Der Spiegel der Seele. Zur Bewahrung mimischer Muster in den "Köpfen" der Bildhauerin Sylvia Bohlen
"Kopf und Portrait": Der Titel des vorliegenden Katalogs zu einem Arbeitsschwerpunkt der Bildhauerin Sylvia Bohlen wirkt auf den ersten Blick wie eine rhetorische Dopplung. Die Portraits zeigen ja Köpfe - und die Köpfe sind doch das Portrait einer lebenden oder zumindest einer erdachten Person.
Doch die Differenzierung in der Begrifflichkeit reflektiert einen wesentlichen Unterschied auch in der Sache. Während das Portrait in der Regel die (bei aller möglichen Idealisierung) individualisierte Abbildung einer (prominenten) Persönlichkeit darstellt, sucht das Thema "Kopf" nach dem nicht idealisierten Alltagsmenschen, dessen charakteristische Gesichtszüge auf seine Herkunft, seine Profession oder seinen Gemütszustand hin lesbar sind.[1] Individuum hier - Typus da: Beide Bereiche aus der Kultur der Darstellung schreitet die Kunst Sylvia Bohlens aus und markiert sie in den jeweiligen Werktiteln.
Im vorliegenden Katalog finden sich die Portraitbüsten der prominenten historischen Persönlichkeiten Friedrich Schiller (1759-1805), Friedrich Fröbel (1782-1852) und Albert Schweitzer (1875-1965) neben Plastiken, die das Abbild eines unbekannten Alltagsmenschen auf ein Merkmal seiner Herkunft, seiner Profession, seines Alters oder eines hervortretenden Charakterzuges hin typisieren: "Israeli" und "Afrika"; "Alter Clown" und "Junger Seemann"; "Kind" und "Jung"; "Trauriger" und "Träumer". Eine Zwischenstellung nehmen die Köpfe ein, die eigentlich Portraits sind, da für sie ein benennbares Vorbild Pate stand: Das sind nicht nur beide "Kinder". Sondern auch das Konterfei des Baritons Max Raabe ist im Werktitel auf seine Tätigkeit als "Comedian" hin verallgemeinert. Es gibt ein konkretes Vorbild für den "Blinden Funktionär" und "Jones" ist einem Sylvia Bohlen persönlich bekannten Medizinmann vom Stamm der Navaho nachgebildet.
Zur Geschichte von Büsten und Masken
Die Geschichte der dreidimensionalen Darstellung des menschlichen Gesichts beginnt schon in prähistorischer Zeit, als Totenschädel zwecks Ahnenkult überformt und die ersten Köpfe als Götzenbilder oder Idole geschaffen wurden. Portrait-Büsten berühmter Persönlichkeiten - Philosophen, Caesaren - stellte die Antike dann ihren Götterstatuen an die Seite. Als Tradition individueller Darstellung folgte durch die Jahrhunderte eine Flut von Herrscher-Konterfeien zum Zwecke der Repräsentation und der Memoria, aber auch von ikonographisch typisierten Heiligenskulpturen zum Zwecke der Andacht. Die idealisierende Nachbildung des Menschen wie die typisierende Darstellung religiöser Vorbilder waren Ziele dieser Bildhauerkunst.
Sie blieben es als mimetischer, abbildender Zugriff auf das menschliche Antlitz etwa bis ins Werk Auguste Rodins, bevor Constantin Brancusi und Pablo Picasso den Schritt zur Abstraktion in der Darstellung auch des menschlichen Kopfes vollzogen. Julio González, Naum Gabo, Oskar Schlemmer, Hans Uhlmann u.a. schritten in den folgenden zwei bis drei Jahrzehnten den Raum der Abstraktion und Verfremdung vollständig aus. Künstlerisches Ziel war nun das jeweils treffendste Schema. Man suchte, wie die Kunstwelt es damals formulierte, nach der "Maske" als dem Allgemeingültigen des menschlichen Gesichtes oder Kopfes, wobei außereuropäische Kulturen und ihre Kunst von überragendem Einfluß waren.[2] Das Stichwort "Maske", das Picasso für seine Suche nach dem Typischen der Darstellung prägte, ruft dabei noch einen anderen Themenkomplex auf den Plan, der zum Verständnis der Köpfe Sylvia Bohlens beitragen kann: Die Theatermasken der frühneuzeitlichen commedia dell'arte. Sie verhalfen den Schauspielern zur Verkörperung eines unveränderlichen Typus Mensch: Des Grantigen, des Traurigen, des sorglosen Springinsfeld. Die Charaktere erscheinen hier als gottgegeben und sind den Figuren fest und unumstößlich zugeordnet.
Der ganze Raum der Darstellung, Abstraktion und Verfremdung der menschlichen Büste ist also bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der Bildenden Kunst ausgeschritten worden. Jede Künstlerin, die heute schafft, kann sich frei im ganzen Raum der schöpferischen Möglichkeiten positionieren.
Die Plastiken von Sylvia Bohlen
Sylvia Bohlen wählt für ihre Büsten das Figürliche. Die Werktitel, die Sylvia Bohlen ihren Arbeiten verleiht, lassen die Suche nach Charakteren vermuten, wie sie die commedia dell'arte vorführt. Aber das künstlerische Erkenntnisinteresse ringt hier doch um etwas anderes. Es sind nicht angeborene, quasi gottgegebene unveränderliche Charaktere, die Sylvia Bohlen darstellen will. Ihre Arbeiten stellen vielmehr die Frage, wie ein Grundgefühl, eine Ausbildung, eine Angewohnheit oder ein Wesensmerkmal sich in den Körper und in die Mimik eines Menschen eingeschrieben und das Gesicht bis in die Physiognomie hinein dauerhaft verändert haben. Sylvia Bohlens Kunst sucht in den Büsten nach Archetypen - aber nicht nach Archetypen, die als solche geschaffen wurden und sich unveränderlich nach einem festgelegten Rollenschema aneinander abarbeiten. Ihre Plastiken bilden Menschen ab, die sich selbst zu Archetypen gemacht haben - durch ihren vorherrschenden Wesenszug wie die Büste "Streng" oder der "Träumer"; durch Grundzüge ihrer Lebenspraxis wie die "Schöne" oder der "Trinker"; durch ihre Profession wie der zweifelnd-verzweifelte "Philosoph", der ironische "Comedian" oder der gertenschlanke "Tänzer"; oder durch das bewußte Einstehen für die eigene Tradition wie der Navaho "Jones", der jüdische "Israeli" oder die Frauenbüste als Personifikation von "Afrika".[3]
Ihnen allen steht ihre Geschichte "ins Gesicht geschrieben" und Sylvia Bohlen fängt ihre Besonderheit ein. Das beginnt mit der Formung von Kopf und Hals - ins Extreme ausgereizt im hochaufgeschossenen "Tänzer", aber auch bei der "Frau". Wesentlich auch die Wendung und Neigung des Kopfes, die beim "Jungen Wilden", der "Schönen" und dem "Waldmenschen" am auffälligsten von der vorherrschenden Blickrichtung der Plastiken - geradeaus - abweichen.
Die grundverschiedene Ausstrahlung der "Erinnerung 1" gegenüber dem "Israeli" bei ähnlicher Neigung des Hauptes zeigt, wie relevant Mund und Augen für den Gesamtausdruck der Köpfe sind: Während der "Israeli" den Mund zum schmalen Spalt geöffnet und die taxierenden Augen in die Welt gerichtet hält, ist der Mund der "Erinnerung 1" geschlossen und die Augen niedergeschlagen. "Israeli" zeigt einen zurückhaltenden und beobachtenden, aber hellwachen und aufnahmebereiten Charakter, offensichtlich bereit, sich im nächsten Moment ruhig, aber entschieden verbal einzumischen. Demgegenüber stellt "Erinnerung 1" eine vollständig weltabgewandte und in sich versunkene Figur dar. In diesem direkten Vergleich wird der "Israeli" lesbar als Verkörperung einer Reflektiertheit, die uns vorantreibt, die "Erinnerung 1" hingegen als Personifikation einer inneren Emigration, die den Menschen in der Vergangenheit gefangenhält.
Kopfputz - Frisur oder Glatze, Kopfbedeckung, Schmuck - und in der Büste angedeutete Kleidung tragen Weiteres zur Konkretisierung der Charaktere bei: Seine Kippa kennzeichnet den "Israeli" überhaupt erst als Angehörigen der jüdischen Religion, die Kopfbedeckung der "Afrika" verweist ebenso wie der Federschmuck von "Jones" auf die traditionelle Kleidung außereuropäischer Kulturen. Die Unterschiedlichkeit besonders im Ohrschmuck von "Frau" und "Mann" deutet auf dessen für beide Geschlechter unterschiedliche soziale Konnotation: Verraten bei der "Frau" strenger Dutt, Perlenkette und entsprechende Ohrringe die Anpassung an ein überkommenes Rollenbild, zeigen beim "Mann" ausrasierte Schläfen, hochgebundene Lockenpracht, eine improvisierte Kette aus Metallfaden sowie die Sicherheitsnadel und andere Fundstücke im Ohrläppchen auf einen bewußt sichtbar gemachten Widerstand.
Zwei Figuren ist auf der Schulter ein kleiner Vogel als Attribut mitgegeben: Dem gedrungenen "Artisten" und dem "Jungen Wilden". Hierauf wird an anderer Stelle zurückzukommen sein.
Die wesentliche Charakteristik der Köpfe liegt natürlich im ausmodulierten Mienenspiel der Gesichter: Denn das Gesicht ist ja, wie man zu sagen pflegt, der Spiegel der Seele. In Lach- oder Sorgenfalten schlägt sich nicht nur das Alter, sondern auch die Grundstimmung nieder, die ein Menschenleben geprägt hat. (Das griechische Wort "Charakter" heißt ursprünglich [Münz-]Prägung.) Da frappiert - auch weil er als einziger Kopf einen Kranken zeigt - der "Trinker". Es ist die einzige unter den im Katalog zusammengestellten Büsten, die aus Ytong geschnitten ist. Die Modulation der hundert Fältchen und tieferen Falten etwa in der Augenbrauenpartie, die Modulation der eingefallenen Wangen, der Tränensäcke und des dauerhaft herabgezogenen Mundes sehr überzeugend gelungen. Die Augenlider, die von unten wie von oben nur einen kleinen Teil der Iris verdecken, rufen den Eindruck eines zornig-verletzten Blicks hervor. Sogar die veränderte Hautoberfläche des "Trinkers" wird visuell erfahrbar. Vermutlich ist es besonders der bewußt verschlossene Mund, der die Veränderungen an Haut und Mienenspiel des "Trinkers" nicht als Alterserscheinungen, sondern als Krankheitssymptome sichtbar macht.
Denn wie anders sieht der "Hutmann" aus! Auch diese Büste ist nicht aus Steinzeug aufgebaut, sondern gehört zu den wenigen im Katalog versammelten Arbeiten, die aus Sandstein gehauen sind. Die verengten Augen sind auf sein verschmitztes Lächeln zurückzuführen, durch welches aus seinem ebenfalls verschlossenen Mund eine ironische Distanz zur Welt spricht. Die Figur des "Hutmannes" gehört zu den wenigen Köpfen Sylvia Bohlens, die lächeln und Zuversicht ausstrahlen. Da wäre noch die Gelassenheit des "Israeli", die Abgeklärtheit des "Clown", der gekonnt asymmetrisch hochgezogene Mundwinkel des "Comedian" und die vielleicht belustigt blickenden Köpfe von "jungem Seemann" und "Tänzer". Viele Figuren strahlen Resignation, Mißtrauen oder Trauer aus. Beide "Kinder"-Büsten wirken eher verzagt als unbeschwert. Bestürzend besonders der mit "Jung" betitelte Kopf. Die geweiteten Augen und der nach unten gezogene schmallippige Mund vermitteln eine Kraft, die gerade noch für das Entsetzen an der Welt ausreicht, nicht aber mehr für Hoffnung und Lebensfreude.
Ein bemerkenswertes Aperçu ist noch, daß man, obwohl ja alle Farbigkeit der Gesichter in den Köpfen und Portraits Sylvia Bohlens mit Engoben aufgemalt sind, beim "Alten Clown" sieht, daß die Augenbrauen seiner Verkleidung für den Auftritt aufgemalt sind. Man unterscheidet bei diesem Kopf eindeutig die "eigentlichen" Augenbrauen der Figur von den aufgemalten der Clownsmaske, die, hochgezogen, Aufmerksamkeit, Erschrecken oder Hochgefühl ausdrücken sollen.
Der Spiegel der Seele ...
Die Wangen, die Form von Mund und Lippen, die Größe der Augen und die Position der Brauen verraten, was einen Menschen gerade bewegt. Wie bestimmend ein Charakterzug für das Leben war, prägt sich dauerhaft dem Gesicht ein, so daß auch die Rede geht, jeder habe zuletzt doch das Gesicht, das er verdiene. Stimmt das heute noch? Im Gesicht wirklich einen Spiegel der Seele erblicken zu können, setzt voraus, daß das Gegenüber nicht schauspielert. Wie die Zerlegung und Abstraktion des Kopfes in den Skulpturen der Moderne, so ist auch die Suche nach dem einfachen, unverstellten Gesichtsausdruck bereits hundert Jahre alt. Schon zu Zeiten der Weimarer Republik diagnostizierten Soziologen einen "Kult der Zerstreuung"[4] und sinnierten nicht nur darüber, wie das Theater den Menschen zunächst refokussieren könnte, um ihn hernach wieder zerstreuen zu können, sondern auch darüber, wo man die reinen und einfachen Gesichter fände, die wahre Gefühle in den möglich gewordenen Großaufnahmen des damals neuen Mediums Film sichtbar machen könnten. Denn "Menschen, die eine Rolle spielen, sei es im Leben, sei es auf der Bühne, Prominente, wie man sie heute zu nennen liebt, tragen eine Maske zur Schau, wenn sie vor den Apparat treten"[5], stellte der einflußreiche Fotograf Helmar Lerski fest. Bewußt wandte er sich von der hergebrachten Portraitfotografie ab und dem "Volke" zu, um "dort die Typen [zu] suchen, die wir brauchen"[6]. Seine Gedanken berührten sich in diesem Punkt mit denen von Regisseuren und Filmemachern, die ebenfalls in Laiendarstellern die besseren Akteure für ihre Projekte entdeckten. Und so fotografierte Helmar Lerski von "Waschfrauen und Hausangestellten über Kutscher und Hilfsarbeiter bis hin zu Bettlern und Landstreichern" Menschen, deren Gesicht im "Zeitalter anonymer Lebensverhältnisse [...] auf Aspekte wie Klassenzugehörigkeit, Herkunft, Beruf und politische Orientierung hin lesbar gemacht werden" sollten[7]: einfache, unbekannte Menschen, "die für ihr Photo keine Verwendung haben"[8].
... im Zeitalter der täglichen Fotostory
Menschen, die für ihr Foto keine Verwendung haben ... Wo findet man diese Menschen in unserer Gesellschaft derzeit überhaupt noch? Ja: Selbstportraits gibt es seit langem und in ihrer Nachfolge seit etwa 1900 auch Selbstfotografien. Und ja: Als Platzhalter der Person (von lat. "persona" - die Maske) ist das Gesicht seit langem "zahlreichen Kulturtechniken und semiotischen Praktiken unterworfen" und so längst "selbst zum Medium von habitualisierten Gebärden und Techniken der Selbstformung und -darstellung geworden."[9] Aber das wachsende Ausmaß an Selbstvergewisserung und self-design in der permanenten Selbstpräsentation der "Inszenierungsspirale"[10] eigener und fremder Fotostories auf den Kommunikationsplattformen des Internet dürfte historisch beispiellos sein. Das "Deutungsmuster, nach dem der Widerschein des Innern auf der Außenseite des Gesichts sichtbar wird, [...] basiert auf dem Mythos einer gleichsam natürlichen Entsprechung zwischen 'innerem' Bildnis und sichtbarer Gestalt"[11] und hat auch diesseits schönheitschirurgischer Eingriffe heute möglicherweise ausgedient. Schon beschreiben Kulturwissenschaftler das Verschwinden filmisch vor knapp 60 Jahren noch festgehaltener mimischer Ausdrucksgebärden: "Solche Gesichter [...] findet man heute nicht mehr."[12] Denn je mehr die experimentelle Psychologie im Auftrag von Werbefirmen, Personalmanagement, aber auch der Forschung zur 'Künstlichen Intelligenz' mimische Bewegungsmuster im "Facial Action Coding System" analysiert und kodifiziert, gleichen sich die Posen der selfie-made men an das vorgegebene System an. Emoticons, einst geschaffen, um menschliche Gefühle abzubilden, werden mehr und mehr zu Vorbildern der sozialen Mimik und des emotionalen Ausdrucks.[13]
Sylvia Bohlens "Junger Wilder" (2019)
Glücklicherweise haben wir es in der Kunst Sylvia Bohlens nicht mit der Abbildung von Gesichtern durch fotografische Mittel zu tun. Denn an den Werken der Bildenden Kunst scheitern die computergestützten Analysen: Zu differenziert sind hier die Stilmittel der Darstellung von Charakter und Gemütslage eines Modells.[14] Und dennoch reflektiert auch Sylvia Bohlen die Gefahren des digitalen Zeitalters: Der "Junge Wilde" aus dem Jahr 2019 ist die Plastik, die einen Menschen der Selfie-Generation zeigt. Nicht nur gehört er, wie erwähnt, zu den ganz wenigen Büsten, die den Kopf abwenden. Er ist auch der einzige Kopf, der eine Brille trägt. Noch dazu eine Sonnenbrille. Wir kennen die ehemalige Strategie der Publikationsorgane, menschliche Gesichter unkenntlich zu machen, bevor dies durch die Verpixelung des ganzen Gesichts möglich und üblich wurde: Man legte einen schwarzen Balken über die Augen der abgebildeten Person. Die Augen sind so wesentlich für das Erkennen eines Menschen, daß mit dem Verbergen der Augen dem Schutz der Persönlichkeit Genüge getan wird.
Die Sonnenbrille ersetzt dem "Jungen Wilden" gewissermaßen den schwarzen Balken. Sie verbirgt ihn. Aber seine Sonnenbrille weist eine Besonderheit auf: Ihre Gläser sind, was im Katalog kaum zu erkennen ist, von oben bis unten mit Nullen und Einsen vollgeschrieben - dem Inbegriff des binären Computercodes. Der "Junge Wilde" also - ein ganz in der digitalen Welt gefangener junger Mensch, der im Wortsinne nichts anderes mehr sieht als Compterdaten. Er will nicht nur nicht sehen. Er will auch nicht (unkontrolliert) gesehen werden. Für beides steht die mit Nullen und Einsen beschriftete Sonnenbrille auf dem abgewandten Kopf.
Ja: Er scheint - anders als der Kopf "Jung" - zu lächeln. Aber nur zum Preis des völligen Ausblendens seiner sozialen Realität: Auf seiner dem Gesicht abgewandten, für ihn nicht sichtbaren Schulter, sitzt ein Vogel. Es ist nach Auskunft der Künstlerin ein Eichelhäher. Der Eichelhäher gilt als "Polizei des Waldes, weil er sofort laut kreischend jeden Fremden im Wald meldet", so Sylvia Bohlen in einer Email. Und weiter: "Ihm habe ich ebenfalls eine digitale Brille mit Einsen und Nullen aufgesetzt. Ein Synonym für die allgegenwärtige digitale Überwachung". Hinzu kommt als Attribut eine Libelle, die als Hinweis auf eine Drohne gelesen werden kann. Daß Sylvia Bohlen in ihren Köpfen und Portraits so ausgesprochen sparsam mit zusätzlichen Attributen arbeitet, macht diese beiden Gesellen des "Jungen Wilden" hoch interpretationsfähig. Ihre Deutung ersetzt den mimischen Ausdruck, den die Sonnenbrille verdeckt und unkenntlich macht.
Fazit
Die Idee einer Suche nach dem Alltagsmenschen, der in seiner arbeitsamen Schlichtheit und Ehrlichkeit den authentischen Ausdruck seiner Gefühlswelt vermitteln könnte, ist nicht neu. Aber im digitalen Zeitalter der Selbstinszenierung ist die künstlerische Umsetzung immer schwieriger geworden. Statt diese Menschen zu finden, wird die Kunst sie mehr und mehr zu erfinden haben, um unserer Kultur die Vielfalt ihres mimischen Ausdruckspotentials zu erhalten. Die bildhauerische Arbeit von Künstlern wie Sylvia Bohlen wird immer wichtiger in einer Zeit, in der immer mehr Menschen in den sozialen Medien ihr Gesicht verlieren.
Dr. Cornelie Becker-Lamers
[1] Vgl. Carolin Duttlinger, Anleitung zur Kontemplation. Helmar Lerskis Köpfe des Alltags und die Portraitfotografie der Weimarer Republik, in: Jörn Glasenapp (Hg), Portraitkulturen, Paderborn 2019, S. 55-77.
[2] Eine gute Geschichte der Darstellungen von skulpturalem Kopf, plastischer Maske und fotografischem Portrait in der Moderne findet sich mit vielen Beispiel-Abbildungen bei Hans Joachim Albrecht, Die Maske des Zeitgenossen. Diskurs über den 'Stil' in der Moderne, in: Ders., Dialog der Skulpturen. Skulpturen im Dialog, Krefeld 1999.
[3] Detailliertere Interpretationen ausgewählter "Köpfe" auch in der Laudatio zur Vernissage der Ausstellung "Begegnung. Sylvia Bohlen" in der Veranstaltungsreihe "Kamelie & Skulptur" der Galerie Profil Weimar; Orangerie von Schloß Belvedere Weimar, März 2011; vollständiger Redentext unter https://www.becker-lamers.de/reden-katalogbeitraege/ Stichwort Bohlen.
[4] Siegfried Kracauer, Kult der Zerstreuung (1926), zit. bei Duttlinger (wie Anm. 1) S. 55, FN 1.
[5] Helmar Lerski, Köpfe des Alltags (1931), VII, zit. bei Duttlinger (wie Anm. 1) S. 71.
[6] Sergej Eisenstein in einem Zeitschrifteninterview aus dem Jahr 1926, zit. bei Duttlinger (wie Anm. 1) S. 71.
[7] Duttlinger (wie Anm. 1) S. 62 bzw. S. 59.
[8] Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie (1931) zit. ebd. S. 71.
[9] Sigrid Weigel, Das Gesicht als Artefakt. Zu einer Kulturgeschichte des menschlichen Bildnisses, in: Dies. (Hg) Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen, München 2013, S. 7-29, S. 9. Weigel verweist hier zugleich auf das Werk Bild-Anthropologie von Hans Belting (2006).
[10] Vgl. den Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Selfie mit Verweis auf soziologische Studien, Hintergründen auch zur Begrifflichkeit etc.
[11] Weigel (wie Anm. 9) S. 10f.
[12] "Solche Gesichter, wie sie beispielsweise in Pasolinis Il vangelo secondo Matteo (1964, Das Erste Evangelium - Matthäus) zu sehen sind, findet man heute nicht mehr." Sigrid Weigel, Das Angesicht. Von verschwundenen, bewegten und mechanischen Gesichtern, in: Das Gesicht. Bilder, Medien, Formate, hg. von Sigrd Weigel für das Deutsche Hygiene-Museum Dresden [Begleitbuch zur Ausstellung Das Gesicht. Eine Spurensuche des Deutsche Hygiene-Museums Dresden, 19. August 2017 - 25. Februar 2018] Göttingen 2017, S. 8-19, S. 14.
[13] Das ergab die Auswertung einer Sammlung von tausenden von Selfies, die die Künstlerin Jena E. Garrett "zusammengestellt hat, um den gegenwärtigen Kommunikationscode der sozialen Netzwerke zu untersuchen". Vgl. Weigel (wie Anm. 12) S. 13; Zitat ebd. S. 15.
[14] Vgl. ebd. S. 13.
Der Text erschien zuerst in: Sylvia Bohlen, Kopf und Portrait, Pössneck 2020, S. 5-6;8-9;13;45;47;49.