Die Gabe der Landschaft

Wachstum und Wandel im Werk Timm Kregels

Daß Timm Kregel pflanzenartige Gestalten hervorbringe, die "aus dem Boden wachsen wie die schönen Wesen eines fremden Planeten"[1], ist wiederholt in Texten und Reden zu Kregels Kunst hervorgehoben worden. Macht man sich bewußt, auf welch ausgereift intellektuellem Hintergrund Kregels Werke als hochartifizielle Gebilde entstehen,[2] so wird man auf die Suche gehen nach den Wurzeln dieser Kunst.

Auf eine der Wurzeln hat Kregel mich selber aufmerksam gemacht. Es ist ein kleiner Essay von Hermann Hesse mit dem schönen Titel "Eigensinn". "Eigensinnig" im Verständnis dieses vor fast 100 Jahren verfaßten Textes ist, wer mit der Befolgung einer Art moralischen Gesetzes in sich selbst - eben dem "Eigensinn" - dem einzigen "natürlichen Standpunkt", dem einzigen "natürlichen Maßstab" des Menschen gehorcht[3] und dem Verfasser darum als Vorbild gilt. Hermann Hesse zufolge gedeiht alles Irdische nur durch die Befolgung seines "eigenen Sinnes" - mit Ausnahme der zivilisierten (oder sollte man sagen: dressierten?) Geschöpfe:

"Einen 'eigenen Sinn' nun hat jedes Ding auf Erden, schlechthin jedes. Jeder Stein, jedes Gras, jede Blume, jeder Strauch, jedes Tier wächst, lebt, tut und fühlt lediglich nach seinem 'eigenen Sinn', und darauf beruht es, daß die Welt gut, reich und schön ist. [...] Einzig zwei arme, verfluchte Wesen [...], der Mensch und das von ihm gezähmte Haustier sind dazu verurteilt, nicht der Stimme des Lebens und Wachstums zu folgen, sondern irgendwelchen Gesetzen, die von Menschen aufgestellt sind und die immer von Zeit zu Zeit wieder von Menschen gebrochen und verändert werden."[4]

Nur Künstlern wird, Hesse zufolge, Eigensinn von der Gesellschaft zugestanden. Vorbild kann aber auch ihnen die Natur sein.

Und damit sind wir auch schon mittendrin in Kregels Werk. Denn seine Kunst macht genau diese Vorbildhaftigkeit der Natur für das Werk evident, indem sie ihren eigenen Maßstab der Form, Gestalt und Material der Pflanzen entnimmt: dem Strauchwerk und Gehölz als "Gabe der Landschaft". Dieser Terminus stammt von Kregel selbst. Lange Jahre schöpft er für seine Arbeiten die Möglichkeiten von Holz und Hölzern in allen denkbaren Erscheinungsformen und Eigenschaften aus. Seine Holzschnitt-Drucke und Monotypien von Holztafeln, vor allem aber seine mit der Kettensäge geschaffenen Holzskulpturen versetzen uns immer wieder in den eingangs erwähnten Kosmos pflanzenartiger Wesen.

Es war u.a. diese Behandlung des Werkstoffes Holz und die Verallgemeinerung der im Material sich abzeichnenden Wachstumsprozesse hin zu Formen, die "in zahlreichen Variationen auf Knospendes, Emporstrebendes und sich Verzweigendes verweisen", die Timm Kregel der Jury für den Kunstpreis der artthuer 2010 empfahl.[5] Unter Kregels Künstlerhänden entstehen vegetabile Figuren oder die Urformen archaischer Gegenstände wie Schilde, Sonnenscheiben und Barken. Immer sind es Formen und Gegenstände, die als gestaltgewordenes Werden das immergültige Gesetz des Wachstums verkörpern, ewig wie die zyklisch sich erneuernde Natur oder so urbildhaft, "als kämen sie aus tiefer Vergangenheit und ferner Zukunft zugleich"[6]. So können die Figuren auch zwischen archaischen Kult- oder Kulturgegenständen und Naturformen oszillieren: Zeigt der fünfteilige Aufbau des Werkes Sumac Blütenkelche oder Trinkgefäße? Arconaglanz: Totholz oder Schild und Speer? Das Geflecht: Faustkeile? Pflanzenteile? Schilde oder Scheiben, Schiffe oder Schuhe, Stäbe oder Strauch - auf Grundformen reduziert, minimalistisch und archaisch[7], waren die meisten Arbeiten Timm Kregels kaum eindeutig zu lesen.

Erst in den neuesten Werken wie Verbunden I - III (2013) sind Natur- und Kulturform endlich eins: Erinnern die Arbeiten Verbunden I - III nicht an Reisigbesen, bei denen man bekanntlich direkt mit einem Bündel dürrer Zweige kehrt? Mit solchen Zweigen entnimmt der Mensch fast ohne Bearbeitung der Natur selber, was seine kulturell verfeinerten Bedürfnisse nach Ordnung und Sauberkeit gegen die endlose Entropie der Natur, nämlich gegen die Verschmutzung, bedient. Folgerichtig gehören Verbunden I - III auch zu den ersten Arbeiten, in denen Timm Kregel seinen natürlichen Werkstoff Holz mit dem aufbereiteten Material Aluminium in einem einzigen Kunstwerk verbindet.

Eine Ausnahme - oder den Anfang einer neuen Entwicklung - bildet auch Das Gewand. Man erkennt es sofort. Mit Das Gewand, einem Aluminiumguß aus dem Jahr 2013, bildet Timm Kregel nämlich erstmals einen konkreten Gegenstand nach: den im Trierer Dom aufbewahrten Heiligen Rock, der als letztes Kleidungsstück Christi von Katholiken in Ehren gehalten wird. Im Kontext seines Œuvres macht Kregel den der Legende nach im 4. Jahrhundert von der Hl. Helena aufgefundenen Rock als Urtypus und archaische Grundform kenntlich: Grundform des Gewandes, Urtyp der Reliquie. Das Gewand stellt jedoch nur durch seinen mimetischen Zugriff auf einen konkreten Gegenstand eine Besonderheit in Kregels Gesamtwerk dar. Von der äußeren Form her ähnelt er den Aluminiumgüssen, die seit 2008 in einer "Spannung zwischen Gewachsenem und Gebautem"[8] die organischen Strukturen der Kregelschen Holzskulpturen in den Werkstoff Metall transportieren. Und damit kommen wir erneut auf die vegetabilen Formen zurück.

Das Gewachsensein, dem sich in Kregels Werk alles demiurgisch-schöpferische Wollen des Künstlers kompromißlos unterordnet, ist für die Werkaussage so zentral, daß die eigentümliche Physiognomie des Materials wie auch die Spuren der Bearbeitung in der fertigen Arbeit stets sichtbar sind. Holzmaserung und Jahresringe, Wuchs und natürliche Formung bleiben ebenso selbst unter farbigen Fassungen greifbar wie die Risse, Verletzungen und Schnittwunden durch die Kettensäge. Jedes Werk zeigt so seine eigene zeitliche Tiefe, die Timm Kregel so wichtig ist, daß sie noch den Aluminiumgüssen seiner Holzskulpturen erhalten werden muß.

Und auch, was eigens für den Aluminiumguß entsteht, bewahrt die Spuren seiner Entstehung im fertigen Werk auf: Das Erkalten des bei 740°C glühenden Metalls, das Geflossensein durch das Kanalsystem des feinen Sandes, das Verspachteln des noch flüssigen Werkstoffs - es ist dieses Verspachteln, das allein die organischen Durchbrüche der Metallflächen ermöglicht - und nicht zuletzt die mit dem fließenden Metall verflossene Zeit bleiben in der fertigen Skulptur greifbar. Das Material Aluminium gibt im Vergleich zum Werkstoff Holz einen veränderten Arbeitsprozeß und eine veränderte Gestalt der Arbeiten vor. Doch immer geben sich die Spuren des Werdens zu erkennen, damit, wie Timm Kregel selber sagt, "der Betrachter dem Entstehungsprozeß, auch wenn er schon lange vorüber ist, über die Schulter schauen kann."

Timm Kregel bindet seine Kunst so konsequent an die Natur zurück. Als besonderen Glücksumstand empfindet er es daher, daß auch die aktuelle Ausstellung "Gabe der Landschaft" im Römischen Haus, direkt im Weimarer Park an der Ilm, gezeigt werden kann. Bei seiner Rekonstruktion der Außenmalereien am Römischen Haus, in denen Kregel Johann Heinrich Meyers mythologische Figuren aus dem Jahr 1798 wiedererstehen ließ,[9] hatte er die enge Verschränkung von Natur und Kunst in dieser vom Wörlitzer Park beeinflußten Parkanlage in ganz neuer Weise kennengelernt. Kregels Ausstellung "Buchen in Belvedere" (2008), in welcher er Skulpturen aus Belvederer Buchenstämmen in die Orangerie des Jagdschlosses zurückbrachte, war durch die speziellen Umstände dann sogar ein mehrmaliger Umschlag von Natur in Kunst und von Kunst in Natur ablesbar.[10]

Timm Kregel arbeitet gerne mit wiederkehrenden Motiven, die er im selben Werkstoff durchdekliniert oder durch verschiedene Materialien hindurchführt. Im graphischen wie im bildhauerischen Werk entstehen dabei ganze Serien, deren Teile mit römischen Ziffern durchnumeriert und so voneinander unterschieden werden: Nordgang, Schattensonne, Kabinett, Verbunden. Ebenso geläufig aber ist es Kregel seit einiger Zeit, bestehende Werke zu neuen Arbeiten zusammenzuführen: Godzos Weg, eine Scheibe aus vielen kleinen Holzquadern, floß 2011 mit seinen Wechseln - Prägedrucke mit Symboltieren, den Himmelsrichtungen und den vier Elementen aus einer Innenstadtgestaltung Bad Frankenhausens - und einer Schattensonne zum Aluminiumguß Orbis Terrae zusammen. Die Wechsel entwickelten sich noch einmal zur großen Papiercollage gleichen Titels weiter, in der prähistorische Wissenstraditionen die Aktienkurse der Tagespresse verdecken.[11]

Die Themen in Timm Kregels Kunst wandeln und verwandeln sich. In einem quasi-organischen Prozeß pflanzen seine Werke sich fort, geben bestimmtes Erbgut weiter, bilden Filiationen, passen sich neuen Erfordernissen eines veränderten Materials an und mutieren "eigensinnig" zu völlig neuen Arten.

Dr. Cornelie Becker-Lamers


[1] Jörk Rothamel in: Timm Kregel, Jahresringe. Arbeiten 1998-2004, mit freundlicher Unterstützung von art regio und der Kulturstiftung DessauWörlitz, Selbstverlag 2004, unpaginiert [S. 2].

[2] Vgl. hierzu auch einleitend www.becker-lamers.de/reden-katalogbeitraege/kregel-galerie-profil/

[3] Hermann Hesse, Eigensinn (1919), in Ders: Eigensinn. Autobiographische Schriften, Frankfurt/Main: suhrkamp 1972, S. 102-108, S. 108.

[4] Ebd. S. 103f.

[5] Der Preisträger der artthuer 2010 ist Timm Kregel. Pressetext des VBK Thüringen auf www.kunstmesse-thueringen.de/253

[6] Rothamel in Timm Kregel, Jahresringe (wie Anm. 1).

[7] "Minimalismus und Archaik" hält auch Rüdiger Giebler als "Werkzeuge" Timm Kregels fest. Vgl. seinen Text in Timm Kregel, Jahresringe (wie Anm. 1) [S. 5].

[8] Pressetext des VBK (wie Anm. 5).

[9] Vgl. die Datei "Die Wandmalereien im Durchgang" unter www.klassik-stiftung.de/einrichtungen/schloesser-und-gaerten/roemisches-haus/

[10] Näheres hierzu im Internet unter www.becker-lamers.de/reden-katalogbeitraege/kregel-orangerie/

[11] Vgl. zu Orbis Terrae und dem Wechsel detaillierter die Kregel-Reden im Dorotheenhof bzw. der Thüringenvertretung Berlin (beide 2011) unter www.becker-lamers.de/reden-katalogbeitraege/

 

Der Text erschien im Februar 2014 im Druck. Bibliographische Angaben:

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Die Gabe der Landschaft. Wachstum und Wandel im Werk Timm Kregels, in: Timm Kregel. Die Gabe der Landschaft, hg. vom Schloßmuseum Sondershausen [=Sondershäuser Kataloge XI] Steinbach-Hallenberg: Druckerei Beckmann 2014, S. 4-7.

Der Katalog ist in der laufenden Ausstellung, im Schloßmuseum Sondershausen oder in der Galerie Profil Weimar zu beziehen.