar 2012, S. 11, S. 32 sowie den einleitenden Text S. 3-5.

[5] Cordula Hartung in Galerie ADA (Hg), Zeit. Codula Hartung. Objekte für Wand und Raum aus Papier, Textil und Farbe, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Meinigen 2009, S. 24; vgl. ebd. S. 31 das Werk "Transformation".

[6] Kleinsassen 2016 (wie Anm. 1) S. 4.