Kamelien-Ausstellung „Es könnten Blumen sein“ mit Skulpturen von Marcus Hennig
Rede zur Ausstellungseröffnung
Weimar, Orangerie des Schlosses Belvedere, 6. März 2010
Herr Präsident, liebe Elke Gatz-Hengst, lieber Marcus Hennig,
sehr geehrte Damen und Herren,
Natur und Kunst, die sich in den alljährlichen Skulpturenausstellungen hier in der Orangerie von Schloss Belvedere niemals zu fliehen scheinen, sondern immer schon gefunden haben, Natur und Kunst sollen wir heute in den Werken des Bildhauers Marcus Hennig allein bereits vereint sehen. „Es könnten Blumen sein“, betitelt Marcus Hennig nämlich seine Stahlkolosse, die sich im warmen Terrakotta-Ton ihrer künstlich provozierten Korrosion denn auch verblüffend harmonisch in die Welt der lebendigen Pflanzen einfügen. In der Tat wirken die hochaufstrebenden Plastiken weniger als Kontrast zur umgebenden Pflanzenwelt denn als Unterstreichung des Wesens des Natürlichen, als Verlängerung des Wesens des Natürlichen in den Bereich der Kunst hinein.
Aber dennoch – Blumen? Stehen Blumen nicht für das Zarte, Welkende, Vergängliche, aber unendlich Schöne, das man zu Gratulationen schenkt, als Dank für eine empfangene Freundlichkeit entbietet oder wodurch man seine Liebe zu einer Person ausdrückt? Und vor allem: Stehen Blumen nicht für ihren Duft?
Was also wäre das Wesen des Natürlichen und damit auch der Blumen, das man angesichts der neuen Werke von Marcus Hennig zu Recht als in dieser Kunst eingefangen empfindet?
Gehen wir zunächst von der Form aus. Die neuen Skulpturen von Marcus Hennig wähnt man in der Erde verwurzelt. Wie der Stamm einer Pflanze wachsen die geschweißten Stahlplatten scheinbar himmelwärts dem Lichte zu. Sie verbreitern sich mit der allem Organischen eigenen leichten Asymmetrie zu einem Bauch, der wie die Kraftreserve eines Organismus wirkt. Und sie verjüngen sich wieder zu einem Stengel, der als Abschluß eine kleine Krone wie einen Blütenkelch trägt.
Um die neuen Skulpturen zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf ältere Arbeiten des Künstlers wie auch tatsächlich auf seine Biographie und seine seit fünf Jahren so einschneidend veränderten konkreten Lebensumstände.
Etliche von Ihnen werden sich erinnern, daß im Sommer 2004 der Skulpturen-Rundgang in der Stadt Weimar und im Dorotheenhof mit Plastiken von Marcus Hennig bestückt war. Wie sahen diese älteren Arbeiten aus? „Gesten“ hießen sie zumeist und waren aus unveränderlichem, glänzenden Edelstahl geformte Kreissegmente. In einer abenteuerlichen Balance halten diese aneinander geschweißten, ausladenden Bögen sich gegenseitig im Gleichgewicht: Hier ringt ein Künstler mit den Gesetzen der Schwerkraft und mit den Gesetzen seines Materials. Silke Opitz sprach damals vom „Kräftemessen zwischen Künstler und Material“, das Hennigs „Gesten“ noch ganz der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts verpflichte. Die glänzende Edelstahl-Optik ruft die ästhetischen Grundlagen der modernen Architektur ab. Wir denken an Hochhäuser aus Stahl und Glas, zu denen man sich die „Gesten“ Marcus Hennigs als optimale Kunst am Bau vorstellen kann. Auch die Arbeit mit geometrischen Formen, glatten Kreissegmenten, verortet diese älteren Arbeiten in der Ästhetik der Moderne. Im Hinblick auf die völlig anders gearteten neueren Arbeiten von Marcus Hennig spielt die Edelstahl-Optik aber zudem auf unsere Richtlinien der Hygiene an, einer Hygiene als naturferner, steriler Sauberkeit. Die unabgeschlossenen Bögen der „Gesten“ fesseln den Blick des Betrachters, weisen aber zugleich über sich hinaus.
Wie sehen demgegenüber die neueren Arbeiten von Marcus Hennig aus – und was ist seither geschehen? Nun: Marcus Hennig ist umgezogen. Aber nicht von einer Wohnung in die andere, sondern aus der Stadt aufs Land, aus dem städtischen Leben in eine denkmalgeschützte Mühle inmitten eines denkmalgeschützten Parks. Die 1998 fast vollständig ausgebrannte Mühle im Schlosspark Ballenstedt nahe Magdeburg wurde rekonstruiert und Ballenstedt suchte ab 2004 Bewohner mit einem Nutzungskonzept für das Gebäude. Marcus Hennig und Esther Brockhaus erhielten den Zuschlag mit ihren Ideen von Ausstellungs- und Konzertreihen, Wohnhaus, Schmiede und Atelier in der Mühle. Das neue Lebensumfeld hat den Blick auf die Welt und damit auch die Arbeitsweise von Marcus Hennig sehr grundsätzlich beeinflusst. Umgeben von den Geräuschen der Natur – vom Rauschen des Wassers, vom Wind in den Bäumen und von den Stimmen der Vögel – wurde er aufmerksam auf die Prinzipien der Natur: auf das Wachsen der Pflanzen, ihre Ruhepausen, ihre Genügsamkeit.
Ein Künstler ist ein Mensch, der das von ihm Gesehene für andere sichtbar machen und das von ihm Erkannte für andere verdeutlichen will. So wuchsen in der Ballenstedter Schmiede, unter der Hand Marcus Hennigs, in jüngerer Zeit riesige Stahlplastiken heran, die uns ganz andere Naturgesetze als seine „Gesten“, ganz andere Naturgesetze also als Schwerkraft und Gleichgewicht vor Augen führen. „Es könnten Blumen sein“ zeigt die Prinzipien von hochaufsteigendem Wachstum, von lichtgewandtem Streben, von Kraftreserven und abgeschlossenen, organischen Formen. Denn das Wachsen in der Natur findet zyklisch wiederkehrend in den Blüten einen Höhepunkt, in den Früchten einen Abschluß und nach der Ernte eine Ruhepause.
Natur heißt ständige Veränderung, und so ist es kein Zufall, daß Marcus Hennig für „es könnten Blumen sein“ nicht Edelstahl gewählt hat. Die großen Stahlplatten rosten, und das sollen sie auch. Wie schon erwähnt, behandelt Marcus Hennig sie sogar, um die Korrosion zu beschleunigen. Die Veränderung des Materials soll sofort ins Auge fallen und mit der Veränderung auch deren Mutter, die Zeit.
„Es könnten Blumen sein“ spielt also auf die ganz andere Seite der Natur an. Auf die Aspekte, die der Mensch niemals unterwerfen wird, ja die den Menschen in seiner Veränderlichkeit selbst ausmachen. „Es könnten Blumen sein“ meint nicht die Blumen aus der gebändigten Natur der gebundenen Biedermeiersträußchen. Es meint nicht die Blumen in ihrer Symbolik des Schwachen, Leisen, Zarten und Ephemeren, die besonders in der Lyrik des 19. Jahrhunderts so stark in den Vordergrund tritt. Es meint, mit anderen Worten, nicht die geschaffene natura naturata, sondern die schaffende, schöpferische und hervorbringende natura naturans, die in ihrer ständigen Erneuerung allem Geschaffenen überlegen und Quelle aller schöpferischen Kraft ist.
Marcus Hennig stammt aus Zerbst, hat in Nürnberg gleich nach der Wende die Allgemeine Hochschulreife erworben. Er hat sich nach dem Zivildienst in Taiwan einige Zeit dem Studium der Sinologie gewidmet und dann in Trier drei Jahre lang eine Schmiedelehre absolviert. Er wurde im Fachbereich Metall an der Burg Giebichenstein zugelassen und studierte bis zum Diplom bei Irmtraud Ohme und weiter als Meisterschüler von Andrea Zaumseil und Bernd Göbel. Die hochkarätigen Lehrmeister unterstreichen die Qualität von Hennigs Ausbildung. Die Unterschiedlichkeit seiner Professoren macht die Eigenständigkeit seiner Künstlerpersönlichkeit augenfällig. Wenn Sie an die Ready-made-Ästhetik in Ohmes Installationen denken und an die Figürlichkeit der Göbelschen Brunnen und Einzelplastiken, dann wird deutlich, welch freier Geist von Beginn des Studiums an in Marcus Hennig zum künstlerischen Ausdruck drängte.
So ist es auch nicht verwunderlich, daß Hennig in einem überschaubaren Zeitraum von wenigen Jahren so unterschiedliche Werke wie die geschwungenen Edelstahl-„Gesten“ und die aufstrebenden korrodierenden „Blumen“ hervorbringen konnte.
Ich denke, wir können uns auf viele weitere Entwicklungen dieses noch so jungen Künstlers freuen.
Für heute wünsche ich Ihnen viel Freude in der Ausstellung der echten und der falschen Blumen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar