„Die Form ist eine treibende Kraft. Stefan Böhm. Skulptur und Grafik“
Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Zahnarztpraxis Dr. Süß, Saalfeld, Freitag, 19. April 2024, 18 Uhr
Sehr geehrte Frau Dr. Süß, lieber Stefan Böhm, sehr geehrte Damen und Herren,
Stefan Böhm gibt uns mit seinen Exponaten ein ziemliches Päckchen mit auf den Weg. Inhaltlich, aber auch weil sie vom ganzen Ansatz her so unterschiedlich sind - die Steinskulpturen und die Drucke.
Aber beginnen wir zunächst mit der beruflichen Laufbahn von Stefan Böhm. Er wurde in Weimar geboren, konnte bereits zu Ende seiner Schulzeit in einer Fachklasse für Metallgestaltung lernen und absolvierte nach seinem Schulabschluß Mitte der 90er Jahre eine Ausbildung zum Steinmetz und Steinbildhauer. Doch auch der freie künstlerische Zugriff auf das Material Stein war bereits in der Jugend in Stefan Böhm angelegt. Parallel zu seiner berufsorientierten Ausbildung schuf er daher bereits als junger Erwachsener Steinskulpturen. Den Sprung in die Existenz als freischaffender Künstler wagte er mit Anfang 30, nachdem er sich zum Steinmetz und Steinbildhauer in der Denkmalpflege weitergebildet hatte, einen Meisterbrief besaß und als Mitarbeiter einer Baufirma an der Restaurierung etlicher bedeutender Bauwerke mitgewirkt hatte: dem Kloster und der Kaiserpfalz Memleben, dem Collegium Maius der Alten Universität Erfurt, dem Augustinerkloster Erfurt, mehreren Schlössern und Kirchen. Er kennt die Umsetzung von Auftragsarbeiten nach Kundenwunsch und die Arbeit in der Sepulkralkultur und führte sie doch häufig aus, als in seinem Kopf parallel Gestaltungsideen für eigene Kunstwerke herumspukten. 2007 machte er sich deshalb als Steinbildhauer selbständig und ist seit 2020 Mitglied im Verband Bildender Künstler Thüringen.
Ab 2001 war Stefan Böhm jahrelang in der Denkmalpflege tätig. Das geht nicht spurlos an einem vorüber, und so öffnet dieses Stichwort denn m.E. auch einen möglichen Zugang zum Urgrund auch seines künstlerischen Schaffens in Stein: Stefan Böhm sucht in seinen Steinskulpturen - wie individuell konzipiert sie uns auch immer gegenübertreten mögen - nie nur die Schöpfung von etwas Neuem, sondern immer auch das Bewahren dessen, was ist.
Doch wen diese Suche umtreibt, den treibt bald eine viel tieferliegende um, nämlich die Frage: Was ist denn? Was ist denn das Wesen des Steins, den ich da vor mir habe? Das ist ja auch immer ein Problem in der Denkmalpflege, wenn man es mit einem 1000 Jahre alten Gebäude zu tun hat, das auch in historischer Zeit bereits vielfach anrestauriert, überbaut oder umgestaltet wurde. Was erhalte ich? Bis wohin gehe ich zurück? Welche Schicht lege ich frei? Wie dokumentiere ich an bestimmten Stellen die Zustände, die ich nicht für das ganze Bauwerk festhalten kann oder möchte? Wie werde ich also der wechselvollen Geschichte gerecht? Wann habe ich das Wesentliche meines Gegenstandes erkannt, erreicht, freigelegt - wann muß ich aufhören weiterzuarbeiten? Wann ist - bezogen auf eine Steinskulptur - das Werk vollendet? Und wie kann ich das Gewordensein, also das Leben eines Steins sichtbar machen?
Diese Frage spielt mit Sicherheit eine Rolle im Schaffen von Stefan Böhm. Er denkt dabei in sehr großen Zeiträumen. Schließlich geht es um Steine. Und die sind bekanntlich steinalt. Er hat mir neulich, als ich im Atelier war, einen schönen Beweis für seine historisch weit ausgreifende Perspektive geliefert, indem er sagte: So ein Stein ist ja immer in Bewegung. Der ist immer unter Druck - ja, er wird auch durch Tektonik angehoben, dann bricht er aus einem größeren Felsen aus - und dann, sagte Stefan Böhm, liegt er mal 100.000 Jahre, und dann geht's schon wieder weiter. Stefan Böhm geht in Äonenschritten durch die Geschichte. Seine Kunst ist zuverlässig nicht in Versuchung, sich in tagespolitischen Einmischungen zu erschöpfen. Also ein paar Jahrmillionen muß man da als Betrachter immer im Blick haben.
Auch für Stefan Böhm stellt sich angesichts seiner Steinfunde die Frage nach dem Wesen und der Geschichte, also nach dem Gewordensein dieses Steins. Im Außenraum um sein Atelier liegen die zukünftigen Kunstwerke in Form verschiedener Brocken, die wohl kaum eine/ einer von uns als die Schätze erkennen würde, zu denen sie unter den Händen Stefan Böhms zu gegebener Zeit werden: erdverklebt, bemoost, unscheinbar und alltäglich liegen sie da, aber der Künstler weiß - und spürt - was aus den Steinen zu machen ist.
Gesteinsbrocken weisen Lufteinschlüsse oder Gipsausspülungen auf, versteinerte Spuren einst eingeschlossener Tiere und Pflanzen, mineralische Einschlüsse, Erze - was auch immer. Diese Einschlüsse sichtbar zu machen, ist Teil der künstlerischen Arbeit von Stefan Böhm. Denn sie sind ja die Zeugnisse der Lebensgeschichte des Steins und der Zeitalter, durch die er bereits gegangen ist. In den Skulpturen aus Muschelkalk oder Travertin ist das besonders gut zu beobachten, weil diese Gesteinsarten sehr kavernös sind. Stefan Böhm bearbeitet sie gerne, denn sie sind in seiner Heimat einfach sehr verbreitet und dieser Stein beruhigt ihn. Travertin findet man in Weimar bei einem Tiefgaragenaushub - und Weimars Hausberg, der Ettersberg, ist ein eigener Naturraum aus Muschelkalk, präzise abgrenzbar 12 km breit in seiner Ost-West-Ausdehnung und 4 km tief in Nord-Süd-Richtung. Bearbeitet Stefan Böhm einen solchen Brocken, sucht er nach charakteristischen Einschlüssen, die diesen speziellen Stein individuell auszeichnen. Diese Stellen legt er frei und bringt sie durch seine Bearbeitung zur Geltung. In der aktuellen Ausstellung zeigt Stefan Böhm nur eine Skulptur aus Muschelkalk, sie heißt "Einander zugewandt" und entstand letztes Jahr. Es kann vorkommen, daß bei der Bearbeitung von Travertin oder Muschelkalk eine figürliche Skulptur herauskommt. Ich habe solche Torsi bei Böhm schon gesehen. Eine solche Form ist aber niemals das Ziel oder die Anfangsvorstellung von Stefan Böhm. Das Ziel ist, den Stein so zu bearbeiten, daß seine individuelle Schönheit optimal zum Tragen kommt.
Bei Vulkangestein wie Diabas oder Basalt ist das die Politur. Von diesen Gesteinsarten sind je zwei Exponate hier zu sehen. Unschwer zu erkennen, daß die Bearbeitung eine völlig andere ist. Der Stein ist hart und undurchdringlich und nach seiner Politur von einer geradezu strahlenden Dunkelheit. Kantige und aufgerauhte Flächen wechseln sich mit streichelweich geschliffenen Flächen ab und scheinen die Aufgabe zu haben, die glänzenden Teile der Skulptur optimal zur Geltung zu bringen. Doch auch diese Formen sind zu Beginn der künstlerischen Arbeit nicht vorgefaßt. Es geht nicht um den Effekt oder das Dekorative des polierten Steins, das irgendwie zum Vorschein zu kommen hätte. Die Politur ist kein Selbstzweck. Stefan Böhm will Welt weder abbilden - in figürlichen Skulpturen - noch einfach doppeln - in der Ausstellung von nach einer bestimmten Vorstellung zurechtgemachten Steinen. Stefan Böhm möchte Welt freilegen und sichtbar machen, wie sie eigentlich ist: steinalt und im Wortsinne ehrwürdig, vielfältig geworden, rätselhaft und bezaubernd schön.
Um dies zu erreichen, muß die Form dem Material eines Steins folgen. Für die Steinskulpturen Stefan Böhms gilt die Umkehrung dessen, was als künstlerischer Zugriff geläufig ist. Ist man gewohnt, daß Künstler sich in einer bestimmten Darstellung entäußern möchten und nach dem Material suchen, das die Darstellbarkeit am besten unterstützt, so geht Stefan Böhm in seinen Steinskulpturen den umgekehrten Weg: Nicht das Material dient der möglichst perfekten Hervorbringung der Form, sondern die Form dient der möglichst perfekten Inszenierung des Materials.
Jeder unbehauene Brocken tritt Stefan Böhm in seiner spezifischen Charakteristik und Ausprägung gegenüber. Doch das Freilegen der jeweiligen Besonderheit eines Steins muß der Künstler im Verlauf des Schaffensprozesses selber erst herausfinden. Jeder Schaffensprozeß trifft eine Entscheidung, was es denn diesmal sei, was es da veredelt zu bewahren gelte. Und jeder einzelne Schaffensprozeß gibt dann eine individuell zugeschnittene Antwort auf die Frage, die ich eingangs formuliert habe. Wenn ich bewahren möchte, was ist: Was ist denn? Was ist das Wesen des nächsten zu bearbeitenden Steins?
Die Sichtbarmachung dessen, was ist, braucht also Formwillen. Der Künstler muß erkennen, wann seine Arbeit enden kann und wann sie enden muß. In der freien Kunst ist das noch anspruchsvoller als im Denkmalschutz. Denn es obliegt ganz allein dem Auge des Künstlers zu entscheiden, wann ein Werk vollendet ist.
Und so ist auch der Titel der aktuellen Ausstellung zu verstehen: "Die Form ist eine treibende Kraft". Dieses Diktum widerspricht nicht der Analyse, daß die Form in den Steinskulpturen Stefan Böhms dem Material folgt. Aber der Satz "Die Form ist eine treibende Kraft" ergänzt diese Analyse. Stefan Böhm hat die Worte einem eigenen kurzen Gedicht oder verdichteten Statement entnommen, das die Form als Ursprung allen Werdens beschreibt. Es ist auf seiner Homepage auf der Seite zu dieser Ausstellung hier nachzulesen. Ich trage das Gedicht einmal im Zusammenhang vor.
"Die Form ist eine treibende Kraft." Das ist wie eine Überschrift abgesetzt, dann folgt: "Die Form ist Stille;/ die Stille ist Kraft;/ die Kraft ist der Geist;/ der Geist ist die Geburt der Form." Die vier Zeilen fangen das Zirkuläre des ewigen Kreislaufs im Werden sehr gut ein. Die Form steht dabei am Anfang und am Ende. Mit den Begriffen von Stille, Kraft und Geist umschreibt Stefan Böhm sie als die Energie, die unerläßlich ist, um jeden Prozeß einer Schöpfung in Gang zu setzen und die sich letztlich in der Materie entäußert, in die Materie ausfällt, wie bereits die mittelalterliche Philosophie dies zu fassen versuchte.
In Einsteins berühmter Gleichung von der gegenseitigen Umwandelbarkeit von Energie in Masse (dieses E = mc² heißt ja, Energie ist gleich Masse mal einer Konstante, nämlich der Beschleunigung, also Energie und Masse sind ineinander umwandelbar) finden wir die naturwissenschaftliche und daher derzeit anschlußfähigere Formulierung einer viel älteren, einst auf geistigem Weg erschlossenen Wahrheit, die im Mittelalter selbstverständlich auch noch nicht ohne die Idee eines göttlichen Schöpfergeistes auskam, angesichts des unendlich größeren Universums und der Unfaßbarkeit der Schöpfung.
Das Stichwort Einstein und Teilchenphysik führt uns nun tatsächlich auf die Spur der Papierarbeiten, die Stefan Böhm vor etwa drei Jahren zunächst als Monotypien und mittlerweile als mehrschichtige oder übermalte Linoldrucke umzusetzen begann. Die Suche nach dem Wesen der Dinge hat den Künstler über kurz oder lang zu der Frage geführt, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Auch in den Skulpturen begann er etwa um die gleiche Zeit, um die Darstellbarkeit mehrdimensionaler Räume zu ringen. Im Rahmen der Themen-Ausstellung zur "Künstlichen/ Künstlerischen Intelligenz", die der Verband Bildender Künstler unlängst in Gotha gezeigt hat, hatte Stefan Böhm Werke ausgestellt, die in der Öffnung eines Steins die Öffnung einer weiteren, vierten Dimension zu visualisieren versuchten. Seine Arbeiten umkreisten die Phänomene der Quantenphysik wie den Tunneleffekt, den Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts, die Wahrscheinlichkeitsaufenthaltsräume kleinster Teilchen, die spukhafte Fernwirkung, durch die aufgespaltene Teilchen in Kontakt bleiben zu können scheinen.
Und auch die Drucke widmen sich vielfach dieser Thematik. Der Titel "Leptonen" gibt den Fingerzeig: Leptonen sind nämlich eine bestimmte Klasse von Elementarteilchen und Grundbausteine der Materie. Auch die Blätter "Kausal" I - VIII (?) sowie das Werk "Verbunden" halten in der Darstellung inhaltlich die Schwebe zwischen Zeit und Raum. Bewußt wird der Betrachter im unklaren darüber gelassen, ob es sich um die Momentaufnahme von Teilchen oder Wesen handelt, oder um einen Bewegungsverlauf, dessen Spur die Darstellung einfängt. Stefan Böhm weiß sich hier in vollständigem Einklang mit den Arbeiten der Physik im atomaren Bereich, wo der Nachweis kleinster Teilchen etwa in Nebelkammern ja ebenfalls nur durch die Darstellbarkeit einer Bewegung dieser Teilchen und der Spur dieser Bewegung gelingt. Blätter wie "Traumbild" und "Verborgen" deuten ebenfalls auf eine Gleichzeitigkeit und Vielschichtigkeit von Geschehen, auf assoziative Verknüpfungen, in denen auch unsere Gedanken und Einfälle alle rationalen Wege durchtunneln, Kausalität durch Simultaneität ersetzen und Zeiten und Räume verbinden.
Was ist eigentlich wirklich? Stefan Böhm spürt dieser Frage nach in den Äonen, die seine Steine bereits durchlebt haben, und in den Sekundenbruchteilen, in denen Elementarteilchen entstehen und wieder zerfallen und in denen uns unsere Träume und Assoziationen den einen oder anderen Streich spielen. Er spürt dieser Frage nach in den Erdräumen, die seine Steine durchwandert haben und in den Nicht-Räumen, in denen Quarks und Quanten vermutet werden müssen, aber kaum nachweisbar sind.
Als technische Besonderheit ist hervorzuheben, daß es sich bei den Drucken durchgängig um Unikate handelt. Stefan Böhm kann einfach das Repetitive nicht leiden. Zum Teil sind die Blätter mit Drucker- oder Malerfarbe übermalt, bis man die ursprünglichen Drucklinien überhaupt nicht mehr sieht. Häufig aber sind mehrere Druckschichten mit unterschiedlich transparent erscheinenden Formen und Farben übereinander gelegt. Hierzu kann der Künstler sicherlich konkret zu den einzelnen Werken am besten Auskunft geben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar