Innenleben, Außenraum. Öffentlichkeit, Eigentraum
U-Topie und Er-Innerung in den aktuellen Arbeiten Astrid Albers‘
Die Ausschnitthaftigkeit ihrer Bilder; die Formen, die außer rand und band gesteckte Rahmen überwuchern und über die Leinwand hinaus ihr Eigenleben entfalten; die Dominanz des Blau; eines leuchtenden Blau - eines kühlen Blau; das Wasser als Lebensader, das die Bilder durchzieht und Häuser und Menschen wie eine Perlenschnur an seinen Ufern aufreiht; der See - oder die See - als Ort des Geheimnisses; farbenfroh gefüllte Formen, die eine unbändige Vielfalt zeigen: All das kennen wir aus früheren Bildern von Astrid Albers. Faszinierend schön, jedesmal wieder. Und jedesmal wieder neu.
Und doch ist diesmal etwas anders. Die Häuser sind anders. Nicht mehr nur aufgereiht am Wasser, jedes klein und mit sich selbst ganz zufrieden. Nicht mehr alle einander beinahe zum Verwechseln ähnlich, nah ans Wasser gebaut und untereinander in ständigem Tuscheln begriffen.
In den aktuellen Arbeiten von Astrid Albers haben wir plötzlich keine übersichtliche Perlenschnur lustiger bunter kleiner Häuser mehr vor uns. Die Mischtechnik "Stadtgewächs" aus dem Jahr 2023 beispielsweise zeigt eine irgendwie geballte Gruppe von Häusern, verwachsen jedes für sich und alle untereinander, auseinander hervorgehend, aber doch jedes besonders, sich gegenseitig stützend und doch auch sich gegenseitig übertrumpfend: hier ein hoher runder Turm, dort ein breites Gebäude wie ein Schulhaus, lange hohe Dächer - Kirchenschiff? Kleine Flachdächer - Werkstattschuppen? Wohnhäuser vielleicht, Häuser mit Wimpeln und Fahnen - Fahnen, die sich in "Auf und Davon" (2022) verselbständigen und gemeinsam mit ihren Türmen abheben und losfliegen.
Selten stehen diese Häuser lotrecht. Im Gegenteil: Manch eines ist so windschief, daß alle miteinander in einer Bewegung begriffen scheinen; einer Bewegung, die die Momentaufnahme des Bildes nur einfängt. In den "Hausgeschichten" (2023) lehnen sich hohe Gebäude aneinander, eines wie das andere mindestens so schief wie die berühmten Bologneser Geschlechtertürme. Wieder also sind die Häuser lebendigen Figuren angeglichen - "Geisterhäuser"; "Geistertreffen" (beide 2023). "Wegweiser" oder "Botschafter" hießen ähnliche Bilder zuvor, beide im Jahr 2020 gemalt.
Diesmal aber geht es um die Häuser. Jedenfalls zunächst einmal. Es geht um das verborgene Innenleben eines sichtbaren Äußeren. Wie die Künstlerin schon seit langem nach der Darstellbarkeit der Wirklichkeit 'hinter' der Wirklichkeit sucht - nach der Darstellbarkeit also des Fließens des Flusses und des Blühens der Blumen, nach der Darstellbarkeit der Lebendigkeit des Lebendigen und des Wachsens des Natürlichen - so sucht sie jetzt nach der Darstellbarkeit von Verlassenheit und Leerstand oder aber dem Bewohntsein und Gebrauchtwerden von Gebäuden: Das Innenleben des Außenraums.
Das Verrückte dabei ist: Trotzdem spielt die Szenerie wieder im Freien. Wie immer. In den Bildern von Astrid Albers gibt es keine Innenräume. Es gibt nicht einmal irgendwie vorgefertigte Räume. Wie ein Fluß, der sich selber sein Bett gräbt, so bringen auch die Häuser in ihren aktuellen Bildern erst den Raum hervor, den sie füllen. Und nur, soweit sie ihn füllen.
Noch einmal: Obwohl es im Werk Astrid Albers' um Innerlichkeit geht, gibt es keine Innenräume. Auch Innenleben und Phantasie, Träume und Pläne, Entwürfe und Utopien finden in den Arbeiten von Astrid Albers nicht im geschützten Raum, vor einem 'inneren Auge' statt. Jeder Gedanke und jedes gefundene Bild greift schon im Entstehen um sich und schafft sich sofort seinen eigenen Platz im Freien, auf der Bildfläche. Ein ständiges Werden; eine ständige Bewegung; eine ständige Bewegung ohne Unruhe.
Titel wie "Geisterhäuser" implizieren das Unbewohnte der abgebildeten - nein: der das Bild erst hervorbringenden Bebauung. Leerstehende Häuser rufen vielleicht auch die Frage von freiwilligem Umzug durch veränderte Lebensumstände ab. Sie thematisieren vielleicht auch die Probleme der Migration und der Vertreibung, des Aussterbens regionaler Kulturen und Sprachen, Moden und Eßgewohnheiten. Wie aus Lebensart Lebensarten werden, die sich anderswo mit Einheimischem vermischen auf der Suche nach einem neuen Zu-Haus-e. Vielleicht auch. Aber ich glaube, es geht um etwas anderes: Indem sie das Sehen der Betrachter auf das Leben hinter den äußeren Fassaden lenken, thematisieren diese Werke ein Innenleben von Häusern (oder den ihnen verwandten Menschen), das dem Blick von außen verborgen ist.
Die Frage nach einem verborgenen Inneren eines sichtbaren Äußeren aber zeigt im Umkehrschluß die Formung dieses Äußeren durch das verborgene Innere. Die Häuser, die sich hier ihren eigenen Bildraum schaffen und ihn windschief und ganz offenbar veränderlich durchfließen, sind durch ein Innenleben entstanden, das sich in ihnen ent-äußert und mit ihnen einen äußeren Rahmen geschaffen hat. Einen äußeren Rahmen, so veränderlich und stimmungsabhängig wie das Innenleben selber.
Architektur, diese "dritte Haut" des Menschen (Hundertwasser), trägt in den Bildern von Astrid Albers Innenleben nach außen. So lenken die Bilder im Umkehrschluß auf die Relevanz des Innenlebens, der Gedanken und Träume, die zu einer Realisierung im sozialen Raum drängen. Die soziale Relevanz eines freien und ungebundenen Innenlebens des Menschen evozieren ihre Bilder mit. In Form von Erinnerungen, deren Verbildlichung als Utopie in die Zukunft entworfen werden, wollen die aktuellen Arbeiten Astrid Albers' den Blick auf das Innenleben des Außen lenken. Auch das Außen eines Menschen. Er-Innerung und der Nicht-Ort einer U-Topie fließen ineinander.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar
Der Text erschien zuerst in: Astrid Albers. Aktuelle Arbeiten, Katalog in Zusammenarbeit mit der Galerie Profil Weimar, Weimar.