„Die Kunst ist der unwahrscheinlichste Zustand“
Subjektivität und künstlerische Freiheit im Werk Matschinsky-Denninghoffs
Ihre Autonomie ist es, die an den Arbeiten des Künstlerpaares Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff so über alles verblüffend ist: Ihre Autonomie im Sinne eines sich selbst Gesetz gebenden, sich selbst Gesetz seienden Prinzips, das – nicht von den Köpfen, allenfalls von den Händen der Künstler her – in der Gestalt der Werke bei jeder Arbeit aufs neue eine Emanation erfährt. Diese Werke werden geschaffen, beinahe wie man Kinder in die Welt setzt: nicht passend gemacht für die eine oder andere vorbestimmte Funktion, sondern damit sie sich ihren Ort, ihre gesellschaftliche Wirkungsstätte suchen; damit sie die Welt verändern, allein schon durch ihre Präsenz. Damit sie Welt sind, andere Welt.
So wird denn auch – „Wir wollen keine Abbilder schaffen“1 – der Welt und ihren Kulturen, Geschichten und Diskursen nichts im mimetischen Gestus abgelauscht. Die oftmals unter Anleihen bei antiken Mythologemen betitelten Skulpturen sind nicht von ihren Namen her zu lesen: Die Werktitel sind ‚Gedächtnisstützen’ der Künstler, am fertigen Objekt assoziiert, dessen konkrete Gestaltung sich ganz aus der fortwährenden Arbeit an der reinen Form herschreibt.
Immanentes Ziel ist die Gestaltung der Linie – des feinen Rohrs oder des Rohrbündels aus schimmerndem Chromnickelstahl – zu gigantischen Wölbungen2, die sich aus der erdenfesten Verankerung der Stahlriesen auf den Betrachter zuwälzen, als wollten sie das Rodin’sche Diktum von der Plastik als Kunst der Höhlungen und Buckel zum Greifen nahe bringen. Aus innerem Formgesetz heraus richtet die Skulptur sich auf. Ihre sich verzweigenden Arme bringen Scheidewege hervor, ebenso integriert wie etwa die Barrieren eines erstarrten rechtwinkligen Gehäuses, das die fließenden Linien faßt, sie aufspießt, um- und überwunden wird.
„Wir wollen kein Programm und keine Ideologie, auch keine ‚Gesellschaftliche Relevanz’, denn wir sind der Ansicht, daß die Relevanz künstlerischer Tätigkeit eben darin besteht, daß sie völlig frei bleibt.“3 So formulierten Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff bereits 19804, und bis heute besitzt diese Auffassung des eigenen künstlerischen Schaffens für sie ihre Gültigkeit.
Im selben Sinne nämlich ist wohl eine Beobachtung zu lesen, die Brigitte Matschinsky-Denninghoff in ihr 1996 erschienenes Künstlerbuch Schiffsreise integriert. Dieses Künstlerbuch, in einer bibliophilen Ausgabe von einmalig 600 Exemplaren erschienen, dokumentiert eine Seefahrt, zu der die Künstlerin 1990 als beinahe einzige ‚touristische’ Passagierin auf einem Frachtdampfer nach Japan aufbricht. Gedankliche Reflexionen und Zeichnungen sind auf dem Schiff entstanden. Plastische Modelle nicht. An ihrer Stelle Fotografien:
„Es gibt auf dem Schiff viele aufregende Details, und täglich entdecke ich neue; schöne, kräftige Formen.
Was für ein Irrtum jedoch, sie als Anregung für Skulpturen aufzufassen! Sie haben die ihnen eigene Schönheit und Würde, ihre eigene Funktion. Die Kunst kommt aus anderen Bereichen.
Ich versuche zu fotografieren.“5
Das Schiff ist Welt, und Kunst ist Welt. Platte, abbildliche Verweisfunktionen der einen Realität auf die andere zu formulieren, wüßte keiner der beiden Welten gerecht zu werden. So versuchen denn auch die Fotografien nicht, Deck, Container, Matrosen oder das Eintauchen des Schiffsrumpfes in die Wellen abzubilden: Was an Aufnahmen entsteht, entbindet selbst die Fotografie von ihrer dokumentarischen Aufgabe. Eine verfremdende Ausschnitthaftigkeit der Motive bringt ein trompe-l’oeuil hervor, ein Vexierbild, Konkrete Kunst als farbkräftig-bunte Fotografie. Die Gegenstände, die Anlaß der Fotografien gewesen sind, erscheinen auf dem Bild abgetrennt von ihrer Funktion auf dem Schiff. Transformiert in die Sprache der Kunst, zeigt sich die Welt jenseits der Kunst als das, was sie ist: als Form unter Formen.
Weder als geschöntes noch als kritisches Abbild einer scheinbar von der Kunst unabhängigen, ihr äußerlichen Realität entstehen die skulpturalen Werke von Martin und Brigitte Matschinsky-Denninghoff. Schon eher fungiert ihre beeindruckende Präsenz als Spiegel, die dem Medusengesicht dieser Realität entgegengehalten wird. Statt selber zu erstarren, unterläuft die Selbständigkeit, die Autarkie und Autonomie dieser Kunst den alleinigen Wirklichkeitsanspruch der politisch-sozialen, ja der physischen Realität: Die semiotischen Regeln, die Zwänge des Informationszeitalters zu Bedeutung und Verständlichkeit werden ebenso umgangen wie die physikalischen Gesetze der Gravitation, denen die wie in der Schwerelosigkeit schwebenden ausladenden Arme hoch oben an den Skulpturkolossen eine Nase drehen. Was die Entwicklung der einzelnen Arbeit nach ihren individuellen inneren Gesetzen stört, wird suspendiert. Indem die Künstler Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff sich den exakt kalkulierten Anforderungen des Materials, der Witterung und der Schwerkraft beugen, gelingt es ihnen, diese Anforderungen für ihre Kunstwerke zu überschreiten.
Wunder nimmt es dann nur noch, mit welcher Leichtigkeit, wie grazil und spielerisch-verspielt diese Monumentalkunst daherkommt, wie selbstverständlich sie der Erde zu entwachsen scheint, wie wenig die übermenschlichen Anstrengungen ihrer Produktion dem fertigen Werk noch anhaften. Auch hier, meine ich, drängt sich ein Satz auf, den die Matschinsky-Denninghoffs eigentlich zu der ordnungstiftenden, der Entropie entgegenwirkenden Kraft ihrer Kunst niedergeschrieben haben: Kunst ist der unwahrscheinlichste Zustand – ein Satz, den der Systemtheoretiker Niklas Luhmann übrigens ganz ähnlich in Bezug auf die Liebe formuliert.6
„Sie kann, um es paradox zu formulieren, Kommunikation unter weitgehendem Verzicht auf Kommunikation intensivieren.“7 Dieser Satz stammt auch von Luhmann, und auch er bezieht sich zunächst auf die Liebe. Dennoch geht man sicherlich mit dem Künstlerpaar Matschinsky-Denninghoff konform, wenn man das Zitierte auf ihre Kunst überträgt. Gleichermaßen Inbegriff der individuellen Freiheit wie der Gefahr zu größter Unfreiheit, sind Liebe und Kunst sehr verwandte Zugänge zur Welt. Vor dem Hintergrund ihrer Kunstauffassung und der Auffassung ihres eigenen Werkes scheint es legitim, die Kunst der Matschinsky-Denninghoffs gewissermaßen als ‚Liebesangebot’ zu verstehen. Die Intensität des Schaffenstriebes dieses ungewöhnlichen Künstlerpaares gründet in der inneren Disposition ihrer Werke, Kommunikationsangebot zu sein – Angebot zur Auseinandersetzung, zur Abgrenzung, zur Identifikation. Daß diese Kunst den öffentlichen Raum suchte und gefunden hat, geht folgerichtig aus dieser Disposition hervor.
Ich habe bisher nur vom skulpturalen Monumentalwerk des Künstlerpaares Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff gesprochen, obwohl der vorliegende Katalog zu den Ausstellungen in Schweinfurt und Erfurt auch die reiche Sprache ihrer aussagekräftigen Zeichnungen und Malereien vorstellt. Auch in der Zeichnung sind kompositorische Konzentration und ein klares Konzept die Voraussetzungen, um dieser strengen Disziplin gewachsen zu sein. Die Tatsache, daß Zeichnungen niemals nachkorrigierbar sind, sondern ganz unmittelbar den bildkünstlerischen Ausdruck formulieren, Empfindungen sofort oder nie mehr, mit dem ersten Federstrich oder erst auf einem nächsten Blatt adäquat umsetzen, macht sie zu einer so intimen Kunstform. Die Zeichnung ist nah am Gefühl.
So wird denn auch anhand der im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbaren Zeichnungen und Malereien der beiden Künstler ein erheblicher Unterschied im künstlerischen Ausdruck sichtbar, der in der gemeinsamen skulpturalen Arbeit zwar wiederzufinden ist, jedoch im Falle der Plastiken von beiden Künstlern bewußt nicht als je individuelle Formensprache herausgestellt und zugeordnet wird.
Die Differenz im künstlerischen Ausdruck, wie sie in den Bildern beider Künstler sichtbar wird, scheint in der Literatur zum Werk der Matschinsky-Denninghoffs bereits communis opinio. Als „Nachtblätter“ und „Tagblätter“ betitelt sie beispielsweise Eberhard Roters, um die „bohrende Energie“ in den Zeichnungen Martin Matschinskys von der „levitatorischen Spannung“ derjenigen Brigitte Denninghoffs zu unterscheiden.8 In der Tat sind die Bilder beider Künstler an Intensität sicherlich ebenbürtig. Doch die Differenzen der eruptiven Ausführung auf den Leinwänden Martin Matschinskys einerseits, der fließend-organischen Eindringlichkeit der Zeichnungen Brigitte Denninghoffs andererseits müssen begrifflich gefaßt werden. Ich möchte eine Anleihe bei Gerhard Rühm, einem Theoretiker der Konkreten Poesie, machen und die Zeichnungen Brigitte Denninghoffs als „Eindruckskunst“ der „Ausdruckskunst“ Martin Matschinskys gegenüberstellen.
Martin Matschinskys Kunst ist „Ausdruckskunst“. Expressiv ausgeführt, kann da Gewaltiges mit sehr Lieblichem wechseln, können hauchzart hingeflüsterte Kreidelinien mit trotzig-auftrumpfendem Schwarz dieselbe Leinwand teilen. Neben wuchtigen Intensitäts-Explosionen können tastende Pinselstriche sich in den Wüstendünen eines sandgelben Hintergrundes verirren, pastose Farborgien unvermittelt neben kleinen figurativen Zeichnungselementen stehen. Eine starke Energie macht sich Luft in dieser Kunst, und häufig füllt Matschinsky große, zum Teil wandbreite Flächen an. – Einen ersten Eindruck, wenn nicht von der schieren Größe, so doch von der Gestaltungskraft dieser Bilder, vermittelt das Buch 30 Leinwände, das im vergangenen Jahr als Band II der Edition EmBe in Berlin erschienen ist. Seinem Titel zum Trotz macht es mit 31 unbetitelten Malereien aus den Jahren 1995/96 bekannt. –
Es kann mir nicht daran gelegen sein, der Mythologisierung einer fließenderen Lebensenergie des womöglich Ewig Weiblichen das Wort zu reden. Doch auch eine um höchste Sachlichkeit bemühte Deskription der Bilder Brigitte Denninghoffs würde wohl immer in die Formulierung von den fließenden Linien ihrer Zeichnungen, vom organischen Entwachsen der Scheunenbilder in die Dreidimensionalität der aufgebrachten objets trouvés münden – noch dazu, da eine solche Beschreibung seit dem bereits erwähnten Schiffsreise-Buch ihre objektivierbare Grundlage hat: „Gestern abend habe ich versucht, ein oder zwei Stifte lose übers Papier gleiten zu lassen und so die Bewegung des Schiffes aufzunehmen, oder vielmehr das Schiff mit seiner Bewegung die Zeichnung machen zu lassen“, heißt es als Aufzeichnung mit Datum vom „5.September 11.00“. Seit zwei Tagen herrscht im Meer „eine leichte Dünung ..., sodaß das Schiff auf und nieder taucht mit einem großen Atem“9. Die Künstlerin unternimmt es, diese Dünung aufzuzeichnen, den Atem des Meeres, in den Bewegungen des Schiffes übersetzt, direkt aufs Papier zu bannen. Heraus kommt – ein typischer „BMD“-Matschinsky-Denninghoff! Womit nicht gesagt werden soll, daß das Projekt, die Dünung des Meeres einzufangen, mißlungen sei – im Gegenteil. Ich will auch nicht behaupten, Brigitte Matschinsky-Denninghoff hätte keine unverkennbare Handschrift – im Gegenteil: Ihre Werke sind unverwechselbar und auf den ersten Blick in einer Reihe anderer Bilder auszumachen. Ich möchte aber in der Tat sagen, daß die Zeichnungen Brigitte Matschinksy-Denninghoffs – ob den Bewegungen des Meeres abgelauscht oder nicht – stets den ruhigen Fluß eines Atems vermitteln, der den Betrachter regelrecht in ihre Bilder hineinzusaugen vermag. Wo und wann auch immer Brigitte Denninghoff künstlerisch zu Werke geht, scheint ihre Arbeit aus einer Quelle geschöpft, die dem Allverschmelzen fernöstlicher Religiosität verwandt sein könnte. Nicht zufällig finden sich Zeilen der Japanerin Toyotama Tsuno als zweites Gedicht zwischen den Tagebucheintragungen der Schiffsreise zitiert:
„Eine sternklare Nacht.
Mit dem Atmen des Ozeans
hebt sich und senkt sich der Bug.
Mein Atem geht im gleichen Maß.
Ich schwebe im Einklang des Alls.“
Zeichnungen, aus einem solchen Quell gehoben, nur reduziert zu nennen, wäre zu wenig. Es ist etwas Unerhörtes und Skandalöses in dieser Reduziertheit, die vornehm genannt werden muß und die dennoch eine sehr asketische mit einer ebenso starken erotischen Ausstrahlung der Werke zu verbinden weiß.
Zurück noch einmal zu den Skulpturen des Künstlerpaares. Die ausschwingenden, jugendstilhaften Messingflächen wie etwa Mitternacht wirken wie eine direkte Umsetzung der Bildsprache Brigitte Matschinksky-Denninghoffs in die plastische Kunst. Andere Arbeiten dagegen scheinen in einem Werk zu verbinden, was man anhand der Zeichnungen als unterschiedliche Handschrift beider Künstler studieren kann. Wenn ein Rohr birst und wie durch Explosion der ruhige Fluß eines Stahlarmes unterbrochen wurde, scheinen zwei künstlerische Konzeptionen der Skulptur ineinander verzahnt. In der an zwei Eruptionspunkten aufgesprengten Figur oder dem an den Enden seines Feuerbogens ausfransenden Kometen scheinen Energien am künstlerischen Werk zu sein, die auch den expressiven Zeichnungen und Malereien Martin Matschinskys ablesbar sind. Mit der weiter vorangetriebenen Auflösung der Form – und hier nicht so sehr in der Vereinzelung der Stahlfasern beispielsweise des Taifun, als vielmehr in der Formendeklination etwa der Elemente – scheinen diese „bohrenden Energien“ an gestalterischem Gewicht zu gewinnen. In jeder Skulptur aber finden sich die Schaffenskräfte beider Künstler unlösbar zu einer einzigen, starken Intensität verwoben. Das gemeinsame Werk des Künstlerpaares bleibt stets aus einem inneren Gesetz heraus logisch.
Cornelie Becker
1 Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff, Bericht, in : Matschinsky-Denninghoff. Monographie und Werkverzeichnis der Skulpturen, hg. von Georg W. Költzsch, Köln: Wienand 1992, S.16-39; S.38.
2 Beschrieben sind hier die Arbeiten der 70er bis 90er Jahre. Zur Entwicklung der Skulptur der Matschinsky-Denningshoffs vgl. den Beitrag von Dr. Schneider im vorliegenden Band.
3 ebd.
4 Teile des „Berichtes“ erschienen bereits in einem von Manfred de la Motte 1980 in Bonn herausgegebenen Band Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff.
5 Brigitte Matschinsky-Denninghoff, Schiffsreise. Zeichnungen Fotos Texte, Berlin: Edition EmBe 1996, nicht paginiert; Aufzeichnung mit Datum vom 29.August.
6 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S.26-28 u.ö.
7 ebd., S.29.
8 Eberhard Roters, Creatio sive Natura, in: Matschinsky-Denninghoff. Monographie und Werkverzeichnis der Skulpturen, hg. von Georg W. Költzsch, Köln: Wienand 1992, S.54-63; Zitate S.61.
9 Schiffsreise, Datum 3.September. Vgl. auch die Zeichnung zum 15.September.
Der Text erschien im Druck in: Matschinsky-Denninghoff. „Eins und doppelt“. Werke 1948 - 1998. Katalogbearbeitung: Erich Schneider sowie weitere Beiträge von Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff, Cornelie Becker und Joachim Haas, Schweinfurter Museumsschriften 75/1998, Schweinfurt 1998, S. 21 - 25.