Wahlverwandtschaften. Stefan Böhm. Steinskulpturen
Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Wahlverwandtschaften" in der Reihe "Kamelie & Skulptur" der Stiftung Weimarer Klassik
Orangerie Belvedere, Sa, 4. März 2023, 15h
Sehr geehrte Frau Dr. Ludwig, liebe Elke Gatz-Hengst, lieber Stefan Böhm,
sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, daß es Elke Gatz-Hengst gelungen ist, gerade die Skulpturen von Stefan Böhm in der Reihe "Kamelie & Skulptur" an genau diesen Ort zu bringen. Am Ende meiner Ausführungen werden Sie verstanden haben, warum diese Einleitung nicht einfach eine Floskel ist. Tatsächlich geht die Stimmigkeit des Konzepts noch weit darüber hinaus, daß Stefan Böhm in die Orangerie Steine bringt, die schlicht hierher gehören. Skulpturen aus Ehringsdorfer Travertin sind einfach hier zuhause. Wie bewußt dem Bildhauer das ist, zeigt die Tatsache, daß er uns auf seiner Werkliste nicht nur die Gesteinssorte, sondern auch die Herkunft seiner Steine benennt.
Aber der Reihe nach: Stefan Böhm wurde 1975 in Weimar geboren und ließ sich zunächst in Arnstadt zum Metallgestalter ausbilden, bevor er den Stein als Werkstoff für sich entdeckte. Eine Ausbildung zum Steinmetz und Steinbildhauer schloß sich ab 1995 an, die er letztlich mit dem Besuch der Meisterschule abschloß. 2007 machte er sich als freischaffender Bildhauer selbständig und ist seit 2020 Mitglied im Verband Bildender Künstler Thüringen. Neben seinen Steinskulpturen schafft Stefan Böhm seit zwei Jahren auch Monotypien auf Büttenpapier, die vom Ansatz her der Konkreten Kunst verpflichtet sind und eine sehr schöne und klare Farbigkeit und zumeist geometrische Formensprache aufweisen.
Zunächst ist Stefan Böhm aber Steinbildhauer. Er konkretisierte seine Ausbildung zum Steinmetz und Steinbildhauer mit dem Arbeitsschwerpunkt Denkmalpflege und war ab 2001 zunächst jahrelang auch tatsächlich in der Denkmalpflege tätig. Das wirft ein erhellendes Licht auf einen Urgrund auch seines künstlerischen Schaffenstriebs: Es geht in den Skulpturen Stefan Böhms - wie individuell konzipiert sie uns auch gegenübertreten mögen - nie nur um das Schaffen von etwas Neuem, sondern immer auch um das Bewahren dessen, was ist.
Allerdings um das veredelnde Bewahren.
Wie haben wir uns das vorzustellen? Ich möchte jetzt bereits meine These formulieren, die ich im folgenden unterfüttern und erläutern werde. Denn im ersten Moment mag sie provozieren. Aber ich glaube, es ist wahr: Bei Stefan Böhm dient nicht das Material der Form, sondern die Form dem Material. In der künstlerischen Vorstellung Stefan Böhms existiert die Form einer Skulptur nicht vor der Entscheidung für das Material. Bei Stefan Böhm ist es nicht das Ideal einer vom Künstler imaginierten Form, die die Suche nach dem Material bestimmt, das der Form bestmöglich Gestalt verleihen kann. Sondern umgekehrt: Die Vorstellung vom Material - also Böhms Wissen darum, was aus einem Stein werden kann und wie sein Inneres beschaffen ist - bestimmt die Suche nach der Form, die dieses Wesen des Steins am besten zur Geltung bringt.
Stefan Böhm geht es nicht um eine Abbildung der Welt - auch nicht in den wenigen figürlichen Skulpturen. Sie entstehen gewissermaßen nolens volens in den Fällen, in denen sie eben einfach aus dem Stein erscheinen. So etwa erging es Stefan Böhm mit dem männlichen Torso aus Jenenser Muschelkalk oder auch dem liegenden weiblichen Torso aus innerstädtischem Weimarer Travertin, schlicht einem Tiefgaragenaushub. Die Abbildung von Welt wird hier in keinem Fall gesucht. Es geht Stefan Böhm aber auch nicht einfach um die Doppelung von Welt - in ungegenständlichen Skulturen. Es geht ihm um die Sichtbarmachung der Welt, und zwar der Welt, wie sie eigentlich ist: steinalt, vielfältig geworden, zauberhaft schön und rätselhaft.
Das klingt jetzt vielleicht kitschig. Aber wenn Sie einmal die Rohlinge in Augenschein genommen haben, die Stefan Böhm im Garten um sein Atelier aufgereiht hat, verstehen Sie sofort, was ich meine. Ich würde sagen: Keine und keiner von uns - Geologen vielleicht ausgenommen - würde in diesen erdbraunen Brocken, die im Atelier am Ruhmberg in Kranichfeld auf ihre künstlerische Bearbeitung warten, irgendein besonderes Potential vermuten, so erdverklebt, bemoost, unscheinbar und alltäglich liegen sie dort. Stefan Böhm aber genügen zentimeterkleine Ausbrüche an den Rändern des Steins, um zu erkennen, was aus diesem Werkstück beispielsweise nach seiner Politur einmal werden kann. Sein geübtes Auge sieht, aber sein Inneres spürt auch, was in dem einen oder anderen Stein wesenhaft steckt, und er nimmt den Stein mit. Ich habe es eingangs schon erwähnt: Die Liste zu Stefan Böhms Arbeiten hier in der Orangerie gibt nicht nur Auskunft über Titel, Maße und Material jedes Exponats, sondern auch über seine Fundstelle. Das paßt. Stefan Böhm verzeichnet auch die Stelle, an der er einen Stein gefunden - ich möchte fast sagen: kennengelernt hat.
Aber wie um alles in der Welt findet Stefan Böhm seine Steine? Geht er wirklich einfach spazieren? Ja und nein. Hier, in seiner Heimat, kennt er sich geologisch aus und weiß, wo sich die Vorkommen bestimmter Gesteinsformationen befinden. Über die Region hinaus, für Mitteldeutschland, beliest er sich und macht sich kundig, wo zu finden sein müßte, was er bearbeiten will. So kommt beispielsweise Pikrit - uns allen bekannt durch Walter Sachs' versunkenen Riesen am Frauenplan - Pikrit also wohl recht selten vor, so daß man von einer der wenigen Fundstellen bei Bad Lobenstein aus den Stein über die deutschen Grenzen hinweg exportiert hat.
Nach seiner Recherche durchstreift Stefan Böhm dann doch die Natur nicht nur schauend, sondern vor allem spürend. Wie eine wandelnde Wünschelrute nimmt er Schwingungen und Atmosphären wahr, die eine Landschaftsformation, aber auch bereits ein einzelner Stein ausstrahlen. In Gesprächen mit dem Künstler teilt sich sein außergewöhnlich reines und tiefes Empfinden für die Natur mit.
Dieses Empfinden ist sehr differenziert und vielleicht in allen Menschen angelegt. Aber die wenigsten von uns haben gelernt, diese Regungen bewußt wahrzunehmen oder gar zu reflektieren. Stefan Böhm tut das. Das ist eines der Geheimnisse seiner Kunst. Das heimische Kalksteingebiet beispielsweise, also der eigene Naturraum aus Muschelkalk, den der etwa 4 x 12 Kilometer große Höhenzug des Ettersberges darstellt, wirkt beruhigend auch auf Stefan Böhm selber. So beschreibt es der Künstler, und so wird deutlich, daß er Steine nicht nur äußerlich erkennt und auf Hochglanz poliert in Szene setzen möchte. Nichts könnte falscher sein, als hier etwa ein Interesse auf Effekt oder eine Suche nach dem bloß Dekorativen zu vermuten. Nein: Stefan Böhm weiß um die Wirkmächtigkeit auch anorganischer mineralischer Präsenz.
Pikrit, ein basischer Stein, der durch einen hohen Olivin-Anteil bestimmt ist, kann aggressiv machen. Er ist von so ungewöhnlicher Präsenz, hart und undurchdringlich. Man könnte ihn mit dem Paradox einer strahlenden Dunkelheit beschreiben. Das kann eine schwer bestimmbare Angst hervorrufen, deren Empfindung man schlecht einfangen kann. Und so beobachtet Stefan Böhm denn auch an seinen Atelierbesuchern zuweilen eine wachsende Nervosität in der Gegenwart dieser polierten Steine, die ihnen ganz schleichend zu nahe rücken.
In bizarren Formen treten uns Stefan Böhms Skulpturen aus Basalt, Diabas und Dolerit entgegen. Immer wechseln sich streichelweich polierte Flächen mit aufgerauhten, gezackten Formationen ab. In wenigen Werken ist die unterschiedliche Oberflächenstruktur verschiedenem Gestein zugeordnet, wie hier in der Ausstellung im Werk "Kontemplation". In "Kontemplation" umhüllen zwei polierte Wangen aus Dolomit einen gekerbten und strukturierten Kern aus Muschelkalk. Travertin glättet Stefan Böhm wie hier im liegenden weiblichen Torso, in der "enigmatischen Form" oder dem "paläolithischen Kopf" soweit, bis Gipsausspülungen und Lufteinschlüsse zum Vorschein kommen, in denen die versteinerten Reste kleiner Pflanzen und Tiere versteckt sind. Die Zerklüftungen und organischen Wucherungen bleiben unberührt vom Bildhauerwerkzeug, und hier darf sich auch gern die Natur mit ihren Moosgewächsen ihren Teil zurückholen. Im Hartgestein scheint jeweils ein gesäuberter und aufgerauhter Mantel der Skulptur letztlich die Aufgabe zu haben, die polierte Fläche hervorzuheben - selbst wenn diese konkav zurückweichen sollte. Ein strukturierter und lebendig gestalteter Teil des Steins unterstreicht die im Wortsinne blendende Schönheit der glatten Fläche, die das Licht mit der Reinheit eines Wasserspiegels zurückwirft.
Also rätseln Sie in keinem Fall über die Form, in denen Ihnen ein Kunstwerk Stefan Böhms begegnet. Denn Stefan Böhm geht es um die Inszenierung der Materialität seiner Kunstwerke. Nicht das Material dient der möglichst perfekten Hervorbringung der Form, sondern die Form dient der möglichst perfekten Inszenierung des Materials.
Mit der Betonung auf perfekt: Stefan Böhm ist durch und durch ein absoluter Ästhet. Dennoch ist die Inszenierung des Steins kein Selbstzweck in seinem Werk. Er weiß nicht nur um die mächtige Ausstrahlung dieser Naturmaterialien, sondern ist auch fest von der Verbindung alles Lebendigen überzeugt. Und mehr als das: darüber hinaus auch von der Verbindung des Anorganischen mit dem Organischen. Darauf verweist der Titel unserer Ausstellung: "Wahlverwandtschaften". Sie kennen den 1809 erschienenen Roman Johann Wolfgang von Goethes, der diesen Begriff aus der Chemie seiner Zeit entlehnt, um die Entwicklung von Liebesbeziehungen zu beschreiben, den Begriff also auf Vorgänge im Menschen anzuwenden. So versucht auch Stefan Böhm mit dem Ausstellungstitel auf die ihm bewußte, uns sicherlich vielfach unbewußte Wirkung der Steine auf uns Betrachtende zu verweisen.
Und damit komme ich zu meinen Eingangsworten zurück. Sie erinnern sich, daß ich sagte, die Stimmigkeit des Ausstellungskonzepts gehe diesmal darüber hinaus, daß Travertin an seinen Herkunftsort zurückkehrt. Und so ist es. Bekanntlich sind es die Pflanzen, die Mineralien, Wasser und Licht in Leben verwandeln - und dabei auch noch so schön aussehen. Und so haben wir diesmal eine "Kamelie & Skulptur"-Schau, die mit den Steinskulpturen von Stefan Böhm die spirituelle Wirkung des Anorganischen auf das Organische inszeniert - und das inmitten zauberhafter Pflanzen, dem leibhaftigen Bindeglied zwischen anorganischer und organischer Sphäre.
Was für ein gelungenes Konzept!
Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag und danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar