Manon Grashorn. Um: Raum
Rede zur Ausstellungseröffnung
Galerie Profil, Weimar, 6. November 2014
Liebe Manon, liebe Elke, meine sehr geehrten Damen und Herren,
"Um: Raum" nennt Manon Grashorn ihre Ausstellung hier in der Galerie Profil. Und passend dazu sehen wir leere Kisten und Tüten, aber auch Bücher, übermalte Schriftzeilen und Fragmente zerfressener Musikpartituren.
Wie paßt das zusammen?
Nun - den Zeichnungen der leeren Kisten und Tüten ist nicht nur am rein ästhetischen Aspekt ihrer Objekte gelegen. Das sicherlich auch. Vor allem aber diskutieren diese Bilder eine philosophische Frage. Die Frage nämlich nach der Speicherung und der Erinnerung. Die Frage: Was sammeln wir und was geben wir weg. Was verwahren wir und empfinden es als uns zugehörig - Sie sehen, die Kisten sind häufig leere Umzugskartons mit ihren typischen übereinandergeschlagenen Deckeln und den länglichen Grifflöchern an den Querseiten.
Die Zeichnungen stellen also die Frage nach dem Funktionieren unseres Gedächtnisses und Gedenkens - des individuellen Gedächtnisses und damit auch nach dem Funktionieren unseres Kulturellen Gedächtnisses, das ja nichts anderes sein kann als ein Extrakt aus tausenderlei Ausprägungen individuellen Gedenkens.
Was speichern wir und wie halten wir es zugänglich? Wir wissen, in Umzugskartons ist so manches sehr gut über Jahre verstaut. Die Kisten stehen in einem Kellerraum, kommen uns im Alltag nicht in die Quere, wir wissen auch schon gar nicht mehr so ganz genau, was eigentlich im Einzelnen darin ist, spüren nur ab und zu das dumpfe Unwohlsein bei dem Gedanken, daß wir diese Kisten da ja eigentlich auch irgendwann mal auspacken wollten.
So geht es mit materiellen Dingen, und so geht es mit der Erinnerung. Dieser Tage ist uns das sehr präsent, denn allenthalben wird an die Zeit unmittelbar vor dem Mauerfall erinnert. Die Zeitungen bemühen sich, durch Abdrucke verschiedenster Interviews und Berichte der Vielschichtigkeit dieses friedlichen revolutionären Prozesses gerecht zu werden und dem Kulturellen Gedächtnis durch die Aktualisierung möglichst vieler individueller Erinnerungen eine möglichst große Schärfentiefe zu verleihen. Und wir erkennen, wie manche Menschen die damaligen Ereignisse innerlich gewissermaßen in einer Vitrine stehen haben, während andere in jüngster Zeit erst ihre Umzugskartons auszupacken begonnen und dabei festgestellt haben, daß wohl das eine oder andere zu reparieren wäre.
Bei jedem Umzug, aber auch schon bei jedem Ortswechsel lassen wir Menschen zurück, vielleicht gar Verstorbene, die dennoch in uns lebendig bleiben und uns in unseren Handlungen und Reaktionen beeinflussen. Wie geht das? fragt Manon Grashorn. Wie geht das, daß Worte, die, einmal ausgesprochen, eigentlich weg und dennoch häufig ein Leben lang noch in uns da sind? "Stunden, flüchtiger ihr als der Kuß/ Eines Strahls auf den trauernden See,/ Als des ziehenden Vogels Lied,/ Das mir niederperlt aus der Höh", heißt es in dem Gedicht "Im Grase" von Annette von Droste-Hülshoff, ein Gedicht, das genau diese Erfahrung von Vergänglichkeit thematisiert und zu dem Ergebnis kommt, daß der flüchtige Augenblick nicht etwa wertlos, sondern eben gerade darum wertvoll ist, weil er vergeht. Und nicht nur für den Augenblick gilt dies, sondern auch für die Sterblichen, für jeden Menschen.
Die Kunst von Manon Grashorn stellt die Frage: Wo schreibt sich ein, was gar nicht geschrieben steht? Und warum? Nach welchen Kriterien? Was wir sehen und greifen können, ist nur der prinzipielle Stauraum: Wir sehen, jeder Mensch hat einen Kopf zwischen den Schultern. Was aber wann und warum im Einzelnen darin vorgeht, wissen wir nicht mal selber.
Die Kisten von Manon Grashorn also sind leer. Wir sehen nur die Möglichkeit zu sammeln und aufzubewahren. Eine Antwort auf die Frage nach den Kriterien des Einpackenden können die Bilder uns nicht geben: Warum sind Worte sofort verflogen und manche dennoch ein Leben lang präsent? Es geht Manon Grashorn aber wiederum nicht vordergründig um die naturwissenschaftliche Seite ihrer Fragestellung - also um die Frage nach Schallwellen oder neuronalen Synapsen. Es geht primär um den ideellen, den spirituellen Aspekt der Frage: Wie entsteht und vergeht etwas? Und wie kommt es, daß manches nicht vergeht. ("Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen" kennen Sie - den Beginn von Christa Wolfs "Kindheitsmuster" - ein Faulkner-Zitat).
Dennoch ist das einzige, was vorstellbar und darstellbar ist, die materielle Seite dieser Frage. Manon Grashorn ruft uns die Wachsplättchen in Erinnerung, auf denen sich die alten Griechen das Gemerkte notiert vorstellten (in "De anima" von Aristoteles wird dieses Gedächtnismodell entfaltet.) Wachsplättchen, in die leicht eingraviert ist, deren Notizen aber auch leicht wieder zu verwischen sind.
Manon Grashorn hat die Möglichkeiten der Bildenden Kunst mit Wachs eruiert - auch die Technik der Enkaustik - hat sie aber bisher nicht zur Anwendung gebracht. Die Vorstellung, daß auf Wachs geschrieben wird, tritt uns dennoch aus ihren Zeichnungen entgegen. Denn Manon Grashorn zeichnet mit Fett.
In den Textbildern etwa, also in den Blättern, die tatsächlich lesbare Schriftzeichen zur Grundlage haben, wird die Schrift mit Fett und damit zunächst unlesbar aufgebracht. Mit weißem Pigment wischt Manon Grashorn darüber, poliert das Blatt gewissermaßen, und macht dadurch die Schriftzeichen zunächst einmal überhaupt erst lesbar. In dem Maße allerdings, in dem sie wischt, löscht sie die Lesbarkeit der Schrift auch wieder aus. Die Schrift wird übermalt - das Blatt wird wieder weiß wie das sprichwörtliche unbeschriebene Blatt.
Ein weiterer Kunstgriff führt uns das Funktionieren von Sprache in ihren Zeichnungen vor Augen: Die scriptio continua, wie man das früher nannte, also das fortlaufende Schreiben von Großbuchstaben, die nicht in Wörter unterteilt sind. Das war in der Antike die übliche Art zu schreiben, wir können das heute noch auf alten Inschriften und Epitaphen sehen. (Bei den Griechen war nicht mal die Leserichtung festgelegt, es ging von Zeile zu Zeile hin und her - also daß man heute auf einen Blick den Text eines Plakates etwa erfaßt, setzt viele viele Verfeinerungsschritte unseres Schriftsystems voraus.)
Warum wurde ursprünglich ohne Punkt und Komma geschrieben? Ganz einfach, weil wir auch so sprechen. Der Sprachfluß kennt keine Lücken. Nur die Rezitation, das bewußte Sprechen und Vortragen macht Kunstpausen. Die Bilder von Manon Grashorn also bilden Sprache ab, wie sie in uns ankommt - nur mit Vorwissen, also für den Sprachkundigen verständlich. (Wenn wir eine Fremdsprache hören, haben wir dieses Gefühl von Klangwelle und von Wortschwall, der uns überschwemmt.) Was wir aus dem Gehörten herausfiltern und was wir in uns lesbar halten, ist von Fall zu Fall eine Entscheidung, von Fall zu Fall auch Zufall oder das Produkt von Konzentration oder Ablenkung. Weder Sprecher noch Hörer haben das wirklich in der Hand. Die Kommunikationswissenschaftler unterscheiden deshalb auch zwischen Botschaft, Information und Mitteilung, also zwischen dem, was man ausdrücken möchte, dem, was naturwissenschaftlich greif- und meßbar tatsächlich übertragen wird und dem, was abzüglich diverser Störungen und je nach Erwartungshorizont wirklich beim Empfänger ankommt.
Diese Differenzierung im Themenkomplex der Kommunikation wird in der Kunst von Manon Grashorn greifbar. Wir sehen die Information, sehen, daß die Botschaft, also das, was gesagt werden wollte, umfangreicher ist als das, was wir noch erkennen können, sehen die Störungen der Kommunikation, erkennen das ja tatsächlich im Fachjargon so genannte "weiße Rauschen" und bemühen uns, uns aus dem fragmentierten Rest der Botschaft mithilfe redundanter Informationen eine Mitteilung zu erschließen. Und noch einen weiteren Aspekt der Kommunikation thematisiert diese Malerei: die Reizüberflutung. Die Buchstaben überlagern sich, die Schriftzeilen sind zu dicht übereinander geschrieben. Wenn zuviel an Information angeboten wird, das macht diese Kunst unmittelbar evident, wird zuletzt nichts mitteilbar und damit auch nichts erinnerbar.
So macht Manon Grashorn die Kommunikation als Voraussetzung der Erinnerung und Speicherung anschaulich. Sie zeigt uns aber auch die Fallstricke und Hemmnisse, die immer wieder dazu führen, daß Mißverständnisse entstehen oder Worte ungehört verhallen. Und sie zeigt uns Aspekte der Auslöschung von Erinnertem. Was in den dicken Folianten gespeichert ist, wissen wir nicht. Wir können nur hoffen, daß es vollständige Handschriften sind. Vielleicht ist aufs Vorsatzblatt sogar ein alter Zauberspruch gekritzelt, der eigentlich dem Vergessen anheim fallen sollte. Die Bücher also zeigen uns nur eine traditionelle Art der Speicherung von Wissen.
Die Gefährdung der Erinnerung zeigen uns die Blätter, die auf Kopien originaler Bach-Partituren beruhen. Und sie zeigen es in mehrfacher Hinsicht. Wie Sie sehen, sind einzelne Notenköpfe oder die für Bach so typischen Achtelbögen nicht mehr zu erkennen. Das hat Manon Grashorn nicht in künstlerischer Absicht hinzuerfunden, sondern sie hat es uns hier nur dokumentiert. Nachdem sie die Bachschen Autographen dieser Partituren sehen durfte, bekam sie eine Kopie des Zustandes, um ihn in ihrem Bild für uns genau wiederzugeben. Der Tintenfraß der Gallustinte, mit der Bach das kostbare Papier überdicht beschrieb, hat mit der Zeit zum Zerfließen der Notenschrift geführt. Die Autographen werden nun in Leipzig gerettet. Aber der alarmierende Zustand macht uns in der Wiedergabe durch Manon Grashorn auf das Problem aufmerksam: Auch der Zerfall des Speichermediums gefährdet die Erinnerung. Im Zeitalter der Digitalisierung ist das ein alltägliches Problem und ganze Scharen von Informatikern sitzen an der ständigen Datenmigration der digitalisierten Inhalte auf das jeweils aktuellste und durch Computer lesbare Speichermedium.
Haben wir also bisher die immaterielle Seite des Erinnerbaren diskutiert, so stoßen wir in den Bach-Partituren doch noch einmal auf die Materialität des Gedächtnisses - eine Materialität, die das Gedenken ja auch in uns selber hat: Eine Hirnverletzung löscht Wissens- und Wahrnehmungsbereiche aus. Und doch schlägt auch dieses Blatt in einem genialen Kunstgriff die Brücke zum ideellen Gehalt der Erinnerung. Durch die überdimensionierte Vergrößerung der Notenzeilen sagt das Blatt überdeutlich: He! Sieh dir das an! Hier ist das Problem, das ich meine! Man kann nichts mehr lesen, die Zeichen fließen ineinander, das Speichermedium zerfällt. Die Vergrößerung will die unbedingte Aufmerksamkeit auf die Notenzeichen lenken und hat zugleich ihren Anteil an ihrer Unlesbarkeit. Die Vergrößerung betont und gibt zu erkennen und kann doch, wenn sie übertrieben wird, zugleich verschleiern und unkenntlich machen. Wird eine Erinnerung in uns zu groß - heißt das m.E. - und überdeckt sie alles andere, verfehlt sie den erinnerten Gegenstand ebenso wie seine Verdrängung.
Die Ausstellung Um:Raum von Manon Grashorn diskutiert für uns also - so unterschiedlich die Kunstwerke im einzelnen sind - sehr stringent und sehr umfassend das Thema der Materialität der Kommunikation (Partituren), der Materialität von Speicherung und Erinnern (Kisten), die Probleme der Auslöschung geistiger Inhalte sowie vor allem das rechte Maß der Informationsübermittlung und des Gedenkens.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend in dieser Ausstellung und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar