Vortrag zum Treffen der Sponsoren und Restauratoren für den Wiederaufbau der Herzogin Anna Amalia Bibliothek

18. Januar 2007, Restaurant Zum Goldenen Einhorn, Mechelroda

Herr Direktor, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Frau Fuchs,

ich danke für den ehrenvollen Auftrag, Ihnen heute anlässlich Ihres Treffens im Haus Zum Goldenen Einhorn etwas über Einhörner und ihre besondere Bedeutung in Thüringen erzählen zu dürfen. Das Haus, in dem Sie gespeist haben, macht, wie man sieht, selber bereits auf die kunstgeschichtliche Rolle des Einhorns aufmerksam. An den Wänden sind Reproduktionen aus den berühmten flämischen Teppichen von der Dame mit dem Einhorn (La Dame à la Licorne) aufgehängt. Die Originale stammen aus dem 15. Jahrhundert. Man findet sie im Musée national du Moyen Âge, Paris, dem sogenannten Musée Cluny. Die Teppiche stellen die fünf Sinne dar, Gehör, Geschmack, Geruch, Gesichts- und Tastsinn, jeweils verpackt in vertrauliche Szenen einer Dame mit einem Einhorn. Warum Szenerien mit Einhörnern fast immer in dieser Art intim und voll erotischer Spannung sind, erfahren Sie im Verlauf meines Vortrags genauer.

Zunächst möchte ich erwähnen, daß die Benennung eines Hauses nach dem Einhorn gerade im Thüringer Raum keine Seltenheit darstellt. Das Erfurter Stadtarchiv verfügt über eine Auflistung des Erfurter Historikers Johannes Biereye aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, das über 20 Häuser des Namens „Zum [beispielsweise: güldenen] Einhorn“ verzeichnet.

Wie Sie wissen, wurden Hausnummern flächendeckend erst im 18. Jahrhundert eingeführt. Bis dahin dienten Häusernamen der Orientierung der Bürger. Die Häusernamen wurden den Häuserzeichen entlehnt, die die Hausherren u.a. der Tier- und Pflanzenwelt entnahmen. (Denken Sie etwa an das „Haus zum Roten Ochsen“, das heute die Kunsthalle Erfurt beherbergt.) Ein weiterer Fundort von Häusernamen waren die Bibel oder der Oikos, das Leben der Gemeinschaft, wie wir das im Gildehaus am Erfurter Fischmarkt mit seinem Namen „Zum breiten Herd“ finden. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts waren die Bewohner auch der Städte überwiegend Analphabeten – illiterati, wie man sagt – und konnten besser über Bilder als über die Schrift informiert werden. (Denken Sie an die „Zeitungen“ der Frühen Neuzeit, die Einblattdrucke, in denen Abbildungen mit wenigen Schriftzeilen versehen waren und die auf den Jahrmärkten verteilt wurden – wenn nicht ganz und gar Bänkelsänger alle Nachrichten mündlich vortrugen.)

Wie aber kann man sich in einer mittelalterlichen Großstadt wie Erfurt orientieren, wenn zwanzig Häuser denselben Namen tragen? Nun: Jeder Name durfte nur einmal vergeben werden – aber nicht bezogen auf die ganze Stadt vom Geraeintritt an der wiedergefundenen Stadtmauer nahe der Reglerkirche bis zum Geraaustritt am Moritztor, sondern bezogen auf ein Pfarrsprengel. Und davon besaß Erfordia turrita in den genannten Grenzen bis zur Reformation sage und schreibe 24, mehr als jede andere deutsche Stadt. (Zum Vergleich: selbst das einwohnerstärkere Köln besaß im Mittelalter nur 21 Pfarrsprengel – Mit der Reformation wurde das Kirchennetz auf zwei Netze à jeweils acht Kirchen eingedampft, wobei sich das evangelische und das katholische Kirchennetz überschnitten. Erfurt blieb im Kernland der Reformation immer eine katholische Enklave – sehr zum Leidwesen Martin Luthers. Ich hebe dies hier hervor, weil das spezielle Bildmotiv, um das es uns geht – eine Einhorndarstellung – wohl doch nicht ganz zufällig im katholischen Erfurt zu solcher Blüte gelangen konnte). Vor der Reformation aber wie gesagt besaß Erfurt 24 Kirchspiele und ebenso viele Einhorn-Häuser, die zur Unterscheidung kurzerhand mit dem Zusatz „in Neuwerk“, „in Allerheiligen“, „in Michaelis“ etc. versehen wurden – und schon hatte man die Unterscheidbarkeit zurückgewonnen. Anläßlich einer Tagung der evangelischen Akademie Thüringen im Sommer 2005, wo ich die Kunstführungen durch Erfurt und Weimar übernommen hatte, habe ich recherchiert, ob man eine Stadtführung entlang der Einhorn-Häuser mit den notwenigen Wegen der Tagungsgruppe verbinden könnte. Leider stellte sich heraus, daß außer im Falle des „goldenen Einhorns“ am Domplatz, das heute die Wissenschaftliche Allgemeinbibliothek beherbergt, keiner der Häusernamen mehr greifbar ist (Allzu häufig ist das von Biereye zwischen den Kriegen verzeichnete Haus heute kaputt, oder das Haus wurde nach der Wende neu hochgezogen, die alte Fassade überstrichen – wie auch immer.) Freuen wir uns also, hier in Mechelroda noch ein echtes Einhornhaus anzutreffen.

Nun aber endlich zum Einhorn selber. Das Bildmotiv ist 5000 Jahre alt und stammt aus kosmologischen Erzählungen. Die Gestalt des Horns chiffrierte die Mondsichel. Kämpfe, in denen Einhorn und Stier dargestellt sind, symbolisieren den Kampf der Gestirne – Sonne und Mond. Unter Umständen hat die Notwendigkeit, den Mond zu symbolisieren, zur Erfindung des Einhorns geführt. Eine Erfindung muß es jedenfalls immer gewesen sein, denn wie die Biologen seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wissen (1827 Georges Cuvier), besitzen Paarhufer ein geteiltes Stirnbein, auf dem ein Horn nicht wachsen kann. Vielleicht gründet die Erfindung aber auch in einer Missdeutung der Abbildung von Tieren mit zwei Hörnern, die in einer Kampfszene von der Seite dargestellt waren: Schaut man auf zwei Hörner von der Seite, ist ja nur eins sichtbar: Scheinbar findet man ein Einhorn als starkes, kämpferisches Tier abgebildet.

Mit Sicherheit ist das Auftauchen des Einhorns im Alten Testament auf ein Mißverständnis zurückzuführen: Das hebräische „re’em“, mit dem Jahwe wiederholt zur Beschreibung seiner Stärke und Unbesiegbarkeit belegt wird, bedeutet Wildstier. Doch schon die Vulgata – die lateinische Bibelübersetzung aus dem 4. nachchristlichen Jahrhundert – übersetzte an diesen Stellen Unicornus. Kein Wunder, denn schon die griechische Übersetzung des Alten Testaments hatte seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert re’em mit Monokeros – Einhorn – wiedergegeben. Luther hatte, mit anderen Worten, kaum eine Chance, etwas anderes als „Einhorn“ zu lesen, als er im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts auf der Wartburg die Bibel ins Deutsche übertrug (1534 – übrigens nicht als erster. Die erste deutsche Bibel wurde 1466 von Johannes Mentelin in Straßburg gedruckt und verwendete eine damals schon 100 Jahre alte Übersetzung aus dem Nürnberger Raum).

Den Nachweisen des Einhorns im Alten Testament ist seither übel mitgespielt worden. Um es noch drastischer zu formulieren: Im wissenschaftlichen Wahn der historisch-kritischen Korrektheit ließ man das Einhorn der Bibel aussterben. Ohne zu bedenken, daß man dadurch einer ungeahnt weitläufigen Bild- und Literatur-Tradition des europäischen Mittelalters den Boden unter den Füßen wegzog. Zum Glück gibt es Pater Werinhard Einhorn, der Einhorn heißt, über das Einhorn promoviert und seine Arbeit nach der Wende (1998) noch einmal überarbeitet hat, als er Text- und Bildzeugnisse hierzulande sowie in Böhmen, Polen etc. leichter oder überhaupt erstmals einsehen konnte. Er hat ein Kompendium vorgelegt: Spiritalis Unicornis, das die Geschichte des Einhorns darlegt und auf über 200 Seiten Fundstellen von Einhorndarstellungen als Skulpturen, auf Teppichen, Tafelbildern, Wandmalereien, Schmuck, Kelchen und anderem Gerät festhält. Sehen wir uns eine der 7 Textstellen an, die Pater Einhorn zum Beleg des Alttestamentarischen Einhorns aufführt. Er bemüht sich dabei um wörtliche Nähe zum griechischen Text (also der ersten Übersetzungsstufe).

(Numeri- 4. Buch Mose – Kap. 23, Vers 22)

PATER Einhorn: (Möglichst nah an griechischem Text) “Gott hat sie aus Ägypten herausgeführt, sein ist ja die Herrlichkeit des Einhorns.“

HEUTE: Gott, der sie aus Ägypten geführt hat, ist für sie wie das Horn des Wildstiers (Bibel 1967/1981)

HEUTIGE VULGATA: Deus eduxit illum de Aegypto, sicut cornua bubali est ei. (Bubalus heißt der Büffel, die Gazelle).

Ähnliche Befunde liefern die Textstellen aus dem Deuteronomium sowie den Psalmen, die einst von der Stärke und Herrlichkeit des Einhorns kündeten: Aus dem Alten Testament ist das Einhorn verschwunden, das Luther in seiner Übersetzung noch so selbstverständlich gewesen war.

Für Luther aber war es eben noch selbstverständlich, und das hat seinen Grund. Der liegt zum einen im Physiologus, einem griechischen Tierkundebuch (Bestiarium) der Spätantike, das zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria verfasst worden ist. Dem europäischen Mittelalter diente der Physiologus als wichtige Quelle (es gibt schon eine althochdeutsche Übertragung, einen ahd. Physiologus aus dem 9. Jahrhundert). Aus dem Physiologus zitiert Jacques Le Goff als erstes. Ich habe hier ein wunderschönes Buch von Jacques Le Goff. Ich habe es mitgebracht, da ich wusste, daß hier Bücherliebhaber versammelt sind. Jacques Le Goff ist ein bekannter, mittlerweile über 80jähriger französischer Mediävist, der etliche Bücher über den Alltag und die Gesellschaft des Mittelalters verfasst hat. Sehen wir also, was er zum Einhorn aus dem Physiologus zitiert: [... orig. lesen]

Da haben wir also die intime Kuschelszene: Das starke und schnelle Einhorn ist nicht zu fangen, es sei denn, es gibt sich selbst hin. Dies tut es aber nur im Schoß einer reinen Jungfrau. Diese Geschichte hat die Phantasie der Menschen über Jahrhunderte beflügelt. Im Mittelalter kursierten Schwänke, die die Einhorn-Jagd als Jungfrauentest inszenierten: Kam kein Einhorn, war es um die Unversehrtheit des betreffenden Mädchens offenbar schlecht bestellt. Wichtiger war jedoch die Allegorese, die Auslegung der Geschichte auf ihren religiösen Gehalt hin. Der Physiologus gab solche Allegorese vor: Das Alexandria des 2.-4. nachchristlichen Jahrhunderts, in dem der Physiologus entstand, war von gnostischer, symbolischer Religiosität geprägt. Im Zuge solcher Allegorese wurde die Einhornjagd – nachweislich erst im Spätmittelalter, nicht vor dem 13./14. Jahrhundert – zum Bild für die Menschwerdung Christi. Wie das Einhorn ist Christus als Gottessohn unbesiegbar – er hat ja sogar den Tod überwunden. Zum anderen begibt er sich in den Schoß einer Jungfrau, nämlich seiner Mutter Maria, die, wie die Priester immer so schön formulieren, in „unversehrter Jungfräulichkeit den Gottessohn geboren“ hat. Warum und auf welche Weise die Jagdszene mit in die Allegorese übernommen wird, erläutere ich später.

Zunächst möchte ich ein Stück Text vortragen, das uns bereits nach Thüringen führt: Johannes Rothe lebte zwischen 1360 und 1434 in Eisenach – der Wartburgstadt – und war dortselbst Stadtschreiber und später auch Domherr, also ein einflussreicher Mann. Er verfasste um 1400 das „Lob der Keuschheit“, das sich mit dem „Einhorn, seiner Bedeutung und seiner Natur“ befasst. [orig lesen].

Sehen wir, was Johannes Rothe um 1400 über das Einhorn schreibt. Wir finden vier Textteile: 1. die Einhornjagd, 2. die Beschreibung des Horns selber, 3. die verborgene, wahre Gestalt des Horns und 4. die Wirkmächtigkeit des Einhorns. Seit dem Leibarzt Alexanders des Großen, Ktesias, geht man nämlich von den heilsamen Kräften des geraspelten Horns aus. (Hildegard von Bingen geht um 1155 in ihrem Buch Physica noch weiter in der Aufzählung der Wunderkräfte des Einhorns.)

Da haben wir, um 1400, die christliche Allegorese des Einhorns in Thüringen. Etwa zeitgleich entwickelt sich in Erfurt eine Bildformel, die die Einhornjagd mit der Szene der Verkündigung Mariä verbindet (das Fest Mariä Verkündigung feiert die katholische Kirche am 25. März, neun Monate vor Heiligabend). Dabei werden alle Elemente der weltlichen Treibjagd übernommen und in diese spezielle Szene übertragen. Als Jäger des Einhorns fungiert immer der Erzengel Gabriel, der mit dem Klang seines Hifthorns und zumeist vier Hunden das Einhorn vor sich her in den Schoß der Heiligen Jungfrau treibt. Die Hunde symbolisieren – wie seit Mitte des 14. Jahrhunderts literarisch geläufig – verschiedene Tugenden, im vorliegenden Fall diejenigen Tugenden, die Christus dazu bestimmten, Mensch zu werden. Aus Einsicht in die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen verließ Christus seinen Platz an der Seite seines Vaters und wurde als Mensch geboren. Die Tugenden misericordia, veritas, iustitia und pax (Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede) bestimmten ihn zu dieser Entscheidung. Das ganze spielt sich in einem hortus conclusus, einem verschlossenen Garten, ab. Maria sitzt in diesem Garten, der ihre Gestalt zugleich symbolisch verdoppelt: Der verschlossene Garten, das Paradies, ist ebenfalls Maria. Denn, wie wir wissen, wurde Maria „unbefleckt“ empfangen, d.h. sie war von Beginn an auserwählt und ohne Erbsünde geboren. - Auch die Christusgestalt taucht immer doppelt auf diesen Bildern auf, denn wie in anderen Verkündigungsszenen kommt auf allen diesen Darstellungen ein drubbeliges kleines Christuskind mit dem Kreuz auf der Schulter vom Himmel auf Maria herabgeschwebt: Christus ist das Kind und zugleich das Einhorn dieses Bildmotivs. Was dem theologischen Laien notwendigerweise zu der Vermutung Anlaß gibt, in der Einhornjagd sei schlicht die Empfängnis dargestellt. Auch Pater Einhorn schreibt: „Daß mit dem Tier ‚eigentlich’ der Mann gemeint ist, auch wenn die Darstellungen als Allegorien der Castitas (= Keuschheit) ausgewiesen werden, ist offensichtlich“. Leider waren die katholischen Theologen, mit denen ich gesprochen habe – allen voran der damalige Dompfarrer und jetzige Weihbischof Dr. Reinhard Hauke – von dieser Idee nicht überzeugt. Mit persönlich erscheint es sinnvoll anzunehmen, daß immer auch eine sexuelle Bedeutung der Szene mitschwang. Lesen wir in diesem Zusammenhang das erste (heute noch greifbare) literarische Zeugnis.

Literarisch tritt das Motiv erstmals in einem um 1480 in Niederdeutschland geschriebenen Gebet- und Betrachtungsbuch für Ordensfrauen auf (Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, cod. theol. 291). Darin spricht Gabriel mit einer Ordensfrau über die Menschwerdung Christi. Der lateinisch abgefasste Text mit einem mittelhochdeutschen Einsprengsel lautet in deutscher Übersetzung:

„O Braut Christi schau dich um . . . und betrachte die Schönheit und den Schmuck dieses Gartens. Denn er hat so viele Sinnbilder, so viele Symbole und so viele Rätsel wie Sterne am Himmel. Nun will ich etwas sagen über die Jagd in diesem Garten. Das schnellste Rhinozeros, das keuscheste Einhorn, der schönste Panther wird in diesem Garten gefangen. Gott, der Vater schuf diesen Garten nach dem Wohlgefallen seines göttlichen Herzens. Und der Sohn Gottes entbrannte in Liebe zu diesem Garten und begehrte seinen blühenden Schmuck. Dieser Garten war nämlich eine ganz zarte und anmutige, eine reizende und liebliche, eine schöne und ergötzende Jungfrau. Der Sohn Gottes aber ist von großer Begierde zu diesem Garten erfasst worden und erhielt die Erlaubnis, in ihm zu spielen. Nach dem Ratschluss des ewigen Vaters stieg er in diesen Garten hinab, um mit den Blumen zu spielen. Und ich Gabriel bin vom Herrn gleichsam als Jäger gesandt worden und hatte bei mir vier Hunde. Der erste hieß Barmherzigkeit, der zweite Wahrheit, der dritte Gerechtigkeit, der vierte Friede. Und ich hatte auch ein gewisses feines und wohlklingendes Instrument, nämlich ein kleines goldenes Horn, das jede Psalter- und Zithermelodie süß erklingen ließ. Damit trieb ich die Hunde zum Laufen an. Und siehe während jenes schnellste Rhinozeros bzw. jenes keuscheste Einhorn lustvoll herumsprang und in dem reizenden Blumengarten spielte, blies der Geist Gottes in das fein und süß klingende Horn, das ich am Mund hielt. Und sehr süß tönte es im Ohr der Jungfrau und gleichzeitig im Ohr des Einhorns. Die Melodie aber brachte Folgendes zum Ausdruck: ‚Gegrüßet seist du Maria, du bist voll der Gnaden, der Herr ist mit dir.’ Beide standen da und lauschten. Danach begannen die Hunde zu laufen und das edle Tier zu jagen. Und fliehend und laufend flüchtete es sich in den Schoß der Jungfrau, um dort auszuruhen. Und sofort umgab es jenes anmutige und reizende Mädchen mit dem Schoß seines Leibes. Und so wurde der Sohn Gottes gefangen im Schmuck und Duft der Blumen dieses Gartens. Viele Sünder und Sünderinnen, die des Weges kommen, geraten unversehens in diesen Garten und sprechen: ‚Gegrüßet seist du Maria, du bist voll der Gnade.’ Und sofort werden sie von der Anmut Mariens gefangen, was sie am wenigsten geglaubt und vermutet hätten.“

Das erste Altarretabel, das unser Bildmotiv umsetzt, ist das prächtige, unlängst restaurierte Triptychon im Erfurter Mariendom. Das Motiv der Einhornjagd verbindet sich hier noch mit dem aus der niederländischen Malerei stammenden Motiv der Darstellung Mariens im Kreis der 14 Heiligen oder 14 Nothelfer. Auch sind hier noch nicht die später typischen vier Hunde zu sehen, sondern zwei Hunde, deren Aufschrift sie als Verkörperung der drei Göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe (fides, spes, caritas) zu erkennen gibt. Das Bildmotiv der mystischen Einhornjagd im Hortus conclusus als Darstellung der Verkündigung findet sich als Altarbild derzeit europaweit noch 24 mal. Schon Louis Réau, ein französischer Kunsthistoriker, hat in seinem Grundlagenwerk Iconographie de l’art chréstien 1955 festgestellt, daß Einhornbilder sich auf den deutschen Sprachraum – also inklusive Elsaß, Böhmen etc – konzentrieren. Für unser spezielles Motiv kann man die Aussage noch konkretisieren: Von den 24 europaweit auffindbaren Tafelbildern befinden sich elf in Thüringen: fünf in Erfurt, drei im Weimarer Schloßmuseum (wobei eines davon auch ein Erfurter Bild ist, vom „Meister des Barfüßeraltars“ geschaffen und durch Johann Wolfgang von Goethe 1828 über die Grenze nach Weimar zu seinem Fürsten geschafft). Weitere drei Bilder sehen wir auf den Außenseiten von Altären zentralthüringer Dorfkirchen.

Programmatisch dürfte das zweite Bild der Reihe, das um 1470/80 in einer Erfurter Werkstatt geschaffene Einhornbild aus der Severikirche gewirkt haben. Es weist eine Vielzahl der mariologischen Symbole auf, die für dieses Bildmotiv in der Folge typisch sind. Und es ist mit einer Vielzahl von Erläuterungsschriften versehen – selbst das Einhorn „Vnicornus“ ist beschriftet –, was auf den möglichen Unterweisungscharakter solcher Altarretabeln verweist. Vom Verkündigungsspruch, dem sogenannten „Englischen Gruß“, dem „Ave Maria“ haben wir schon gehört. Der Gruß des Engels kommt in der Regel als Spruchband aus seinem Jagdhorn. Meist tritt auch Marias Antwort als Bildinhalt hinzu: „Ecce ancilla domini, fiat michi secundem verbum tuum – sieh, ich bin des Herren Magd, mir geschehe nach Deinem Wort.“ (Am ausführlichsten ist die Unterhaltung von Engel und Maria auf einem Gemälde in Besitz der Crucisgemeinde darstellt, das sich im Erfurter Stadtmuseum befindet. Zu den Tugendenhunden, von denen wir schon gehört haben, tritt immer noch das Vlies Gideons („vellis gideonis“). Hintergrund hierfür ist Gideon, der die Isrealiten vom regelmäßigen Überfall durch die Midianiter befreite. Durch einen Engel zu dieser Aufgabe aufgerufen, forderte er als göttliches Zeichen der Auserwähltheit, ein Schaffell solle, während die Umgebung trocken bliebe, über Nacht vom Tau durchnäßt werden. Das Wunder geschah (Ri, 6,11-17.36-40) und wird als Zeichen der himmlischen Befruchtung zum Symbol, das typologisch auf Maria vorausweist. Ein weiteres Symbol, das in allen Bildern zu finden ist, ist der brennende Dornbusch, aus dem Gott zu Mose spricht (Ex 3,2-5). Mit „rubus moysi“ – wörtlich: Brombeerstrauch des Mose – gekennzeichnet, ist das Motiv unterschiedlich ausgeschmückt. Mal tritt Gott in den Flammen in Erscheinung, mal löst Mose, seine Schafherde neben sich, auf Befehl Gottes die Sandalen von den Füßen („Solve calciamentum de pedibus“ Ex 3,11 - vgl. Abb. II, V), da er Heiliges Land betreten hat. Das Bild der Severikirche gibt auch die Antwort Mose im Spruchband wieder: „Domine quis sum ego ut vadam ad pharaonem et educam“ (Wer bin ich, Herr, daß ich zum Pharao gehe und führe [die Kinder Israel aus Ägypten] Ex 3,11) In jedem Fall aber ist der brennende Dornbusch als Symbol der unversehrten Jungfräulichkeit Mariens in den typologischen Verweiskontext gelangt: „Waistu nit, daz der busch bran und nit verbran?“ heißt es in einer der literarischen Vorlagen des Bildmotivs.

Als „porta clausa“ oder „porta Ezechielis“ erscheint auch die „verschlossene Pforte“ als Symbol Marias und ihrer immerwährenden Jungfräulichkeit. Hintergrund ist die Vision der künftigen Gottesstadt durch den Propheten Ezechiel (Ez 40-47,12): Das Osttor der Stadt ist und bleibt verschlossen, da Gott hier hindurchgeschritten ist (Ez 44,1-2). Durchgängig in den Bildern ist auch die „urna aurea“ zu finden, das goldene Mannagefäß mit der nicht endenden Nahrung (Ex 16,33). Attribute der Figur der Braut aus dem Hohenlied Salomos werden seit der mittelalterlichen Mystik auf Maria übertragen. Neben dem versiegelten Quell („Fons signatus“), der in der Regel als überdachtes Brunnenhäuschen die Bildformel der Einhornjagd-Verkündigung ergänzt, ist dies auch der verschlossene Garten – der „Hortus conclusus“ - selbst (vgl. Hld 4,12). Des weiteren aus diesem Symbolkreis übernommen ist „aurora consurgens“ - die aufstrahlende Morgenröte (Hld 6,10) und die Lilie unter Dornen: „Sicut lilium inter spinas/ Sic amica mea inter filias“ (Hld 2,2). Vereinzelt treten ein Ölbaum - „Quasi oliva speciosa“, „Esaias propheta“, die „Stella Jacobi“ hinzu, Symbolblumen wie Rosen, Lilien oder Maiglöckchen sowie als „turris salomonis“ oder „turris davidis“ der Geschlechterturm Davids, der für den Stammbaum Jesu steht (vgl. Mt 1,1-17).

Besondere Beachtung verdient ein letztes Motiv, das fester Bestandteil der Bildformel der Einhornjagd-Verkündigung ist: der grünende oder mit einer Taube versehene Stab unter elf dürren Stäben. Schriftbänder weisen das Motiv als „virga aaronis“ oder als „virga joseph“ aus. Ersteres verweist auf die Auswahl der Sippe Aarons zum Priestertum (Num 17,23) durch das göttliche Zeichen des über Nacht begrünten, Mandeln tragenden Stabes. Letzteres spielt auf die nur aus dem apokryphen Protevangelium des Jakobus sowie der mittelalterlichen Legendensammlung Legenda Aurea bekannte Geschichte von der Auswahl des Joseph zum Partner Marias an. Hier ist es eine Taube, die als Zeichen Gottes Josephs Stab auszeichnet. Beide Bildmotive scheinen sich in den Darstellungen der Verkündigung zu vermischen.

Das Bildmotiv wird über 150 Jahre weiterentwickelt. Das heute ebenfalls im Dom gehängte Altarbild aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts ist die späteste erhaltene Ausführung dieses Motivs. Im Zuge des Rationalismus begann man in der Renaissance an der Existenz des Einhorns zu zweifeln. Um den Spöttern aus den Reihen der Reformation keine neue Nahrung zu liefern, verbot das Konzil von Trient (1545-63) den Bildenden Künstlern, das Einhorn weiterhin als Symbol der Menschwerdung Christi zu verwenden.

Interessant ist, daß man an der Existenz des Einhorns zu zweifeln begann, nicht obwohl, sondern gerade weil man eine sehr feste Vorstellung vom Charakter hatte: Der bereits erwähnte Louis Réau schreibt in seiner Iconographie de l’art chréstien:

„Der Skeptizismus der Renaissance war für [den Glauben an das Einhorn] tödlich. Im 16. Jahrhundert begann man an der Existenz des Einhorns zu zweifeln. Arglistig stellte man sich vor, daß es ein viel zu wildes Tier sei, um fügsam Noah in die Arche gefolgt zu sein, und daß es so Opfer der Sintflut geworden sei. Ein Stich von Tobias Stimmer (1576) zeigt alle Tiere, wie sie die Arche betreten, mit Ausnahme des Einhorns, das lieber stirbt – und sei es um den Preis des Aussterbens seiner Gattung – als sich in einen Käfig sperren zu lassen. Zur selben Zeit verbot das Konzil von Trient [1545-63] der katholischen Kunst, das Einhorn weiterhin als Symbol der Menschwerdung Christi zu verwenden: Man trug Sorge, sich vor den ironischen Kritikern aus den Reihen der Reformation eine Blöße zu geben. Von diesem Moment an verschwand das Einhorn aus den christlichen Bestiarien und überlebte nur als Wappentier“

und – so fügen wir hinzu: in Häusernamen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Cornelie Becker-Lamers, Weimar