Vorwort

„Unsere Welt ist voll von Kopisten und Nachahmern, man überhäuft sie mit Reichtum und Ruhm. Interpretieren lohnt mehr denn komponieren, eine Meinung zu einem fertigen Erbe haben lohnt mehr als ein eigenes Werk schaffen. Das Über der Zeit ist die Überschwemmung des Neuen durch die Duplikate, der Untergang der Intelligenz im Behagen am Immergleichen. Produktion ist ohne Zweifel etwas Seltenes, sie zieht die Parasiten an, die sie auch gleich banalisieren. Die unerwartete, unwahrscheinliche Produktion ist geschwängert mit Informationen, und stets machen sich die Parasiten unverzüglich darüber her.“1

Michel Serres, dessen beißender Zeitanalyse Der Parasit diese harten Worte entnommen sind, ist Jahrgang 1930, französischer Mathematiker, Philosoph, nebenbei Kunstkritiker und eigentlich gegen das Kommentieren von Kunst. Man interpretiere ein Werk, um es – nolens volens – letztendlich zu verbergen, Texte träten an die Stelle der Kunst, und mancher Museumsbesucher verbringe „mehr Zeit vor den Erläuterungstafeln als vor der angeblich erläuterten Kunst.“2 Wo Kunst wirke, unterbreche sie das Gespräch, tilge die Worte und drücke mit der ihr eigenen Sprache aus, was sich der Logik der diskursiven Erläuterungen entziehen muß.

Vom „Dresdener Raffael“ bis zum „Entarteten Künstler“ reichen die Zuschreibungen, mit denen Wilhelm Lachnit belegt wurde. Und auch nach 1954, trotz seines Ausschlusses aus der Dresdener Hochschule der Künste, bleibt die Vereinnahmung seiner Sujets durch stereotype Formulierungen der real existierenden sozialistischen Kunstkritik unüberhörbar. So gehört Wilhelm Lachnit sicherlich zu den bedeutenden Künstlern der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, deren Werk unter den Interpretationen seiner Kritiker unkenntlich zu werden droht. Nach wie vor fehlt eine gründliche Monographie, die all diese Stellungnahmen am Werk selbst überprüfen und vor dem Hintergrund der unterschiedlichen persönlichen Dokumente des Künstlers bewerten könnte.3

Auch der zur Ausstellung des graphischen Werks durch den Kunstverein Ausstellungshalle Gotha e.V. und das Schloß Friedenstein anläßlich des 100. Geburtstages Wilhelm Lachnits erscheinende Katalog kann diese gründliche Aufarbeitung nicht leisten. Dennoch haben wir ihn geschrieben und publiziert, dennoch werden wir Zugänge zum graphischen Werk Wilhelm Lachnits mithilfe von Texten zu geben versuchen. Aber, wie ersichtlich, geschieht es in Form eines Textmosaiks: Die der Dissertation von Friedegund Weidemann entnommene Faktensammlung der Biographie wird durch Stellungnahmen von Freunden und Schülern Lachnits ergänzt, die das Werk ihres Kollegen in ganz anderer Weise beleuchten. Gedichte von Ulrich und Charlotte Grasnick treten diesen persönlichen Stellungnahmen zur Seite, ebenso wie ein kunstwissenschaftlicher Essay, der von der These ausgeht, daß interpretatorische Hinweise insbesondere zur ikonographischen Dimension der Lachnitschen Bilder zu deren Verständnis hilfreich und erhellend sein können.

Unser Wunsch, mit der Gedächtnisausstellung für Wilhelm Lachnit sowie dem vorliegenden Katalog zum Gedenken an den Künstler, vielleicht sogar zu einer breiteren Popularität seines Werks beizutragen, begleitet diese Publikation. Wir danken Frau Helga Jüchser, Herrn Harald Metzkes, Herrn Dieter Goltzsche, Herrn Manfred Böttcher und Herrn Hermann Naumann für die Texte, die sie zu diesem Katalog beigetragen haben. Herrn Lothar Janus gilt unser Dank für die Sichtung und bereitwillige Öffnung des Nachlasses Wilhelm Lachnits, welche der Ausstellung und dem vorliegenden Katalog ermöglicht, bisher weitgehend unbekannte und unveröffentlichte Arbeiten aus dem graphischen Werk des Künstlers vorzustellen. Da die meisten dieser Blätter unbetitelt und nicht datiert sind, waren Herrn Janus’ Hinweise zur chronologischen Einordnung der Arbeiten sehr hilfreich. Nicht zuletzt gilt unser Dank der Gotha Kultur, der Druckerei Kirchner, Gotha sowie der Thüringer Staatskanzlei, die durch ihre großzügige finanzielle Förderung die Realisierung des Katalogs überhaupt erst ermöglicht haben.

Cornelie Becker-Lamers Wolfgang Finkbein

 

Der Text erschien im Druck in:

Cornelie Becker-Lamers – Wolfgang Finkbein (Hg), Wilhelm Lachnit 1899-1962. Aus dem graphischen Werk. Eine Ausstellung zum 100. Geburtstag des Künstlers am 12. November 1999. 7. November 1999 bis 6. Januar 2000: Galerie Finkbein, Gotha. 7. November 1999 bis 9. Januar 2000: Schlossmuseum Friedenstein Gotha, Galerie im Brettersaal. 13. Februar 2000 bis 30. April 2000: Villa Eschebach, Dresden, Gotha: Kunstverein Ausstellungshalle e.V. 1999, S. 4-5.

ISBN 3-00-005141-4.

Der vollständige Katalog mit 39 z.T. farbigen Abb. ist zu beziehen über:

Galerie Finkbein – Bautzner Straße 4 – 01099 Dresden

 

1Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt/M.: suhrkamp 1987, S. 13.

2Peter Bexte, Leinen los, in: Michel Serres, Über Malerei. Vermeer - La Tour - Turner, Nachwort von Peter Bexte, Dresden - Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 113-126, S. 113.

3Diese Mongraphie wird noch 1990 in dem bisher materialreichsten Lachnit-Katalog von Friedegund Weidemann gefordert. Vgl. Wilhelm Lachnit 1899-1962. Gemälde Graphik Zeichnungen, zur gleichnamigen Ausstellung vom 5. Juli bis 19. August 1990 hg. von der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste der DDR, Berlin 1990, S. 12.