Die Bestattung des Polyneikes

Latenz und Gedenken in der Kunst Matthias Geitels

Ich hatte hinuntergeschaut und mich im Geiste in die Vergangenheit zurückversetzt: das machten wir alle oft und gerne, dieses Vergleichen und Nebeneinanderstellen, dieses Abwägen der Fakten, um sie einzuordnen, uns gegen sie ausrichten zu können. Die Gegenwart war so ungewöhnlich und traumhaft, daß man, um sich mit ihr zu arrangieren, diesen Prozeß anwenden mußte: Es war doch so, oder? Ja, so war es früher, aber jetzt ...

Doris Lessing, Memoiren einer Überlebenden

Die „Spurensuche“ ist ein in Rezensionen immer wieder verwendetes Bild, um das zentrale Anliegen im Werk des 33jährigen Thüringer Künstlers Matthias Geitel zu charakterisieren. Und in der Tat zieht sich, was im Titel einiger Arbeiten „erinnern“ heißt, als inhaltlicher Hauptaspekt durch die technische Vielfalt seiner Kunst. Wenn statt „erinnern“ von der Aktualisierung latenten Sinns die Rede wäre, würde m.E. deutlicher, wie Geitel im unendlichen Zyklus der Selbstreproduktion von Kultur zu verorten sei. Doch sehen wir genauer zu.

Im Organismus einer Stadt sind Herz und Darmausgang identisch. Kulturelle Impulse senden diejenigen Orte aus, an denen die als unverdaulich Ausgeschiedenen versuchen, nicht völlig weggespült zu werden. Nur an den Rändern der geordneten Welt, an denen die feste Struktur ausfranst und die klaren Bedeutungen verschwimmen, kann Symbolik neu gedeutet und Welt neu sichtbar werden. Die Ökonomie einer Kultur ist der gigantische Recyclingprozeß, der es ermöglicht, das Veraltete, Verfallene oder Alltägliche durch seine bewußte Präsentation und Ausstellung in den Raum der Kunst zu überführen.1 Die Produktion des kulturell Neuen vollzieht sich in der Aufbereitung verstoßenen oder vergessenen Lebens.

„Am Rande des mittelalterlichen Ortes stieß ich auf die Ruine eines Hauses, Civitella d’Agliano No. 84. Die Ziegel des herabgestürzten Daches bedeckten wie ein Teppich den Boden. Die Zeit lag bloß. Diesen Raum mit meinem Leben zu füllen, bedeutete, ihm eine Zukunft zu geben. Als Verweis genügte ein lapidarer Text, den ich an die Wand zweckte.“2

So leitet Matthias Geitel, nach einem Satz zum Anlaß seiner Italienischen Reise, die Dokumentation zum „Remember-Zyklus“ (1993) ein. Dieser Katalog zur Kunst aus Erinnerung, heißt das, beginnt tatsächlich mit einem der Randgänge der Kultur. Nach Italien - als Traumland „Arkadien“ feststehender Topos klassischer und romantischer Literatur - entrückt und zeitlich in ein anderes Leben - in die Zeit nämlich vor der ‘Wiedergeburt’, der ‘Renaissance’ - versetzt, stößt der Erzähler „[a]m Rande des mittelalterlichen Ortes“ auf ein Haus. Hier, im Schritt über die Schwelle zur Anderen Welt, findet der Erzähler in obzöner Nacktheit bloßgelegt, was als Inbegriff des von Menschenhand Unenthüllbaren gilt: die vergangene Zeit. So muß man nicht einmal psychoanalytische Deutungsmuster bezüglich des Hauses bemühen, um der Situation erotisches Engagement abzulesen. Auf einem „Teppich“ aus Scherben vollzieht sich der Liebesakt - „[d]iesen Raum mit meinem Leben zu füllen“ -, ein symbolischer Akt, der die Beteiligten in eine Aura von Unsterblichkeit getaucht entläßt: Denn einander „eine Zukunft zu geben“, gelingt hier im Ver-Sprechen des gegenseitigen Gedenkens bis über den eigenen Verfall hinaus, gelingt in einer sprachlichen Materialisierung der Erinnerung, die das Gedenken an den Erzähler durch seinen Text dem Haus einschreibt und die Erinnerung an das Haus im Text des Buches festhält.

Zu Kunst wird diese innere Erfahrung durch ihre Veröffentlichung. Was prinzipiell alltägliches Erlebnis ist, erhält kulturelle Bewertbarkeit erst, wenn die Scham-Haft verlassen und die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem überschritten wird. Dieses Moment der ‘Entdifferenzierung’3 und der umdeutenden neuerlichen Festlegung ist Grundlage jedes kulturellen Ereignisses und ansatzweise wiederum an der Beschreibung des Hauses im oben zitierten Textabschnitt Geitels ablesbar: Die Ordnung von ‘oben’ und ‘unten’ ist verkehrt, denn das Dach ist „herabgestürzt“ und liegt „wie ein Teppich“ zu Füßen des Betrachters. Das Haus ist verfallen, der abgeschlossene Raum ist zugänglich und das Persönlich-Private in der Ruine zum Öffentlich-Allgemeinen geworden. Die Inbesitznahme des Hauses - seine Reprivatisierung - und die folgende Wiederveröffentlichung in der Beschreibung dieses Vorgangs bilden den unendlichen Zirkel kultureller Selbstbesamung.

Freilich ist die Civitella d’Agliano 84 nicht das einzige Haus, dessen der künstlerische Liebesblick Matthias Geitels sich annimmt. Schließlich ist die Stadt Erfurt, der Wohnsitz Geitels, voll von Orten des Überganges hin zur unbewohnten Welt. Auch hier ist in einer - sinkenden - Anzahl verfallener oder zerstörter Häuser die Entdifferenzierung der Krise Krieg gespeichert. ‘Privat’ und ‘öffentlich’, ‘außen’ und ‘innen’ ist verkehrt, Straßenzüge sind durchlässig: Die Spurung der geordneten Welt zeigt Risse. Mit nahezu tiefenpsychologischem Blick nähert Geitel sich den Häuser-Persönlichkeiten (denn jedes alte Erfurter Haus hat einen Namen, der es unverwechselbar macht), bevor alle individuierenden Narben in der westlichen Schocktherapie von Renovierung und Renivellierung ausgelöscht werden. Geitel liest Leben unverputzt, wo Zerstörung und Verfall Flächen offengelegt haben, die nicht Fassade sind. Er spaziert über die Hinterhöfe und die schuttbeladenen Wiesen der Stadt und - sucht nicht - findet Grubenlampen, Rechenmaschinen und andere Schätze aus dem vorigen Jahrhundert, um sie dem unüberschauberen Lager seines Ateliers zu künftigen Zielen einzuverleiben. In leerstehenden Häusern hebt er Tapetenschichten ab, um mit jeder Schicht ein Generationenleben zu rekonstruieren.

Solche Arbeit mit sogenannten ‘ready mades’ oder ‘objets trouvés’ (‘gefundenen Gegenständen’) verpflichtet Geitels Werk prinzipiell der Kunst Marcel Duchamps und Andy Warhols. Doch anders als diese Künstler, die doch Gegenstände des (immer noch) täglichen Gebrauchs im Museum zu Kunstprodukten machen - berühmt ist Warhols Coca-Cola-Dose -, wendet Geitel sich konsequent dem Ausgesonderten zu. Attraktiv für ihn sind Gebäude, die - im Zweifelsfall als ‘Mahnmal des Faschismus’ - der langsamen Verwitterung anheimgegeben waren. Er erkennt im gesellschaftlich Ausgeschiedenen als verborgene Schichten des Erinnerbaren mögliche neue Elemente des kulturellen Gedächtnisses. In seiner künstlerischen Zuwendung aktualisiert Geitel diese latenten Sinnschichten, führt das Verrottende ins Erinnerbare der Kultur zurück und bewahrt es so vor dem Nicht-Gewesen-Sein. Er gleicht darin - wenn die Assoziation zur literarischen Figur gestattet ist - der Antigone aus Sophokles’ Tragödie: Antigones Vergehen besteht darin, ihren Bruder Polyneikes zu begraben, der im Kampf um Thebens Thron den eigenen Bruder erschlagen hat und selbst dabei getötet wurde. Kreon als neuer Herrscher Thebens bestimmt zur Strafe des Polyneikes die offene Verwesung seines Leichnams, um durch den Gestank der Verwesung die Bürger der Stadt vom usurpatorischen Griff nach der Macht abzuschrecken. Antigone unterläuft Kreons erzieherische Absichten, bedeckt des Nachts Polyneikes mit Sand und gibt ihm so seinen Platz in der symbolischen Ordnung der Gemeinschaft zurück. Da so immer die Zukunft mitgestaltet, wer Vergangenes lebendig hält, war seit jeher Herrschaftsprivileg, das Erinnerungswürdige zu bestimmen und vom Zerfließenden zu unterscheiden. Die Behauptung eigener Erinnerungen gegen die offizielle Vereinbarung über die Gestalt vergangener Realitäten ist prinzipiell subversiv. So subversiv, daß Antigone sterben muß.

Auf seinem Weg zum Erinnerbaren schreitet Matthias Geitel leerstehende Gebäude ab. Seine Objekte und Installationen entdecken, was in den Häusern gespeichert ist. Verblüffenderweise ist es das Verfahren der antiken ‘ars memorativa’, der Gedächtniskunst, das Geitel hier aus der Anwendung heraus wiedererfindet. In den Rhetorik-Traktaten Ciceros und Quintilians nämlich wird ein festes Konzept entworfen, wie eine öffentliche Rede memoriert werden sollte, um die Argumente in der zuvor erarbeiteten Reihenfolge wiedergeben zu können. Es geschieht dies mithilfe der Räume eines Hauses, das dem Redner wohlbekannt zu sein hat. Er betrete in Gedanken dieses Haus und plaziere reihum in den Fensternischen und an den Säulen, in charakteristischen Gegenständen oder szenischen Bildern verschlüsselt, die Argumente seiner Rede. Bei der Wiedergabe der Rede durchwandere er in Gedanken erneut die Zimmerflucht, um den Räumen die dort niedergelegten Gedanken einen nach dem anderen abzulesen.4 Das Mittelalter, das in dem Geschichtslehrbuch De tribus maximis circumstantiis gestarum des Hugo von Sankt Viktor (um 1130) die Gedächtniskunst zu neuer Blüte führt, entwirft ganze Straßenzüge, in deren Häusern jeweils symbolisiert die zu merkenden Gedanken zu ‘lozieren’ sind. Auch hier speichern Gebäude das Gedachte, das sich in Gegenständen, Statuen oder Bildern materialisiert findet. Wenn Geitel zerstörte Häuser aufsucht, um das im Grundriß, dessen Zerstörung, in ausgetretenen Stufen und weggeworfenen Gegenständen festgehaltene Leben wiederzuerfinden, rekonstruiert er, was andere Menschen den Räumen zur Aufbewahrung mitgegeben haben: „Erinnerung bedeutet Kommunikation“5, Kommunikation über Zeiten und räumliche Entfernungen hinweg.

Die Aktion „Remember some persons“ ist dann explizit

„der Versuch, Kommunikation zwischen einander fremden Menschen zu initialisieren. Die erste Arbeit dieser Art realisierte ich während einer Reise nach Griechenland im Sommer 1993. Zuvor hatte ich im Erfurter Telefonbuch 15 mir unbekannte Personen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. An sie verschickte ich eine unbeschriftete Urlaubskarte aus Nea Fokea. Wenig später folgte ein Brief, der die Liste aller beteiligten Personen mit den entsprechenden Telefonnummern enthielt. In einem Fragebogen erklärte ich später den Vorgang und ermöglichte eine Kontaktaufnahme zu mir.“6

Die Triebkraft in Geitels Werk ist die Suche nach dem Menschen.

Bei der Fassadenbeschriftung des inzwischen renovierten Hauses in der Erfurter Pergamentergasse 16, einer Installation des Jahres 1993, schreibt Geitel Namen und Berufe derjenigen Menschen an die vordere Außenwand des Hauses, die im Verlauf der letzten hundert Jahre das Haus bewohnten. (Die Angaben entnimmt er den jährlichen, in der Allgemein-Bibliothek öffentlich zugänglichen Adreßbüchern der Stadt Erfurt). Die monumentale Auflistung von Namen und Berufen zitiert die Form des Gedenkens, die unsere Zeit sich gewöhnlich für Soldaten vorbehält. Im Kontext möglicher Gesellschaftskritik wäre also wohl zu lesen, Tote seien allemal Gefallene, gestorben zu unwürdig nach einem zu kurzen, zu schweren und zu fremdbestimmten Leben. Die Unleserlichkeit allerdings der gleichgroßen, lückenlos gereihten Lettern - Geitel schreibt hier die ‘scriptio continua’ eines römischen Epitaphs - ermöglicht außerdem die Deutung einer solcher Inschrift als Ornament, als sinnentleerte Dekoration. So gelesen würde der offizielle Gestus des Gedenkens seiner Bigotterie überführt. Nach der Transformation von Leben in Schrift muß das Leben zuletzt immer erneut dazugedacht werden, wenn die Worthülse nicht leer bleiben soll.

Letztere Lesart drängt sich auch insofern auf, als das paradoxale Verfahren, Auslöschung und Dokumentation ein und desselben Inhalts in einem Kunstwerk zu vereinen, sich durch die Objekte und Installationen Geitels zieht. Die Installation „Keine weiteren Angaben“, 1993 im Erfurter Dom und auf den Domstufen präsentiert, zitiert die Verschlüsselung von Leben in Ziffernfolgen: Den Namen, die er ins Chorgestühl des Erfurter Domes geritzt findet, spürt Geitel in den spätmittelalterlichen Immatrikulationsakten der Erfurter Universität nach. Er findet die Daten von Einschreibung und Baccalaureat, vielleicht von Magister und Promotion, manchmal auch die Geburtsdaten der jungen Männer. Aneinandergereiht notiert, hängt Geitel die Angaben zu sechszehn der Studenten als das Bleibende dieser Menschenleben in den Chor des Domes. Daneben außerdem, bereits aus einem fünfteiligen Holzschnitt-Zyklus stammend, ‘Matthias Geitel’ in Ziffern. Dieser Teil der Arbeit reiht Zahlen aneinander, allerdings ohne den Namen Geitels hinzuzusetzen. Beginnend mit seinem Geburtsdatum und die Personenkennziffer über die Psalmnummer seines Taufspruches und 12 weiteren Ziffernfolgen bis zur Personalausweis- und Kontonummer dokumentiert Geitel sein Leben und dokumentiert es zugleich nicht. Denn als referenzlose Zeichen bleiben die Zahlenfolgen ohne Sinn. Auf den 70 Stufen, die vom Dom hinab zum Marktplatz führen, begegnet man den Namen und Zahlen aus dem Dom-Innern noch einmal, auf DIN A4-Blätter kopiert. Auf den unteren der Stufen ist die Schrift der Papiere klein. Sie vergrößert sich nach oben von Stufe zu Stufe, bis die Ziffern nur noch fragmentarisch abgebildet sind und bald ein über Eck halb schwarzes, halb weißes Papier die Schrift vollständig ins Ornament überführt. Die Art der Speicherung bewirkt so die Auslöschung des zu Sagenden. Die Installation endet auf der obersten Stufe mit einem glattweißen Papier, dem man nicht mehr ansieht, daß es sehr wohl etwas abbildet: den zur Lesbarkeit unerläßlichen Zwischenraum einer Schrift. Wie John Cage in „4’33’’“ („Vier Minuten dreiunddreißig“) - einem Klavierstück in drei Sätzen, die aber ausnahmslos aus Pausen bestehen - inszeniert Geitel hier die visuelle Pause, den Zwischenraum und Übergang als das immer unbemerkte, ‘übergangene’ Andere unserer vergegenständlichten Kultur.

Die Objektgruppe „Die einfache Wahrheit“ (1994), aufgrund seines Titels das vielleicht beste Werk Geitels, umfaßt einen festen Stapel gleichgroßer quadratischer Glasplatten, denen Ausrisse von Tapetenresten zwischengeschoben sind. Undeutlich und nicht Schicht für Schicht isoliert rekonstruierbar, scheint die Musterung jedes Tapetenstückes durch die freien Flächen des darüberliegenden Glases hindurch und prägt das Bild auf der Oberfläche des Objektes mit. So sieht die ‘einfache Wahrheit’ demnach aus: vielschichtig, in ihren Elementen und der Entstehung ihrer Gestalt letztendlich undurchschaubar, entstanden aus einer Anzahl von Überschreibungen und viel tiefgründiger, als ihre Oberfläche es greifen läßt. „Die einfache Wahrheit“ - eine psychoanalytische Arbeit, wie ein Element der Installation „Das wichtigste ist“ (1994), das sich als Lob eines gesunden Maßes an Verdrängung lesen läßt:

„ich erinnere mich
das wichtigste ist
ich habe vergessen“

Wenn Geitel eines seiner Bilder in 60 postkartengroße Teile zersägt und diese Stücke in einem exakt angepaßten, vollständig verschlossenen Plexiglas-Kasten lückenlos hintereinander stellt, findet sich auch hier eine Form der Speicherung, die eine Dokumentation hintertreibt und das zu Dokumentierende - das Aussehen des Bildes - durch dessen Speicherung selbst auslöscht. Geitel hat dieses Tafelbild vor dessen Zersägt-Werden als Postkarte reproduzieren lassen. 60 dieser Reproduktionen übermalt er weiß, überführt dadurch die Reproduktionen jeweils wieder in ein Original und stellt beide Objekte aufeinander bezogen in der „weißen Artothek“ (1993) aus. Das in den weißen, bloß durch den Pinselstrich strukturierten Bildern übermalte farbige Werk ist durch die Übermalung ebenfalls gespeichert und ausgelöscht: ‘aufgehoben’ im doppelten Sinne des Wortes.

Auf der Suche nach der Verschüttung des Erinnerbaren simuliert Geitel schließlich auch das vergessene Leben. Unter dem Eindruck des Symposiums „Il futuro della memoria“ - die Zukunft der Erinnerung -, an dem er 1993 teilnimmt, verschickt Geitel Postkarten und Fragebögen: „Hast Du die Postkarte erhalten? - Wenn ja, an welchem Tag? - Hast Du Dich an mich erinnert? Wenn ja, wie lange mußtest Du dazu nachdenken? [...] Wann wirst Du diesen Tag im Juli vergessen haben?“7 Als er in einem aufgelassenen Erfurter Textilbetrieb im Mai 1993 Urlaubskarten aus den achtziger Jahren „von einer Frau Irmgard S.“8 findet, spürt er dieser Dame nach, entdeckt drei Erfurterinnen gleichen Namens und schickt allen dreien Postkarten aus den Orten, aus welchen er Urlaubsgrüße vorgefunden. „Dabei beschriftete ich meine Karten mit Textfragmenten der entsprechenden gefundenen Urlaubskarten. Ein abschließender Fragebogen erklärte die eingetretene Situation und ermöglichte eine Kontaktaufnahme zu mir.“9 Angesichts der ausgesprochen individuellen Formulierung dieser Textfragmente - „Ist das nicht ein wunderbarer Blick? Da könnte ich den ganzen Tag stehen. Bis jetzt hatten wir Glück mit dem Wetter.“10 - amüsiert allerdings die Frage: „Haben Sie die drei Kartentexte als selbstverfaßte Urlaubsgrüße erkannt?“11, die der Fragebogen stellt. Denn die zitierten Sätze sind so floskelhaft, daß sie die Sprache von alleine formuliert. Hingeschrieben könnte jede sie haben. Deshalb ist Geitels Aktion ein brisantes Spiel. Die angeschriebenen Frauen müssen mit einem Problem konfrontiert gewesen sein, wie es der Film Blade Runner für seine Androiden beschreibt: Diese in Blade Runner dargestellten Kunstwesen sind - ausgestattet mit allen Erinnerungen eines durchschnittlichen Menschenlebens - als erwachsene Menschen konstruiert. Sie besitzen computermanipulierte Photographien, die angebliche Kindheitserlebnisse scheinbar bloß dokumentieren, in Wirklichkeit aber konstruieren. Diese ‘Wirklichkeit’ freilich ist von den Androiden selbst nicht überprüfbar, denn ihr Bewußtsein trügt sie: Perfiderweise simulieren ja die mitkonstruierten Gedächtnisspuren eine Wahrhaftigkeit dessen, was nie stattgefunden hat. Auf der Suche nach der Wahrheit über sich selbst muß die Wirklichkeit im Gespräch ausgehandelt werden. Wieder wird der Zusammenhang deutlich, der den Realitätsanspruch von Erinnertem tendentiell mit einem Moment der Herrschaft verknüpft.

Geitel freilich, in seinem Experiment, ist kein Beherrscher der Erinnerung. Mit seinem Nicht-Wissen stellt er sich selbst zur Disposition. Im Gegensatz zu „Bladerunner“, der im Konstrukteur der Androiden eine absolute Wahrheitsinstanz in die Erzählung einführt, wird aus Geitels Kunst die Verhandelbarkeit und letztliche Unentscheidbarkeit der Wahrheit deutlich. Der Katalogtext aus Remember some objects läßt alle Möglichkeiten offen, da er den Ausgang der Aktion nicht schildert: Vielleicht hat die echte Schreiberin geheiratet, wurde geschieden, ist verstorben oder weggezogen und war - zehn Jahre nach dem Schreiben ihrer, der ursprünglich gefundenen Karten - als „Irmgard S.“ in Erfurt gar nicht mehr auffindbar: so unauffindbar wie der Opal aus Nathans „Ringparabel“ (wobei auch Lessing noch an einen Höchsten Richter glaubt). Die letzte Instanz bleibt bei Geitel ausgeklammert, die ‘einfache Wahrheit’ bleibt in der Schwebe.

Nicht die festschreibende Entscheidung, sondern die Suche zu suchen, das ist Geitels Kunst. Statt zu predigen, lauscht er. Immer. Seine Werke legen offen und verdecken zugleich. Sie tasten und stehen sicher. Sie zeigen das Unwahrscheinlichste als Selbstverständlichkeit und vermitteln so das Bewußtsein einer Realität, unwirklich und wirkungsvoll wie eine Flamme, präsent und entzogen wie der eben gesenkte Blick hinter langen, dichten Wimpern.

Der Text erschien zuerst in: Nibelungen. Künstler sezieren den Mythos, Katalog zur Ausstellung in EKTachrom, die Galerie des Europäischen Kulturzentrums in Thüringen, Erfurt, 17.8.-17.9.1995, unpaginiert [S. 5 - 17].


1Vgl. Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München - Wien: Hanser 1992.

2Matthias Geitel, Remember some objects. Erinnere Dich an einige Dinge. Fünf Projekte. Eine Objektgruppe, Erfurt: Selbstverlag o.J., nicht paginiert [S. 6].

3Zum Begriff der „Entdifferenzierung“ vgl. René Girard, Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, Frankfurt/Main: Fischer 1992 [orig. Paris 1982] S. 48-54 u.ö. Die endgültige Entdifferenzierung zum uranfänglichen, im differenzierenden Wort weltschöpfenden Chaos wäre die Ununterscheidbarkeit von Licht und Finsternis.

4Vgl. dazu z.B. Frances Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin: Akademie-Verlag ³1994.

5Geitel, Remember [S. 6].

6ebd. [S. 22].

7Geitel, Remember [S. 11; im Original in englischer Sprache].

8ebd. [S. 44].

9ebd.

10ebd. [S. 45].

11ebd. [S. 47].