Khaled Arfeh
Rede zur Ausstellungseröffnung in der Reihe "Kamelie & Skulptur" der Stiftung Weimarer Klassik
Weimar, Orangerie des Schlosses Belvedere, 5. März 2016
Sehr geehrter Herr Pahl, liebe Elke, lieber Khaled, sehr geehrte Damen und Herren,
der Begriff "Vernissage" leitet sich direkt von dem französischen Wort "vernis" her, das "Lack" oder "Firnis" bedeutet. Zur Vernissage werden künstlerische Arbeiten präsentiert, auf denen der letzte Pinselstrich noch nicht getrocknet ist, die gerade erst abgeschlossen und gefirnißt sind. Mitten aus dem Schaffensprozeß heraus erhalten wir Einblick in das, was einen bestimmten Künstler gerade jetzt umtreibt.
In diesem Sinne ist die heutige Eröffnung wirklich eine Vernissage. Die drei Gemälde, die im Roten Turm installiert sind, wurden in dieser Woche fertig - selbst ich als Laudatorin konnte sie bisher auch noch nicht sehen.
Mit der Ausstellung von Skulpturen des in Weimar ja eher als Maler großformatiger, expressiver Bilder bekannten Künstlers Khaled Arfeh werden wir Zeugen eines Befreiungsschlages: Des Befreiungsschlages eines Künstlers, der nach Jahren voller eher fremdbestimmter Arbeit zu seinem Beruf und seiner Berufung, der Bildhauerei zurückfindet - und des Befreiungsschlages eines Menschen, der sein Leben nicht länger ausschließlich in den Dienst der Aufarbeitung und Verarbeitung schrecklicher Kriegsgeschehnisse in seiner fernen Heimat, Syrien, stellen möchte: "Ich möchte nicht mehr den Krieg malen, ich möchte von dem Syrienthema loskommen", sagt Khaled Arfeh selber.
Vor zehn Jahren schon kam der 1974 in Damaskus geborene Khaled Arfeh nach Weimar. Damals war er Stipendiat der Universität Damaskus, an der er nach seinem zwölfjährigen Schulbesuch und Abitur von 1992-1998 ein Studium der Bildhauerei abgeschlossen und bis 2001 in einem Meisterstudium weitergeführt hatte. In der Betreuung des Bildhauers Fayez Nahri, dessen Schaffen von der naturalistischen Skulptur bis zur abstrakten Installation reicht und in Zusammenarbeit mit Professor Abdo Allah Alssayd schuf er überlebensgroße Skulpturen aus Stein oder Bronze für den öffentlichen Raum in Damaskus und Aleppo. Arfeh unterrichtete die Techniken der Bildhauerei und besaß auch in Damaskus schon ein eigenes Atelier.
2006 kam er an die Bauhaus-Universität Weimar mit einem Promotionsstipendium, um das farbig gefaßte skulpturale Werk in Deutschland und Syrien einem wissenschaftlichen Vergleich zu unterziehen. Aber die praktische Arbeit zog Khaled Arfeh immer wieder in ihren Bann. Er stellte bald fest, daß er kein Wissenschaftler war, sondern Künstler.
Eine Periode der Malerei schloß sich an, erste Ausstellungen im Internationalen Zentrum im Jenaer "Haus auf der Mauer" und in Bad Berka im Coudrayhaus. "Damaskus schläft nicht" hieß die Ausstellung 2010, Bilder der Architektur - ohne einen Gedanken daran, daß in diesen Bildern festgehalten werden würde, was fünf Jahre später womöglich nicht mehr existiert. "Jahreszeiten hier und dort" hieß die Ausstellung im Jahr darauf. Sie zeigte Bilder von Landschaften, etwa ein Thüringer Rapsfeld. Raps wird in Syrien nicht angebaut - und wie man sich vorstellen kann, war der Anblick der schier unendlich scheinenden, leuchtend gelben Felder im Mai hinreichend beeindruckend für einen Künstler, der für Farbigkeit eine besondere Sensibilität besitzt. "Raps. Das ist Gelb" stellte Khaled Arfeh fest, als er mir das Bild zeigte.
In der Folgezeit - etwa in der Ausstellung "Fluchtpunkt" der ACC Galerie im vergangenen August - wurden die Bilder immer düsterer. Sie spiegelten, was Khaled Arfeh aus der Heimat zu hören und zu sehen bekam. Große, isolierte Gesichter zeigen seine Bilder, Gesichter, die in einem Meer aus blauer oder roter Farbe zu ertrinken scheinen. "Die Kinder spielen nicht mehr" oder "Save the childhood" sind reliefartige Halbinstallationen mit zerbrochenem Spielzeug oder einem Kinderstuhl, Installationen, die uns die Situation der Kinder in den Kriegsgebieten vor Augen führen.
"Wir" heißt ein 2x3 m großes Acrylbild aus dem Jahr 2013, das derzeit gerade noch im Gaswerk in der Schwanseestraße zu sehen ist. Große graue Gesichter mit gelben Augen, böse und verzerrt. Sonst nichts.
"Wir" heißt auch eine Skulptur aus Gasbeton, die hier in der Ausstellung gezeigt wird. Die Entdeckung der Gasbetonblöcke, die Khaled Arfeh ausschließlich mit dem Küchenmesser bearbeitet, also auch erstmal ohne teures Werkzeug auskommt, brachten den großen Einschnitt mit sich, von dem ich eingangs schon sprach. Mit der Entdeckung des Werkstoffs Gasbeton oder Porenbeton gelang es Khaled Arfeh, zur Bildhauerei zurückzukehren und zu sagen: Ich kann nicht mehr! Ich kann mich nicht mehr nur noch mit dem Krieg beschäftigen!
Dies ist erst wenige Wochen her, in denen Khaled Arfeh aber all die Skulpturen - und mehr - geschaffen hat, die wir heute hier sehen. Wenn Leistung Arbeit pro Zeit ist, dann ist die künstlerische Leistung, aber auch schlicht die handwerkliche Leistung, der wir hier begegnen, enorm. Sie sehen auf der Preis- und Exponatenliste, daß alle Werke seit Jahresbeginn entstanden sind - keines ist älter als ein paar Wochen oder Tage. In rasanter Abfolge entstanden die abstrahierenden Skulpturen "Form I" und "Form II" sowie aus Gips "In memoriam". Diese Skulpturen variieren Abfolgen abgeschrägter Quader und sich kreuzender Linien. Mit seiner Verschachtelung spitzwinkliger Formen versteckt Arfeh in der Gipsskulptur "In memoriam" Anspielungen auf das Denkmal der "Märzgefallenen", das Walter Gropius 1922 für den Weimarer Friedhof schuf, das in der Nazizeit abgerissen und 1946 rekonstruiert und wieder aufgebaut wurde. Mit seinen ikonographischen Vorlagen wie der Darstellung eines Blitzes oder das Gemälde "Im Eismeer. Die gescheiterte Hoffnung" von Caspar David Friedrich reißt die Erinnerung an dieses Denkmal eine Fülle historischer Bezüge auf, in deren Mitte Khaled Arfeh sein Werk plaziert.
Doch sehen wir noch einmal das Werk "Wir" an. Keine verzweifelten Gesichter - vier Köpfe, von denen zwei wie zu Masken verzerrt sind, die Augen verdrehen. "Wir tragen alle Masken", stellt der Künstler selber fest. Die maskenhaft verzerrten Gesichter rahmen zwei weitere ein: einen mißmutigen Griesgram ohne Augen, dessen Augen irgendwie verstopft sind. Er hat förmlich "Tomaten auf den Augen", wie wir sagen würden. Er sieht nicht, und er will auch nicht sehen. Das letzte Gesicht gehört einer Frau - mit der Burka verschleiert. Wir sehen nur die wachen, wie im Zorn weit geöffneten Augen, aber der Schleier verdeckt den Rest des Gesichts. Wir sehen keinen Mund. Könnte sie sich äußern, wenn sie wollte? Wir können es nicht beurteilen. Wie wir wissen und immer wieder hören, ist und bleibt diese Verschleierung ein Skandalon, ist anstößig für die westliche Kultur.
Das also sind "wir". Von diesem "wir" unbemerkt, im Rücken der vier Gesichter, das Gesicht eines Mädchens, einer Heranwachsenden. Das prächtige, in die Breite wallende Haar umgibt ihren Kopf. Wallendes Haar deutet häufig auf ein unbeschwertes Leben, das sich der Natur, den Elementen, dem Wasser oder dem Wind aussetzt und das Leben genießt. In Khaled Arfehs Skulptur täuscht dieser erste Eindruck. Sieht man sich die Augenbrauen des Mädchenkopfes an, so sieht man: Sie sind ein wenig zusammengezogen, nicht nach oben gewölbt, sondern ziehen über der Nasenwurzel leicht nach unten. Das Mädchen beobachtet also zumindest sehr genau. Die kindliche Unbeschwertheit ist bereits der Sorge gewichen. Aber diese Seite der Skulptur zeigt, neben dem Mädchenkopf noch etwas anderes: Ein Rauten- oder Quadratemuster, das in einem Relief aus zwei übereck stehenden erhabenen und zwei tiefergelegten, zum Teil schraffierten Flächen besteht. Es stellt ein Fenster dar - in Khaled Arfehs Werk ein festes und wiederkehrendes Symbol für die Hoffnung. Fenster - das ist Licht und Luft, ein Ausweg und der Blick in die Ferne. Das junge Gesicht und die Hoffnung - das ist die Zukunft, die sich, unbemerkt von "uns", von den vier älteren, mißmutigen, verstummten, deformierten Gestalten vorbereitet, das ist die Zukunft, die im Wortsinne hinter dem Rücken des "wir" längst begonnen hat.
"Drachenflieger" zeigt noch einmal ein Kindergesicht - erkennbar diesmal ganz deutlich durch die im Kindchenschema gestauchten Formen. Der Drachen ist - wiederum als typische Raute - auf der anderen Seite der Skulptur zu sehen. Wieder Kinder - wieder Hoffnung - Kinder, die wieder spielen, die eine Kindheit haben: Das ist die neue Kunst, zu der Khaled Arfeh mit dieser Ausstellung hier aufbricht.
Das Werk "Florale Form" verwirbelt noch einmal Venezianische Masken - oder ist es doch einfach ein Vogelkopf? - mit dem Relief einer Blume, einer Hand, mit konkaven Formen, die an die rauhe Oberfläche von Kokosnüssen erinnern. Diese Skulptur zeigt besonders deutlich, daß es in den Arbeiten von Khaled Arfeh keine Vorder- und Rückseite gibt. Auch bei "wir" oder den "Drachenfliegern" tut man sich mit der Festlegung von Vorder- und Rückseite schwer, bei den abstrakten Schichtungen von Quadern, Rillen und Schraffuren sowieso. Wie im klassischen Gebot von der Vielansichtigkeit bildhauerischer Werke, halten die meisten seiner Skulpturen von jeder Seite neue Bilder bereit.
Was den Zugriff auf das bildhauerische Material anbelangt, so sehen wir, daß Khaled Arfeh in dieser Ausstellung immer auf dieselbe Ausgangsform zurückgegriffen hat, nämlich den industriell gefertigten Quader von Gasbeton mit seinen vorgegebenen Maßen. Der Künstler muß also ohne Anregung oder Hinweise seitens des Materials auskommen - anders als etwa Anne-Katrin Altwein, die in Weimar ja bestens bekannt ist, oder der Südthüringerin Eva Skupin, die zur Stunde eine Skulpturenausstellung in der städtischen Ada-Galerie Meiningen eröffnet: Beide Frauen arbeiten im Steinbruch, finden Steine und beziehen die Form des Ausgangsmaterials in den Entwurf - oder das Werden - des nächsten Werkes ein. Khaled Arfeh arbeitet ohne Skizze, ohne Hinweise aus dem Material - er beginnt zu schneiden, erstellt die gröberen Umrisse, verfeinert die Formen und arbeitet zuletzt figürliche Details wie Augen oder Schnäbel aus dem Beton heraus.
Ich freue mich, daß wir in Weimar mal wieder so privilegiert sind, Einblicke in die Kunst eines Syrers nehmen zu dürfen und beobachten zu können, wie sich in dieser Kunst die Verzweiflung über den Krieg in der Heimat in Hoffnung kehrt. Wir hoffen mit dir, Khaled, daß die hier zum Ausdruck kommende Hoffnung auch bald einen Grund in der Lebenswirklichkeit des Nahen Ostens findet.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag! Vielen Dank!
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar