„Ulysses in Limlingerode. Katrin Gassmann“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Dichterstätte Sarah Kirsch, Limlingerode, 23. September 2006

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Ulysses in Limlingerode“ – was für ein wahnwitziger Nexus! Ulysses – der Roman, der die Schreibweise einer ganzen Generation revolutionierte – Ulysses, diese Anhäufung von Umgangssprache, Flüchen und noch viel Schlimmerem – Ulysses, dieser eine lange Tag in Dublin – ausgerechnet hier, in der Dichterstätte mit dem bernsteinfarbenen Fachwerk? Ausgerechnet Ulysses in Limlingerode?

Aber sehen wir von James Joyce’s Roman einmal ab. Joyce bildet die Geschichte, die er sich selbst zum Romangerüst wählte, ja ausgesprochen verfremdet ab. Die Odyssee mit ihren Figuren, Szenerien und Episoden ist, liest man den Roman ohne Anleitung, schlechterdings nicht zu rekonstruieren. Aber die Geschichte des Odysseus oder Ulysses ist zigmal in der Literatur- und Operngeschichte der letzten zweieinhalbtausend Jahre wiedererzählt worden, und immer ist die Odyssee vor allem eines: Die Geschichte einer Heimkehr. Die Geschichte einer Heimkehr nach einem katastrophalen Krieg, dem Krieg, der Troja zerstört hat. Die unwahrscheinliche Heimkehr eines Helden, wiederholt verzögert durch übermenschliche Mächte – Circe, die Zauberin, Kalypso, die Nymphe, Polyphem, der riesige Zyklop – verzögert durch überindividuelle Mächte, denen nur mit List zu begegnen und nur durch Hintertüren zu entkommen war. Die Geschichte einer Heimkehr also, wie sie ein fast ebenbürtiges Pendant in der Heimkehr Sarah Kirschs in dieses Haus findet. Die Heimkehr in dieses Haus, die fast ein Menschleben lang so unwahrscheinlich schien wie diejenige des Odysseus, und die zuletzt nur möglich wurde durch die Heimkehr einer ganzen Nation in ihren ungeteilten Staat.

Was also liegt näher, als Ulysses in Limlingerode zu thematisieren? Dennoch ist der Ausstellungstitel nicht in dieser Weise inhaltlich motiviert. Katrin Gassmann, die den Titel vorgegeben hat, trägt den Ulysses seit langem mit sich herum. Der Weg zu Joyce – denn Ulysses ist auch als Kürzel für die besondere Schreibweise von James Joyce zu verstehen – der Weg zu Joyce liegt in einer künstlerischen Arbeitsweise begründet, die Katrin Gassmann seit etlichen Jahren verfolgt. Ihre Arbeit dabei Schritt für Schritt intellektuell immer weiter zu durchdringen und technisch zu begründen, liegt in der Natur der postavantgardistischen Kunst. Ohne Intellektualisierung kommt Kunst heute nicht mehr zustande. Die Beschäftigung mit der Literatur James Joyce’s war für Katrin Gassmann darum schlicht einer der Wege, um die eigene Arbeit zu objektivieren.

Katrin Gassmann wurde 1967 in Sondershausen geboren. Von 1993 bis 1999 studierte sie Grafik, Malerei und Glasgestaltung an der Burg Giebichenstein Halle. Seit 1995 wurde sie in fast jedem Jahr mit einem Kunstpreis oder einem Förderstipendium ausgezeichnet. Zuletzt war sie Stipendiatin des Freistaates Thüringen.

Die Dekontextualisierung und Inszenierung von Sprache und Schrift beschäftigt Katrin Gassmann seit etwa fünf Jahren. Die geätzten Spiegel, die dem Betrachter mit einzelnen Worte wie „Hier und Jetzt“ oder „Opera Aperta“ (das offene Kunstwerk) entgegentreten, ziehen das Publikum als Rezipienten und Interpreten der Kunst in die Werke mit hinein. Diese Spiegel bilden mit ihren Schlagwörtern das Gegenstück zu den Schrift-Zeichnungen, in denen Katrin Gassmann seit etwa 2002 mit HERMETICA beispielsweise Zitate aus Philosophie und Kunsttheorie beständig wiederholt.

Ganze Seiten werden vollgeschrieben, manchmal furchenwendig, also hin und her wie die älteste erhaltene griechische Schrift, manchmal Zeile für Zeile in immer handschriftlichen und doch immer gleichen Buchstabenreihen. Es entstehen Texturen, die im wahrsten Sinne des Wortes Gewebe sind. Die Blätter ähneln schwarz-weißen Stoffproben, in denen Kett- und Schussfäden sich zu Fischgrat oder Gabardine kreuzen. Der Inhalt der formal weiterhin ähnlichen Werke ändert sich hin zur Reflexion über die eigene Kunst (CLAIMS ab 2003).

In der Art mittelalterlicher Mönche repetieren diese Werke endlos die immer gleichen Texte, um in der Wiederholung alle Schattierungen von Sinn und Hintersinn eines Satzes auszuloten und das selbe immer wieder neu zu verstehen. Ein weiterer Entwicklungsschritt ist das Mitschreiben des eigenen Denkens (DENKEN ZEICHNEN). Es ist diese Technik, die auch den Ulysses-Zyklus bestimmt. Denn hier ist Katrin Gassmann plötzlich bei einer Arbeitsweise angekommen, die dem Bewusstseinsstrom in der Schreibweise von James Joyce verwandt scheint.

Das Denken wird unmittelbar zu Papier gebracht, bei Joyce allerdings hundertfach überarbeitet, bei Katrin Gassmann bewusst ohne Korrekturen. Und sie hat einen unschätzbaren Vorteil gegenüber Joyce. Dem Schriftsteller nämlich liegt trotz allem die Vermittlung sprachlicher Inhalte am Herzen. Notgedrungen ist sein Bewusstseinsstrom deshalb der Linearität der erzählten Zeit unterworfen.

Katrin Gassmann schreibt Bildende Kunst, und nur Bilder schaffen die simultane Evidenz. In den Zeichnungen, die auf einen Blick wahrgenommen werden, ist es daher möglich, genau das Knäuel von Assoziationen darzustellen, das sich in unseren Köpfen bei vielleicht strategischem Sprechen, unterdrückten Gefühlen, gleichzeitigen Reflexionen und Hintergedanken als ganzes Netz von Nervensignalen knüpft. „Rhizom“ hat das der französische Philosoph Gilles Deleuze einmal genannt. Das Blatt Vita zeigt als Pflanzenformation eine solche Verzweigung der Gedanken: Ein Schachspielerhirn: Wenn ich dies tue, dann passiert das, wenn nicht, passiert jenes usw.

Doch noch einmal zurück zu Joyce. In James Joyce nämlich suchte Katrin Gassmann, beim DENKEN ZEICHNEN angekommen, einen Seelenverwandten und begann, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Sie wollte sich mit ihm unterhalten und las deshalb seine Bücher, um in der Kommunikation mit dem Gedankenschreiber tiefere Einblicke in die eigene Kunst zu gewinnen. Der Ulyssesblock ist so etwas wie ihre Antwort auf die Worte des Romans. Die 26 Blätter des Zyklus sind die Materialisierung der Kommunikation.

Vor 100 Jahren begann Joyce mit den Plänen zum Ulysses, die einen einzigen Tag, den 16. Juni 1904, in Dublin widerspiegeln. 1000 Seiten sind für ihn dieser Tag, an dem in parallelen Handlungssträngen ein Tag wie jeder andere im Leben des Medizinstudenten Buck Mulligan, des Lehrers und Dichters Stephen Dedalus und des Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom geschildert werden. Geschildert ist falsch: Der Leser soll alles hautnah miterleben. Hautnah ist auch falsch, denn durch die Schreibweise James Joyce’s geht die Schilderung unter die Haut: Die Verabsolutierung der literarischen Technik des Inneren Monologs - oder der Erlebten Rede -, nämlich der berühmte Bewusstseinsstrom, untergräbt jede Möglichkeit einer Distanzierung des Lesers von den Figuren. Wer nicht eintauchen will, braucht gar nicht erst weiterzulesen.

Die Odyssee bildet das Gerüst für den Aufbau des Romans. Um den Textverlauf zu entwickeln und bei der Arbeit selber den Überblick zu behalten, hatte Joyce seinen Kapiteln ursprünglich Überschriften wie Kalypso, Circe oder Äolus gegeben und ihnen die homerischen Abschnitte von Telemach, der Irrfahrt und der Heimkehr des Odysseus zugeordnet. Diese Überschriften fehlen seit der letztendlichen Herausgabe des Romans, und es bedarf der Erläuterung, um Figuren und Handlungsstränge des antiken Epos und des modernen Romans parallelisieren zu können.

Um die inhaltliche Verwandtschaft zwischen Katrin Gassmanns Blättern und den Kapiteln des Ulysses im einzelnen nachzuvollziehen, bedarf es mindestens ebenso detaillierter Erläuterungen. Deshalb rede ich noch ein wenig weiter. Die auffälligste Entsprechung ist natürlich die Wiedergabe des Bewusstseinsstromes. Ohne Punkt und Komma formuliert ein solcher Bewusstseinsstrom das letzte, sogenannte Penelope-Kapitel des Ulysses. Auf nahezu 100 Seiten werden hier die fast schon geträumten Gedanken der einschlafenden Molly Bloom aneinandergereiht. Diesen undurchdringlichen Schleier des Gedankenstroms bildet der gesamte Ulysses-Block Katrin Gassmanns ab.

Eine weitere formale Entsprechung ist die Blattzahl des Zeichen-Zyklus. Der gesamte Ulysses-Block umfasst 26 Blätter. Es sind die Buchstaben des lateinischen Alphabets, die diese Anzahl vorgeben, denn Joyce bezieht sich mit den 18 Kapiteln seines Romans auf die Buchstabenzahl des gälischen Alphabets im alten Irland. Die Blattzahl macht Gassmanns Ulysses-Block zu einer selbstreferenziellen Arbeit. Die Buchstaben, aus denen ja jede geschriebene Zeile der Arbeit besteht, tauchen auf einer Metaebene des Werkes wieder auf. Ihnen, nicht Joyce, wird hier das eigentliche Denkmal gesetzt. Als Bausteine der Erinnerung und damit Grundlage aller Kultur rücken die einzelnen Teile der Schrift ins Blickfeld.

Betrachten wir jetzt das „Zyrrhus-Blatt“. Es ist als Anspielung auf das siebte, das Äoluskapitel aus dem Ulysses entstanden. Die Anspielung zielt dabei auf zweierlei: Bei Joyce ist dieses Kapitel formal in fingierte Zeitungsartikel gegliedert. Es spielt in Blooms Dubliner Zeitungsredaktion, und Joyce versucht, die Form der Kapitel möglichst genau den jeweiligen Inhalten anzupassen. Der Fließtext ist hier also auseinandergezogen. Wie leicht zu sehen ist, spiegelt das „Zyrrhusblatt“ diese Textform wider. Wie Zyrrhus-Wolken über den Himmel, so treiben hier die Gedankenfetzen über das ultramarinblau eingefärbte Papier. Die Sätze sind aus dem Zusammenhang gerissen. Die Assoziationen sind entzerrt. Die Anspielung des „Zyrrhusblattes“ hat aber nicht nur diesen formalen, sondern auch einen inhaltlichen Aspekt, denn Äolus ist der Gott des Windes. Er ist es also, der die Zyrrhus-Wolken als Fetzen vor sich her treibt.

Inhaltlich fließen Gedanken zum Ulysses in die Textzeilen Katrin Gassmanns ein. Aber der Stoff ist vollständig angeeignet. Es sind längst Gassmanns eigene Gedanken, die zu Papier gebracht werden. Wenn man möchte, kann man beginnen zu lesen, wie die Arbeit an diesem Werk im Werk selbst beschrieben wird. Wer freilich nicht eintauchen will, braucht gar nicht erst weiterzulesen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker-Lamers, Weimar


Der Text erschien im Druck in: Limlingeröder Reihe. Kaleidoskop III, hg. vom Förderverein Dichterstätte Sarah Kirsch, Nordhausen 2008, S. 23-27.