Die dritte Spiegelung

Das Kunsthaus Erfurt zeigt „passus in visibili“ an der Predigerkirche

Noch bis zum 22. Oktober 2000 ist an der Außenmauer der Erfurter Predigerkirche die Klang-Videoinstallation „passus in visibili“ zu sehen, die die große Bachausstellung im Innern der Kirche ergänzt: Hier draußen, im Stadtraum, wird nicht historisch Leben und Werk Bachs rekonstruiert, sondern direkt mit Bach gearbeitet: mit Spuren seines Lebens, mit Fragmenten seines Werks, vor allem aber mit den künstlerischen Kniffen, die Bachs Werken die Vielschichtigkeit ihrer Deutungsebenen verleihen.

Die Klangcollage der koreanischen Komponistin Junghae Lee verfremdet Bachs Musik, bis sie das Gesicht Neuer Musik erhält. Abgestimmt auf die Bilder des Videos, verschwimmen die Klänge oder mischen sich mit fremden Geräuschen unseres heutigen Alltags. Ausgangspunkte der Videobilder der Schweizerin Bettina Grossenbacher sind dreierlei: die Orte Bachs, die handschriftlichen Partituren Bachs und eine Interpretation Bachscher Musik. Das ungewöhnliche an der Wahrnehmungsweise, die die Installation uns ermöglicht, ist der Tatsache geschuldet, daß die Dinge aus übergroßer Nähe beobachtet werden. So zerfallen die Bilder des Straßenpflasters und der Kompositions-Handschrift in ihre kleinteilige Struktur und erhalten eine Ästhetik der bedeutungslosen Konkreten Kunst. Die Finger der Cembalistin beobachten sich mit Hilfe einer Fingerkamera selbst und verschmelzen mit ihrer Spiegelung in der Rückwand des Cembalos.

Die Hände der Cembalistin sind aber nicht das einzige, was sich hier spiegelt. Die gesamte Videoinstallation besteht aus zwei Teilen und läuft an einer senkrechten Spiegelachse in der Mitte des Bildes in sich selbst zurück. So nimmt die Anlage der Projektion Bezug auf Bachs Kompositionsweise. Die Spiegelung ist in der Tradition barocker Musik nur eine der vielen sog. „musikalisch-rhetorischen Figuren“, die dazu dienten, sprachliche Inhalte klanglich umzusetzen. Allgemein formuliert könnte man sagen, daß die musikalisch-rhetorischen Figuren dazu dienen, die Musik zu semantisieren, mit Bedeutung zu untersetzen.

So ergibt sich eine erneute, dritte Spiegelung im Kunstwerk: Die Semantisierung der Musik Bachs findet ihre umgekehrte Spiegelung in einer Desemantisierung, die das Bildmaterial bestimmt: Die Darstellungen von „passus in visibili“ werden durch ihre Reduktion auf Konkrete Kunst ihrer Abbildfunktion und damit ihrer gewohnten Bedeutung entledigt. Sie spiegeln so mit den heutigen künstlerischen Mitteln die künstlerischen Mittel der barocken Musiktradition.

Es ist dies die subtilste Art und Weise, in der die Musik Bachs in die heutige Zeit transponiert werden kann: „Passus in visibili“ ist die Übertragung barocker künstlerischer Mittel durch barocke künstlerische Mittel, und als Ergebnis finden wir zeitgenössische Konkrete Bildende Kunst. So nähert „passus in visibili“ nicht nur Bach den heutigen Rezipienten an. „Passus in visibili“ nähert auch die Künste einander an.

Cornelie Becker-Lamers