Abenteuer Bildnis
Zum 100. Geburtstag Wilhelm Lachnits (1899-1962)
am 12. November 1999
Die regionale kunstgeschichtliche Einordnung des Jahres 1999 steht seit Mitte diesen Jahres fest: Es wird in die ostdeutsche, vielleicht in die gesamtdeutsche Erinnerung eingehen als Jahr des „Weimarer Bilderstreits“. Als Jahr mithin jener hoch angebundenen Skandalausstellung, die als Ereignis der deutschen Kulturstadt Europas von der hochemotionalisierten Feuilletondebatte über halbwissenschaftliche Podien und Gesprächsforen bis hin zum Gerichtsentscheid Diskussionen über Material und Beleuchtung, Ausstellerfreiheit und Künstlerrecht, vor allem aber die offenbar längst noch nicht hinreichend geklärte Frage nach Fremd- und Selbstsicht ostdeutscher wie westdeutscher Kunst und Kunstwissenschaft auf den Plan rief. Gerade dieser letzte Aspekt, der im Verlauf des „Bilderstreits“ hierzulande Schulterschlüsse von der Künstlerin bis zum Kulturminister, vom Provinzgaleristen bis in die Berliner Stiftungsdirektionen hervorrief, macht deutlich, daß dem Kurator aus seiner „eigentümlichen Perspektive eines seit 1993 in den neuen Bundesländern wohnhaften Westdeutschen“1 ein wesentlicher Aspekt der Realität von DDR-Kunst entgangen war: Nicht, daß die – im Westen verpönte – außerkünstlerische Bedeutung dieser Kunst generell übergangen worden wäre. Nein, denn deren erste, politische Dimension bildete ja gerade den Ausgangspunkt der polemischen Auswahl zum Thema „Fall der Moderne“. Es gab aber noch eine zweite. Wo sich nämlich in ungegenständlichen Materialmonotypien oder allegorisierend-hintergründigen Blättern eine Arbeit dem Zugriff der trivialen Politisierung entzog, begann die eigentliche gesellschaftliche Relevanz dieser Kunst zu greifen: Die im „anything goes“ beinahe unmögliche, im System totalitärer Vorschriften aber zu bewerkstelligende Subversivität von Kunst erfüllte eine kommunikative Funktion, in der sie offenbar so stark war, daß sie bis heute prägt, bis heute trägt. Das hatte der Westen nicht erwartet.
Diese Kommunikationsfunktion in einem echten Dialog zwischen Ost und West wiederum zu kommunizieren, zu gewichten und zu würdigen ist noch zehn Jahre nach der Wende Desiderat. So waren es denn auch kluge Journalisten wie Eduard Beaucamp von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die von Beginn der Debatte an vom Westen aus Verständnis für die östliche Position zu zeigen bemüht waren. In kleinen Bildartikeln oder umfangreichen Dossiers machte Beaucamp in der Folge auf die alten und jungen Gegenständlichen ostdeutscher Hochschulen aufmerksam, auf große Allegoriker wie Werner Tübke oder Michael Triegel.2
In diesen Kontext hinein nun, 1999, gilt es am 12. November des 100. Geburtstags des Dresdner Künstlers Wilhelm Lachnit zu gedenken. Auffällig ist für die Person, für den Künstler Lachnit die Vielfalt und Diversität der Funktionalisierungen. Die Unterschiedlichkeit der Beschreibungen und Interpretationen lassen bei der Lektüre von Stellungnahmen seiner Freunde, Schüler und Kollegen gegen die Lektüre kunstwissenschaftlicher Untersuchungen fast zwei verschiedene Menschen – und zwei verschiedene Künstler – hervortreten. Der „Dresdner Raffael“ – Ehrenbezeichnung durch Kollegen, die Lachnit aufgrund seiner meisterlichen Beherrschung transparenter Lasurtechniken zuteil wurde – blieb freilich nicht verschont von der nationalsozialistischen Ausgrenzung als „entartet“. Er blieb aber auch vom Richtungsstreit im Ringen um eine sich ausbildende Kunst des „sozialistischen Realismus“ nicht unbehelligt. 1954, nach sechs Jahren Lehrtätigkeit und einem Jahr Beurlaubung, schied Lachnit, dessen Lehrmethoden und -inhalte als formalistisch und „zu experimentell“ für „nicht eindeutig im Einklang mit dem Hochschulprogramm“ befunden wurden, unter dem Rektorat des Hans Grundig ablösenden Rudolf Bergander aus der Dresdner Hochschule für Bildende Künste aus.3
Umso erstaunlicher ist es, in den in der DDR erschienenen Publikationen – und soweit ich sehe, existieren keine jüngeren – der Vereinnahmung der Kunst Wilhelm Lachnits durch die sozialistische Kunstkritik zu begegnen (es wird darauf zurückzukommen sein). Einer nach wie vor ausstehenden umfassenderen Arbeit zu Wilhelm Lachnit scheint somit vorbehalten zu sein, dieses Werk im heute auch in Ostdeutschland gültigen gesellschaftlichen Kontext anschlußfähig zu machen. Im folgenden soll, über den Zugang zur allegorischen Dimension einiger seiner Arbeiten, ein erster Versuch einer solchen rein kunstgeschichtsbezogenen, apolitischen und nicht funktionalisierenden Kritik seiner Kunst unternommen werden.
Zur Auswahl der Arbeiten
Die Arbeiten, die die Ausstellung des Kunstvereins Ausstellungshalle Gotha e.V. und des Schlosses Friedenstein aus dem graphischen Werk Wilhelm Lachnits zeigen kann, sind durchgängig als dem Spätwerk, nämlich der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, entnommen anzusehen. Denn wie sollte man sonst das Werk aus dem letzten Lebensdrittel eines Künstlers bezeichnen, der schon in sehr jungen Jahren zu hohem Ruhm gelangt – seine Teilnahme an der „Ersten Allgemeinen Kunstausstellung“ der Sowjetunion mit fünf Werken führte 1925 zum Ankauf des Gemäldes Dresdner Bahnüberführung durch die Leningrader Eremitage, die Dresdner Gemäldegalerie kaufte im Jahr darauf Lachnits Mädchen im Pelz, seine Darstellung der Fotografin Maria Tokeva, an –4, und der nach Überschreiten der Lebensmitte aus zweierlei Gründen ganz neu beginnen muß: Als „entarteter“ Künstler seit 1933 mit Ausstellungsverbot belegt, schlägt Lachnit sich mit Gelegenheitsarbeiten u.a. als Ausstellungsgestalter durch, um in der Dresdner Bombennacht des 13./14. Februar 1945 einen großen Teil seines Frühwerks in den Flammen zu verlieren.5
Dennoch sind auch im letzten Lebensdrittel Lachnits noch unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte auszumachen. Hans-Ulrich Lehmann hat anläßlich einer Ausstellung von Aquarellen, Zeichnungen und Pastellen Lachnits im Dresdner Kupferstich-Kabinett Mitte der 70er Jahre die Perioden der Pastelle (seit 1940), der Temperaarbeiten (ab 1945), der experimentellen Hinwendung zur Monotypie und zur Radierung (zwischen 1954 und 1956), der „leichtflüssigen Aquarelle“ (nach 1956) sowie der konstruktivistisch beeinflußten schwarzen Zeichnungen und der Farbradierungen (ab 1960) systematisiert.6
Unter letzteren sind insbesondere die Arbeiten aus dem anläßlich einer Kur in Bad Elster 1961 entstandenen Zyklus der „Quellebilder“ hervorzuheben.7 Dieser Zyklus, der neben Farbradierungen auch Aquarelle, ja sogar bemerkenswerte Mischtechniken unter Verwendung von Kugelschreiber, Tusche und Fettkreide umfaßt, ist in vorliegender Publikation mit einer Sammlung von sieben Blättern vertreten (Vgl. Taf. 18-24).
Einen weiteren Schwerpunkt setzt der Katalog mit einer Auswahl verschiedenster Blätter aus der vielfältig und in unterschiedlichen Techniken bis hin zum Gemälde gestalteten Serie von „Bedrohungsbildern“8 (Vgl. Taf. 8, 12, 15-16, 37-39), deren Beginn Friedegund Weidemann um das Jahr 1953 situiert9. An anderer Stelle bezeichnet Weidemann diese „Bedrohungsbilder“ als Gipfel eines künstlerischen Schaffens, das in der Darstellung einer „zarten Wehrlosigkeit“ in Portraits, Akten, Stilleben und Landschaften ein Lachnits Arbeiten durchziehendes Hauptmotiv zu erkennen gibt.10
Eng mit der Bedrohungsthematik verwandt sind die auf den ersten Blick meist harmlos wirkenden Fischestilleben, aus deren Reihe im engeren Sinne sich hier nur eine Abbildung findet (vgl. Taf. 13). Bisher in der Literatur entweder als Beispiel des „lyrischen Realismus“ Lachnits verharmlost und anderen Stilleben subsummiert – der „‘lyrische Realist’ Lachnit, wie Diether Schmidt den Künstler treffend charakterisierte, zeigt sich darüber hinaus in den Stilleben mit Fischen und anderen Dingen des Alltags wie in figürlichen Darstellungen“11 – oder als „Konfrontation von Natürlichem mit Masken, Büsten, Torsi oder Riesenfischen“ zu einer disparaten Gruppe von Bedrohungsbildern zusammengefaßt, harren die Fischestilleben bis heute einer genaueren, nämlich ikonographischen Deutung ihres spezifischen Bildinhalts. Eine Verbindung des Fischbildes zur Bedrohungsthematik haben wir in der Radierung Fischsong von 1958 (vgl. Taf. 14) gefunden. Aufschlußreich für die spezifische Symbolik des Fischs ist aber auch der Fischzug (vgl. Taf. 17), dessen oben und unten verkehrende Abbildung in dem jüngsten Katalog Wilhelm Lachnit 1899-1962 von 1990 den fehlenden Bezug der bisherigen Forschung dem Bildinhalt gegenüber sinnfällig zu machen scheint.12
Die „leichtflüssigen Aquarelle“ verdanken ihre Entstehung einer Studienreise, die Wilhelm Lachnit in Begleitung seines Freundes und Kollegen Karl Kröner 1956 nach Italien unternahm. Venedig I, Venedig II und Am Wasser13 (vgl. Taf. 26-28) fangen mit der besonderen Technik dieser Aquarelle zugleich die Stimmung inspirierender südlicher Gegenden ein. Die Technik selber kommt in den Akten (vgl. Taf. 11-12) in ebenfalls überzeugender Weise zur Geltung.
Das Zirkussujet, in der Forschung als „Metapher für die Existenzproblematik der Kunst und des Künstlers“14 gelesen, nimmt einen wichtigen Platz im thematisch so breitgefächerten Schaffen Lachnits ein. Die Art und Weise, in der mit diesen Bildern die ‘Utopie’ des ‘Nirgendwo’ ins ‘Alibi’ einer ‘Anders-Welt’ verschoben wird, scheint einen abgeklärten Realisten Lachnit zu offenbaren, dessen Erfahrung einer lange – und letztendlich vergeblich – verfolgten Utopie ihn die konkrete Berechenbarkeit des diskursiven Spiels mit den Masken der Identität als Lebensmaxime destillieren läßt. In vorliegendem Katalog findet sich die Zirkusthematik in vier Blättern repräsentiert (vgl. Taf. 31-34).
Abzurunden versucht der Katalog seine Auswahl in der Abbildung einer der berühmten Morgen-Aquatinten Lachnits (Taf. 6-7), zweier Blätter aus der Strandkorb-Serie (Taf. 29-30) sowie einzelner Portrait- und Tuschezeichnungen, die die Breite des zum Teil so einfach und verspielt daherkommenden Schaffens verdeutlichen sollen.
Zur Rezeptionsgeschichte
Die Rezeptionsgeschichte des Œuvres Wilhelm Lachnits stellt sich, wie angedeutet, als eine Geschichte der unterschiedlichen politischen Funktionalisierungen seiner Kunst dar - Funktionalisierungen, die jeweils das Handwerkliche ebenso wie die Wahl der Sujets miteinbegreifen.
Mag diese Funktionalisierung für den frühen Lachnit der 20er Jahre die Intention des Künstlers treffen – 1925 tritt Lachnit in die KPD ein, vier Jahre später gehört er zu den Gründungsmitgliedern der Dresdner Ortsgruppe der „Assoziation revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands“ ARBKD, auch ASSO genannt –, so scheint die hieraus abgeleitete Festschreibung der Politisierung auch des späten Lachnit durch die DDR-Kunstgeschichtsschreibung angesichts dieses Spätwerks ein wenig gewollt. So sollte man heute die Beobachtung einer „Neigung zu sinnbildlicher Darstellung der unantastbaren Würde sozial gefährdeter menschlicher Existenz“ in dieser Allgemeinheit auf das Frühwerk Lachnits beschränken, nicht aber in der Formulierung, „schon das Frühwerk“ zeige diese Neigung, den frühen Schaffensantrieb auf das Spätwerk projizieren.15 Auch in Feststellungen wie: „Wo Dix aggressiv, gleichsam mit scharfem Messer sezierte und so die häßliche Anatomie des bourgeoisen Klassenstaates bloßlegte, spürte Lachnits Verismus in der Enge und Nüchternheit kleinbürgerlich-proletarischen Milieus die Wahrhaftigkeit und Würde dieses schlichten Seins auf“16, scheinen allzusehr die Formulierungen einer die Wahrnehmung spurenden Sprachstereotypisierung im totalitären, weil alles Leben durchdringenden politischen System auf, als daß solche Hinweise für eine heutige Lesart und Einordnung der Kunst Wilhelm Lachnits noch dienlich oder auch nur anschlußfähig sein könnten.
Daß die Ausgrenzung Lachnits durch die Nationalsozialisten ausschließlich für ihn spricht, braucht nicht betont zu werden. Aber reicht es für eine angemessene Würdigung der ganzen Summe seines heute verfügbaren Werkes aus, sich in der bisher wahrlich nicht allzu umfangreichen diesbezüglichen Forschungsliteratur zunächst immer wieder darüber zu freuen, daß Lachnit ein Stinkendes Hakenkreuz gemalt hat?17
Zu Recht scheint Hans-Ulrich Lehmann zumindest für das spätere Werk des Künstlers darauf hinzuweisen, daß Lachnit „auf Zeitereignisse [...] zurückhaltend“ reagierte. „Konkrete Ereignisse hat er auf den Blättern kaum dargestellt. Er suchte aber die allgemeinen Beziehungen in abstrahierten Allegorien zu erfassen.“18 Und zu Recht wird denn auch, als wäre dies selbstverständlich, in jeder der größeren Publikationen zu Wilhelm Lachnit auf die (christlich )allegorische Dimension der Arbeiten hingewiesen, die alle Schaffensphasen des Künstlers durchzieht.19 Umso bedauerlicher ist es, daß bisher jede detailliertere motivgeschichtliche Arbeit für diese überzeitlichen Bilder – die Blumen des Traurigen Frühlings, die offensichtlich mythologischen Themen, die in Stilleben versteckten Allegorien – fehlt. Es scheint mir nämlich eben dieser allegorische Aspekt zu sein, der als überzeitliche Dimension eines kunstimmanenten Bezugs dem Werk Wilhelm Lachnits eine bleibende Position in der Kunstgeschichtsschreibung sichern kann. Es ist heute, im Kontext einer westlichen Gesellschaft, unmöglich, Kunst durch ihre Situierung in einem politischen System auf,- ab- oder überhaupt zu bewerten. Kunst ist selber ein System, innerhalb dessen die internen Bezüge der künstlerischen Sammlungen dem einzelnen Werk seinen Platz und seine Relevanz zuweisen. Das, was in der DDR die Subversivität eines Kunstwerks ausmachen konnte – die Allegorie, die es dem politisierenden Zugriff entzog – ist eben das, was dieses Werk heute überhaupt lesbar bleiben läßt. Alles, was nur als positive oder negative Reaktion auf gesellschaftliche Zustände verständlich war, bedarf der gedanklichen Rekonstruktion dieser Zustände, um seine Bedeutung nicht einzubüßen. Sein Wert reduziert sich auf den des Zeitdokuments.
„ ... und das ganz Schreckliche zugleich, das sie zerstört“
Übersetzt in die derzeitige kunstwissenschaftliche Terminologie würde man sagen, Lachnit gehe es um die Darstellung des Andern, des Nicht-Identischen, die Darstellung dessen, das sich der Festschreibung und Identifizierung entzieht und eben darum allererst Identität ermöglicht. Es geht um die Darstellung dessen, das, um die Homogenisierung einer Gesellschaft zu ermöglichen, ausgegrenzt und tabuisiert wird, doch als Bedrohliches, Unberechenbares stets wieder zurückkehrt. Das Verdrängte ist – auf gespenstische Weise – immer präsent.
„Ich möchte etwas schaffen, ganz gigantisch, ganz streng, ganz klassisch und doch voller Duft. Es soll die Menschen zeigen, wie sie hoffend leben und das ganz Schreckliche zugleich, das sie zerstört.“20 Dieses wiederholt zitierte Programm Wilhelm Lachnits faßt den soeben postulierten Darstellungswillen in dem einen Wörtchen „zugleich“ zusammen: Es geht um die Darstellung des Lebens und zugleich der Möglichkeit seiner Zerstörung, um die Darstellung der Hoffnung und zugleich des Schreckens, um die Darstellung des Identischen und zugleich des Anderen. Dabei finden sich in Lachnits Bildern beiderlei Spielarten der Darstellung des „Schrecklichen“: in der Darstellung als Schrecken, d.h. als bereits wahrgenommene Bedrohung, wie in der Darstellung eines noch nicht sichtbaren, erst dunkel geahnten Beunruhigenden, das die Figur eines Bildes umtreibt.
Ein Beispiel für die schon nahe, schon faßbare, schon abbildbare Gefahr stellt das halb im Skizzenhaften verbliebene Aquarell der einen Säugling schützenden Frau dar (vgl. Taf. 38). In einer Szene der sprichwörtlichen, zu einer Situation akuter Bedrohung zugespitzten Feindschaft von ‘Hund und Katze’ im Hintergrund des Bildes gespiegelt, in der eine rote, spitze Zunge des Hundes den Phallus zu symbolisieren scheint, wird die Zudringlichkeit der schwarzen männlichen Gestalt im Vordergrund der Darstellung in ihrer Unheimlichkeit unmittelbar evident. Die (Nicht-)Farbigkeit der gänzlich in Schwarz gehüllten, sogar mit einem schwarzen Schnurrbart versehenen Figur greift die kulturhistorisch alte Farbsymbolik des Todes auf. Die aus dem Lot verschobenen Geometrien berstender Wände – hier eines Fachwerkbalkens – kehren als Veranschaulichung des ‘hereinbrechenden’ Bösen in den um 1960 entstandenen Bedrohungsgemälden immer wieder.21 Bildstrukturierend waren die Geometrien des Berstens und Splitterns schon in dem Gemälde Der Tod von Dresden (1945). Ihre Semantisierung hat sich somit über 15 Jahre hinweg im Schaffen Lachnits erhalten.22
Als Beispiele eines ‘Beunruhigungsbildes’ zeigt der vorliegende Katalog die Aquatinta-Radierung „Gewitter“ (vgl. Taf. 8) sowie einen aquarellierten Akt (vgl. Taf. 12). Auffällig ist hierbei, daß sich die Darstellung durch die Blickrichtung der Figuren über den Blattrand des Bildes hinaus ausdehnt. Die Figuren sind nicht sinnend in Kontemplation versunken (wie der Halbakt Taf. 25), sie korrespondieren nicht mit einer anderen dargestellten Figur (wie der Clown mit dem Affen, Taf. 34) oder ihrem Spiegelbild (wie der nachdenkliche Clown, Taf. 31), noch blicken die Figuren aus dem Bild heraus, um in Kontakt mit dem Betrachter zu treten (eine Blickrichtung, die sich überhaupt fast nie bei Lachnit findet, wohl bei einem frühen Mädchenakt, einem Clownskopf, dem Portrait des Arztes Dr. Rostowsky)23.
Kennzeichen der Figuren auf den ‘Beunruhigungsbildern’ ist es, mit weit aufgerissenen Augen, häufig über den der drohenden Gefahr zugewandten Rücken, wie gebannt auf eine im Bild selber nicht faßbare Gefahr zu starren. Die Blickrichtung, senkrecht zum Rumpf der Figur, ist gegenüber der Raumgeometrie in einen spitzen Winkel verschoben. Wie in den „Bedrohungsbildern“ der berstenden Wände kommt die Gefahr frontal auf die Figuren zu. Gegenüber der ruhig-waagerechten Fließrichtung des Horizonts, des Strandes oder der Innenraumarchitektur wird die Unruhe der Figur in ihrer schützend-gekrümmten Körperhaltung, im verdrehten Kopf wie im verschobenen Blickwinkel der fixierenden Augen spürbar. Diese aufmerksamen Blicke der Figur holen das Jenseits des Blattes in die Darstellung hinein. Das Häßliche und Bedrohliche der Darstellung liegt außerhalb des Bildausschnitts.
Hieraus resultiert nun die bekannte Gefahr der Ästhetisierung, ja Erotisierung des Bösen. Die Ikonographie der vollständigen Nacktheit der weiblichen Figuren deutet auf deren Geisteszustand paradiesischer Unschuld und unwissender Naivität: Wir sehen Eva vor dem Sündenfall. Die solchermaßen als hilflos bedroht dargestellte Frau ist schön. Die Aktdarstellung im erschreckten Moment erstmalig aufkeimender Erkenntnis beläßt den Bildern die Deutungsmöglichkeit der sexuellen Bedrohung. Die Gefahr wird zur Darstellung des möglichen Sündenfalls, des Genusses vom ‘Baum der Erkenntnis’. Erkennen und Lieben aber sind im biblischen Sprachgebrauch ein und dasselbe.
So geriete die Darstellung allgemeiner Bedrohung des Menschlichen im typischen Sujet der abendländischen Kunst zur erotischen Männerphantasie.24
Zur Ikonographie des Fisches
Wilhelm Lachnit war sich der Gefahr einer solchen Ästhetisierung der Bedrohung bewußt. Dies jedenfalls scheint einer anderen Reihe seiner Bilder ablesbar: den Fischestilleben, deren offen gewalttätige sexuelle Implikationen eigenartigerweise bisher unbeachtet geblieben sind.
In seiner Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole belegt Donat de Chapeaurouge an Gemälden wie Jan Steens „Fröhlicher Gesellschaft“ die eindeutige Symbolik des Fisches als Penis: „Mit Flöte, Krug und Vogel gehört auch [der Fisch] zu den Erotica“.25 Von der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts ausgehend, zeigen noch im Jahrhundert darauf Gemälde Bouchers, daß Künstlern wie Publikum die Symbolik vertraut ist und in gemischtgeschlechtlichen Szenerien zur hintergründigen Darstellung kommt.
Die Fischestilleben Wilhelm Lachnits sind unter den Bedrohungsbildern somit die selbstbezüglicheren. Der Fisch als Bedrohung ist in die Darstellung einbezogen und damit greifbar und angreifbar gemacht.26 Hauchzart, im Dekor fast nur zu ahnen, wird im Stilleben mit Fischen (vgl. Taf. 13) der Frauenakt auf dem (Präsentier)Teller serviert. Dieser Darstellung ist alle Erotik unter der erdrückenden Gewalttätigkeit des Dargestellten abhanden gekommen. Die ganze Bildaussage, die einmal eine erotische hätte sein können, ist in die blinde Gültigkeit der Metapher verschoben.
Der Akt der Fisch-Frau in der Radierung Fischsong (vgl. Taf. 14), unter der Galerie im Licht des Kronleuchters deutlich im gehobenen bürgerlichen Milieu situiert, enthält in der Bedeutsamkeit des Oben und Unten, in der deutlichen Feindseligkeit der Darstellung gegen die in Dixscher Manier karikierten „bösen Kapitalisten“ eine noch offenere Parteinahme für die ausgestellte, zum Objekt einer verbrauchenden Begierde degradierten Frau. Die strukturellen Parallelen, die das Bild zu Christus- und Harlekindarstellungen Lachnits sowie zu der wie von einer Galerie herab verlachten Taube auf Krücken besitzt (vgl. Taf. 15-16), sichern die Deutung des Fischsongs als aufrüttelnde, die Bedrohung anklagende Arbeit noch einmal ab.
Dieselbe Symbolik, aber eine völlig andere Implikation der Sexualität zeigt der Fischzug (vgl. Taf. 17), in dem eine weibliche Figur jede Menge Fische in einem großen Netz fängt. Die Gefährdung, bleibt man im Bild des Fischfangs, besteht hier zu Ungunsten der Fische, denen in den „Fängen“ der Frau bald die Luft – bzw. das Wasser – ausgehen wird.
Ein Gedicht Charlotte Grasnicks zum Werk Wilhelm Lachnits hat mich frappiert, da es gleichsam als Übergang von den Fischestilleben zu den Quellebildern des kranken, leidenden Lachnit geschrieben scheint. Auch in diesem Gedicht wird deutlich mit der sexuellen Symbolik des Fisches gespielt. Es ist das Gedicht Don Juans später Monolog27:
Don Juans später Monolog
Die Qual taucht
aus dem gleichgültigen
Wasser auf:
Niemand mehr wird
beunruhigt sein
durch mich,
und die Nacht kommt
ohne die abenteuerliche Frage,
mit welcher Trophäe
mein Lager geschmückt sein wird.
Alles ist Distanz geworden:
Frauen ziehen
als ferne Wolken,
täglich sterbe ich
im Schoß einer
unerreichbaren Geliebten,
und nachts verfolgt mich
der Alptraum,
ich wäre ein Fischer,
der einholt immer
ein leeres Netz -
Don Juan,
der Wind und die Vögel
bedrängen dich,
sind die Bewegung, die deine Müdigkeit
größer erscheinen läßt.
Don Juan,
da ich dich einsam
jetzt deinen Weg gehen sehe,
rührt mich dein schmal gewordener
Schatten an -
war ich nicht
ein Teil auch von dir?
Was bleibt? Seinerseits bedroht (vgl. Taf. 39): Der alte Mann und das Meer.
Cornelie Becker-Lamers
Der Text erschien im Druck in:
Cornelie Becker-Lamers – Wolfgang Finkbein (Hg), Wilhelm Lachnit 1899-1962. Aus dem graphischen Werk. Eine Ausstellung zum 100. Geburtstag des Künstlers am 12. November 1999. 7. November 1999 bis 6. Januar 2000: Galerie Finkbein, Gotha. 7. November 1999 bis 9. Januar 2000: Schlossmuseum Friedenstein Gotha, Galerie im Brettersaal. 13. Februar 2000 bis 30. April 2000: Villa Eschebach, Dresden, Gotha: Kunstverein Ausstellungshalle e.V. 1999, S. 10-17.
ISBN 3-00-005141-4.
Der vollständige Katalog mit 39 z.T. farbigen Abb. ist zu beziehen über:
Galerie Finkbein – Bautzner Straße 4 – 01099 Dresden
1Achim Preiß, Offiziell/Inoffiziell - die Kunst der DDR, in: Aufstieg und Fall der Moderne, hg. von Rolf Bothe und Thomas Föhl, Kunstsammlungen zu Weimar, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1999, S. 450-464, S. 450.
2Frankfurter Allgemeine Zeitung, Juli 1999 anläßlich des 70. Geburtstages Tübkes bzw. einer Personalausstellung zu Triegel im Stadtmuseum Bautzen.
3Zitate vgl. Wilhelm Lachnit 1899-1962. Gemälde Graphik Zeichnungen, zur gleichnamigen Ausstellung vom 5. Juli bis 19. August 1990 hg. von der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste der DDR, Berlin 1990, S. 33.
4Vgl. hierzu Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., S. 13 sowie Friedegund Weidemann, Wilhelm Lachnit, Dresden: Verlag der Kunst 1983 [= Maler und Werk] S. 1.
5Vgl. Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., S. 12.
6Wilhelm Lachnit. Aquarelle, Zeichnungen und Pastelle, hg. von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zur gleichnamigen Ausstellung vom 14. Dezember 1977 bis 17. Februar 1978, Dresden o.J. [1977] [=Erwerbungen 29], S. 2-4. In Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., bestimmt Friedegund Weidemann den Beginn des Spätstils Wilhelm Lachnits „um das Jahr 1950“ (vgl. ebd. S. 33).
7Vgl. Wilhelm Lachnit [Maler und Werk] a.a.O., S. 26f.
8Vgl. hierzu bereits den Untersuchungsansatz von Friedegund Weidemann in Schönheit und Bedrohung im Werk Wilhelm Lachnits. Ausstellung zum 80. Geburtstag, Staatliche Museen zu Berlin 1980 [=Das Studio 23], S. 1-3.
9Vgl. Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., S. 34.
10Wilhelm Lachnit [Maler und Werk] a.a.O., S. 3.
11Wilhelm Lachnit-Katalog 1977, a.a.O., S. 3.
12Vgl. Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., S. 23. Die Monotypie ist hier als „Der große Fischsong“ bezeichnet.
13Die Arbeiten sind vom Künstler nicht betitelt. Die genannten Bezeichnungen entstanden im Verlauf der Bildauswahl für diesen Katalog.
14Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., S. 33.
15Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., S. 12.
16Wilhelm Lachnit [Maler und Werk] a.a.O., S. 2.
17Schönheit und Bedrohung, a.a.O., S. 1; Wilhelm Lachnit [Maler und Werk] a.a.O., S. 5.
18Wilhelm Lachnit-Katalog 1977, a.a.O., S. 3.
19Wilhelm Lachnit-Katalog 1977, a.a.O., S. 2; Schönheit und Bedrohung, a.a.O., S. 2; Wilhelm Lachnit [Maler und Werk] a.a.O., S. 5; Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., S. 15.
20Vgl. z.B. Schönheit und Bedrohung, a.a.O., in dem Friedegund Weidemann dieses Zitat ihrem einleitenden Text als Motto voranstellt.
21Vgl. Abbildungen in Schönheit und Bedrohung, a.a.O.
22 Vgl. Abbildungen von Bedrohungsbildern in Schönheit und Bedrohung, a.a.O., sowie des Todes von Dresden in Gedächtnisausstellung Wilhelm Lachnit, a.a.O., S. 19.
23Vgl. Wilhelm Lachnit 1899-1962, S. 35 bzw. Schönheit und Bedrohung, „Kopf eines Clowns“ 1953.
24Ist es nicht genau diese aus Männersicht erotische Dimension, die den „Akt mit Homerkopf“ von Wilhelm Lachnit ausmacht: die wie tot schlafende, wehrlose Frau - zu allem Überfluß mit im Schlaf erhobenen Armen, der Geste des „Ich ergebe mich“ -, neben der scheinbar wie ein wacher Kopf blickenden Büste des alten, blinden Sängers. Friedegrund Weidemann hat dieses Bild wiederholt in die Reihe der Bedrohungsbilder eingeordnet, immer jedoch ohne es genauer zu interpretieren (vgl. Wilhelm Lachnit 1899-1962, S. 34 sowie Schönheit und Bedrohung, S. 3; ebd. S. 5 auch Abbildung). - Elisabeth Bronfen hat in ihrer umfangreichen Habilitation Nur über ihre Leiche 1993 eine umfangreiche Studie zu dieser Thematik vorgelegt.
25Donat de Chapeaurouge, Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole, 3., verbesserte Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 136f, Abb. ebd. Taf. 44.
26Frappierend ist die bedrohende Implikation des „kleinen Torso und Fisch“ von 1959, das der Katalog Wilhelm Lachnit 1899-1962, a.a.O., als Titelbild gewählt hat, ohne im Text mit einem einzigen Wort auf diese Aquatintaradierung näher einzugehen.
27Charlotte Grasnick - Ulrich Grasnick, Flugfeld für Träume. Liebesgedichte. Mit 15 Reproduktionen nach Grafiken von Wilhelm Lachnit, Berlin: Verlag der Nation 1984, S. 34-35.