Skulptur . Weimar . 2006 . Georg Malin . G. Angelika Wetzel . Willi Weiner . Juni – September
Rede zur Ausstellungseröffnung
Romantikhotel Dorotheenhof Weimar, 18. Juni 2006, 11 Uhr
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die diesjährige achte Ausstellung in der Reihe Skulptur . Weimar holt geographisch wie konzeptionell weit aus. Geographisch, denn zur Feier des 15jährigen Bestehens des Kulturkreises Liechtenstein-Weimar wurden Werke von Georg Malin aus Mauren, Liechtenstein nach Weimar geholt. Dem „Weltohr“ und den beiden Buchstabenwürfeln Malins, die wir in der Innenstadt gesehen haben, gesellen sich Arbeiten der Stuttgarter Künstler Angelika Wetzel und Willi Weiner zur Seite. Die Werke sind hier im Dorotheenhof platziert: „Ei und Horn im Gleichgewicht“ sowie die „Eiform gespiegelt“ von Angelika Wetzel. Die „Ekliptik“ und „Akachochin“ von Willi Weiner.
Und hier sind wir denn auch schon bei dem konzeptionellen „Rundumschlag“, der die diesjährige Ausstellung vor allen Präsentationen der Vorjahre (meist Einzelausstellungen) auszeichnet. Denn allen drei Künstlern – aber jeder und jedem auf je eigene Weise – geht es um nichts Geringeres als die Grundlagen der menschlichen Kultur. In der Sprache der zeitgenössischen Kunst und mit den Mitteln moderner Technik ringen Malin, Wetzel und Weiner ihren Materialien eine immer neue Gestalt ältester geistig-geistlicher Inhalte ab: Treiben etwa Angelika Wetzel seit den 80er Jahren schon die Urmythen von Gebären und Wandlung zu immer neuen Arbeiten an der Urform des Eies an, so ist es für Georg Malin die Schrift als ursprünglich Heilige Zeichen, die er in seiner gigantischen Buchstabenreihe als Bausteine der Erinnerung und damit als Grundlage aller Kultur vor Augen führt. Wie Malin verwendet auch Willi Weiner Stahl, den Werkstoff des Industriezeitalters, um die seit Jahrtausenden beobachteten kosmologischen Wahrheiten in seiner „Ekliptik“ in Szene zu setzen. Im Dreiergespann, das die Kuratorinnen so klug konzipiert haben, werden damit die entscheidenden drei Säulen erkennbar, die von jeher alle Entwicklung der menschlichen Kultur getragen haben: Die Beobachtung des natürlichen Lebensraumes - bei Weiner, die Reflexion des eigenen Herkommens und Weiterlebens - bei Wetzel und die Speicherung und Weitergabe erworbenen Wissens und gemachter Erfahrung - bei Malin. In ihrer zeitgenössischen Ästhetik werden sie für heutige Betrachter anschaulich, anschlussfähig und im Wortsinne begreifbar gemacht. Schauen wir es uns genauer an:
Georg Malins Werke haben wir in der Innenstadt gesehen. Doktor Malin – sie haben es sicherlich bereits unserem Faltblatt entnommen – ist gleichermaßen in der Kulturtheorie, Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie wie in der künstlerischen Praxis zuhause. Als Sohn eines Stuckateurs hat er den ästhetischen Zugang zur Welt mit der Muttermilch aufgesogen. Nach der Schule studierte er Geisteswissenschaften und ließ sich parallel hierzu zum Bildhauer ausbilden. Seit 1955 ist er freischaffend künstlerisch und kunstwissenschaftlich tätig, gestaltete öffentliche und sakrale Räume, war Konservator der Staatlichen Kunstsammlung Vaduz, dient seinem Land bis heute als Juror bei Ausschreibungen und und und. Sein bildhauerisches Werk, das in der Tradition von Arp, Chillida und Brancusi gesehen wird, vollzieht den Weg der Moderne von der gegenständlichen zur abstrakten oder reinen Kunst noch einmal nach. Die geometrischen Grundformen spielen eine große Rolle bei der Bewältigung dieser Reduktionen in der Darstellung (Knospe 1970)
Seit Mitte der 80er beschäftigt Malin sich mit Würfeln besonderer Art: Zur Faszination an diesem Universalsymbol tritt die Auseinandersetzung mit der Schrift oder den Buchstaben als Grundlage kultureller Entwicklung. Denn alle Kultur gründet auf der Weitergabe erworbenen Wissens und erworbener Erfahrung. Ursprünglich war die Kunst des Lesens und Schreibens eine den Priestern vorbehaltene Angelegenheit. „Hieroglyphen“ bedeutet „heilige Zeichen“, und auch das germanische Wort „Rune“ bedeutet „Geheimnis“. Schrift hält Leben fest, speichert die Seele einer Sache, bringt Tote wieder zum Sprechen und macht gelebtes Leben noch einmal nachvollziehbar. Schrift begründet kulturelles Gedächtnis und die kollektive Erinnerung einer Gemeinschaft. Daher ist Schrift lange als Verbindung zur göttlichen Sphäre gesehen und entsprechend gehütet worden (dazu kam, daß Schreibstoffe und Tinten kostbar waren). Auch Georg Malin wählt einen kostbaren Schreibstoff mit seinem Chromnickelstahl – in den größeren Skulpturen wählt er Cortenstahl –, um den Buchstaben durch sie selbst ein Denkmal zu setzen. Die Würfel existieren in den unterschiedlichsten Größen von handlichen 40x40cm-Arbeiten bis zu gigantischen Plastiken von viereinhalb Metern Größe und fünf Tonnen Gewicht. Es gibt sie aus Granit, in dem die Buchstaben als Relief erscheinen, aus Bronze und eben aus poliertem Stahl.
„Kosmisches Zeichen“ heißt in Anspielung auf die göttliche Abkunft der Schrift eine 1991 geschaffene O-Skulptur. Ich plädiere dafür, auch unser „O“ auf dem Goetheplatz, den Doppelkreis, aus der Reihe der „Buchstabenwürfel“ herauszunehmen, und zwar aus zweierlei Gründen:
Erstens ist es kein Würfel. Anders als die Buchstaben P, B, C, R, U wird die Rundung des Buchstabens nicht in die eckige Würfelform gepresst. Es bleibt ein Kreis. Ein Würfel ist es außerdem nicht, weil alle O-Skulpturen nur zwei Seiten haben, nicht zum Würfel geschlossen sind und nicht mal eine dritte Seite haben, die die Figur des Würfels definieren könnte. Das ist der eine Grund.
Zweitens aber stellt der Kreis, das Kosmische Zeichen, sehr viel mehr dar als das O. Denn was ist graphisch dem O zum Verwechseln ähnlich? Richtig: die Null. Nun muß man wissen, was die Null für eine besondere Zahl ist. Sie ist die Zahl der Zahlen, die Grundlage der komplexeren Mathematik, wie sie uns heute selbstverständlich ist. Das komplexe Rechnen mit den arabischen Zahlen kann erst beginnen, als die Idee der Null geboren wird. Die Griechen kennen die Null und stellen sie durch das Omikron als Initiale für „oydén“ – „nichts“ – dar. Hier haben wir also das „O“ zur Darstellung der Null. Was ist nun die Null für das Rechnen? Nun: Wenn ich 10 Äpfel habe und nehme 10 weg, bleibt das Ergebnis darstellbar: als Null. Das Nichts wird zur positiven, zur darstellbaren Entität. Diese Idee bringt das abstrakte Denken überhaupt auf den Weg. Kein Apfel und keine Birne sind beide Null. Dann hat aber ein Apfel und eine Birne auch etwas gemeinsam, nämlich jeweils „eins“ zu sein. Die moderne Logik entwickelt aus der Null das gesamte System der natürlichen Zahlen.
Auch die Darstellbarkeit der höheren Zahlen im Dezimalsystem, die Unterscheidbarkeit der 14 von der 104, wo ich auf der Zehnerposition eine Null einschiebe, steht und fällt mit der Erfindung der Null. Der Clou kommt aber erst noch: Das arabische Zahlenwort für die Null lautet „schifr“. Im Hochmittelalter, als alles arabische Wissen über Spanien nach Zentraleuropa gelangt, kommt gemeinsam mit dem griechischen Symbol des Omikron dieses Wort „schifr“ in den deutschen Sprachraum und wird zum Wort für „Ziffer“, für die Zahl schlechthin. Das Kosmische Zeichen, die O-Skulptur Georg Malins, ist weit mehr als ein „Buchstabenwürfel“, da sie nicht nur das O, sondern auch die Zahl der Zahlen, die Null als Grundlage unseres Rechensystems evoziert.
Angelika Wetzel wuchs in Stuttgart auf und zog nach ihrem Abitur 1953 nach Turin und Rom, um sich mit der italienischen Sprache und Kultur vertraut zu machen. Sie studierte an der Staatlichen Akademie Carrara, in Berlin und beendete ihr Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, wo sie nach einer Reihe von Stipendien und Preisen – nach der Heirat und der Geburt dreier Kinder – 1983 die Grundklasse der Bildhauer unterrichtet.
In diese Zeit fällt auch der Beginn der Beschäftigung mit der Grundform des Eies – mit Positiv- und Negativformen, die zueinander finden und sich ergänzen – mit bergenden Höhlen und lichten Säulen, die die Prinzipien der Fruchtbarkeit und der steten Metamorphose alles Lebendigen verkörpern: „Die beiden Formen gebärden sich gegensätzlich“, schreibt sie selbst: „als Rundes, Weiches, Spitziges, als Bergendes und Aggressives, als Hüllendes und Explosives, als weibliches und männliches Prinzip.“
Immer wieder wird mit diesen gegensätzlichen und doch verwandten Formen – gespielt? – nein! experimentiert, muß man sagen, denn diese so urwüchsig und gewissermaßen handlich wirkenden Arbeiten gehen gerade nicht von den Händen, sondern vom Kopf aus. Wetzel gehört nicht zu den Bildhauerinnen, die aus einem Stein die Figur entstehen lassen, die sich unter ihren Händen formt und „heraus will“. Die Arbeit ist vielmehr vollständig intellektuell geprägt. In detaillierten graphischen Vorarbeiten führt die Künstlerin die Eiform zunächst auf Zylinder-Schnitte verschiedener Winkelmaße zurück (das ist „die Deklination des Straußeneis“, denn das Straußenei ist symmetrisch). Die so entstandenen Ellipsen werden mithilfe von Schablonen und zunächst durch maschinelle Arbeit in die dreidimensionale Form von Granit,- Marmor- oder Bronzeplastiken gebracht. Eihälften werden gespiegelt, so daß sich eigentümlich anmutende Herzformen – gestreckt oder gedrungen – ergeben. Die Winkelmaße, die den Eischnitten zugrunde lagen, dienen den verschiedenen „Urformen“ als Titel: 1/43°; 2/23°; 3/76°. Unsere „Eiform 5/82°, gespiegelt“ entstand vor drei Jahren und intellektualisiert die Arbeiten um einen weiteren Gedankenschritt. Die Spiegelung der asymmetrisch geschnittenen Ei“hälfte“ wird hier nicht mehr materialiter gegen die Mutterform gesetzt, sondern existiert nurmehr in der Imagination des Betrachters. Eine echte Spiegelung in der polierten Fläche aus Edelstahl macht die entstandene Urform zur Fata Morgana.
„Vom Ei zum Stierhorn“, mehrere dreiteilige Arbeiten aus den Jahren um 1990-92, begründen eine neue Reihe von Experimenten, die eine Entwicklungslinie von der runden zur phallischen Form aufmacht und damit schon in die Werkfamilie gehört, der auch unser Exponat „Ei und Horn im Gleichgewicht“ aus dem Jahr 2003 entstammt. („Vom Ei zur Lanze“, fünfteilig, 1994, „Paar“ 1996). Die gegensätzlichen Formen werden hier ineinander überführt – auch dies auf der Grundlage eines Gedankenexperiments: „Durch Rotation einer konzentrischen Masse, der Kugel, entstanden“, hält Wetzel 2003 zu unserem Exponat fest. „Der Mittelpunkt hat sich in zwei Brennpunkte geteilt und diese entfernen sich immer weiter – verkörpern sie nun verschiedene Stadien derselben Bewegung. Sie gehören zusammen. Die Gleichgewichtigkeit und Gleichwertigkeit, nicht nur optisch sichtbar, auch physikalisch messbar, hält sie zusammen.“ Die beiden lebenspendenden Prinzipien gebären in ständiger Metamorphose immer auch zuallererst sich selbst.
Willi Weiner ist eine Generation jünger als Wetzel und Malin, absolvierte in den 70er Jahren die Fachhochschule für Gestaltung in Augsburg, erhielt verschiedene Kunstförderpreise und verlebte dadurch auch mehrere Jahre in Italien, sechs Monate in Paris, ein Dreivierteljahr in Japan. Das ist 1995, und als erste Arbeit baut Weiner dort die „Rote Laterne“ – „Akachochin“ – aus seinen 1mm starken Stahlblechen auf.
Das Arbeiten mit den Cortenstahlblechen ist typisch für Weiner. Wie im Patchworkverfahren werden die Skulpturen aus Einzelteilen aufgebaut, die häufig vorgerosteten Bleche verschweißt, die Schweißflächen leicht geglättet, Teile der Plastik lackiert. Der Kontrast von Rost- und Lackflächen begegnet eigentlich in jeder Arbeit, häufig als zentrales Element der Werkaussage. In Akachochin ist es die Innenseite der Laterne, die in leuchtendem Rot lackiert ist. Das Leuchten jeder Laterne kommt von innen. Das Rot wird nur sichtbar, weil die beiden Hälften der Laterne gegeneinander verschoben sind, und zwar so weit, daß der schwarze Kragen der Laterne wieder eine Linie bildet. Die beiden Hälften stehen für die gleichermaßen profane wie sakrale Symbolik der Roten Laterne, die in Japan vor dem buddhistischen Tempel ebenso auftaucht wie im Rotlichtbezirk. Die Verschiebung deutet auf die Schizophrenie, die in dieser Doppelbödigkeit steckt.
Mit der „Ekliptik“ hat Weiner so etwas wie ein Stonehenge aus Stahl gebaut. – Obwohl man ja in Mitteldeutschland nicht mehr von Stonehenge sprechen muß: In Goseck bei Naumburg ist schließlich das derzeit aufsehenerregendste Beispiel einer ganz ähnlichen, jüngst rekonstruierten Anlage aus Holzpalisaden zu besichtigen. Zur Berechnung von Mondphasen und Sonnenstand dient die „Ekliptik“ zwar nicht, doch verrät bereits der Werktitel die kosmische Dimension, die als intellektueller Hintergrund den Schaffensprozeß begleitete. „Ekliptik“ nennt die Astrophysik die Umlaufbahn, in der die Erde die Sonne umkreist. (Für das mittelalterliche, geozentrische Weltbild war es entsprechend die Sonnenbahn um die Erde.) Die Ekliptik ist um 23,27° geneigt. Das hängt mit der Neigung der Erdachse zusammen, die für die Entstehung der Jahreszeiten verantwortlich ist. Man denkt die Ekliptik in Bezug auf den Himmelsäquator, der die Verlängerung des Erdäquators in den Raum hinein darstellt. Bei geneigter Erdachse kommt die scheinbare Neigung der Ebene zustande. (Die Erdachse ist nicht scheinbar geneigt, sondern wirklich in Bezug auf die Umlaufbahn der Erde. Bei Ebenen durch den Raum aber kann man natürlich nur von scheinbarer Neigung sprechen, da es sich bei diesen Ebenen um Gedanken- und Rechenmodelle handelt.) In zwölf Monaten wandert die Erde durch die zwölf Sternzeichen, in denen die Sonne – von der Erde aus gesehen – im Verlauf des Jahres steht.
In die 280 cm hohe und knapp 40 cm starke Skulptur sind zwölf Röhren gelegt, durch die in verschiedenen Winkeln der Himmel sichtbar wird. Das Kunstwerk ist freilich keine Messstation, es möchte nicht zum Sterndeuten auffordern und kann nur deshalb ja auch den Standort wechseln. Die Sichtröhren erinnern aber bewusst an Bauwerke und Gerätschaften, die der Mensch im Laufe der Kulturgeschichte zur Beobachtung des Himmels entwarf, um durch die Kenntnis des Jahreszeitenverlaufs sein Leben in der Natur planbar zu gestalten: Man berechnete ja schon früh Jahreszeiten, Sonnenstände und Mondphasen voraus, um den Zeitpunkt der Saaten und Ernten zu optimieren. Daher ist der Fund in Goseck auch auf das Neolithikum zu datieren, also auf die Zeit, als sich feste Dorfstrukturen zu bilden beginnen, Ackerbau entwickelt wird und die ersten Tiere domestiziert werden.
Zur kosmischen Dimension der Weinerschen Arbeit passt das Weltohr Malins, das wir auf dem Theaterplatz gesehen haben. Schlagen wir also noch einmal den großen Bogen und überblicken die Ausstellungskonzeption im Ganzen. Es wird deutlich, warum ich eingangs davon sprach, daß hier die Grundlagen der menschlichen Kultur thematisiert werden. Denn durch das Zusammenspiel der drei ausgewählten Künstler werden die drei Säulen erkennbar, die von jeher alle Entwicklung der menschlichen Kultur getragen haben: Die Beobachtung des natürlichen Lebensraumes – bei Weiner, die Reflexion des eigenen Herkommens und Weiterlebens – bei Wetzel und die Speicherung und Weitergabe erworbenen Wissens – bei Malin.
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in diesem herrlichen Park und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Cornelie Becker-Lamers, Weimar