„kunstprojekt landnahme“
Rede zur Ausstellungseröffnung
Erfurt, Kulturhof um Güldenen Krönbacken, 9. Juli 2004
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
„Landnahme“.
Alles Positive, das diesem Wort anhaftet und bei seinem Klang mitschwingt, hat seinen Ursprung im erhebenden Gefühl des Übergangs. Die Passage trägt immer auch das Element der Initiation in sich. Hierin liegt der Kern unseres Wunsches nach Mobilität und Veränderung. Sie alle kennen das schöne Gedicht von Hermann Hesse – „Stufen“ –, das uns rät, jeden Abschied als Neubeginn zu sehen, der uns „Stuf’ um Stufe heben“ wolle. Denn „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“.
Jedem Anfang, in der Tat. Was aber ist, wenn der Anfang zu Ende geht? Ist alles passé am Ende der Passage, wenn der Alltag beginnt mit seiner Routine und man denselben Problemen begegnet, die man vorher hatte?
Die Brandenburger Politikerin Regine Hildebrandt hat im 1998er Wahlkampf – es ging natürlich um die Kritik an den angeblich ausbleibenden „blühenden Landschaften“ – ihre Rede mit einer Anekdote gespickt: Sie sei ja nun auch 60 geworden, und dies hätte eine Freundin mit den Worten kommentiert: „Früher hättest du jetzt in den Westen reisen dürfen!“
Ein hübscher Witz! Aber eigentlich ist es gar kein Witz. Denn so unscheinbar der Spruch daher kommt, so sicher bringt er ein Kernelement der ‚conditio humana’ auf den Punkt: Die Relevanz der Träume. Früher hatten wir einen Traum. Und das ist offenbar mehr wert als alles Gold – des Westens. Nicht umsonst verbindet der Volksmund das Träumen mit der Jugend: „Mit 17 hat man noch Träume“. Das Alter aber steht in der Regel weniger für die Erfüllung als für die Desillusionierung. Nichts ist so schön, wie der Traum vom Glück. Nur in der Prophezeiung fließen Milch und Honig im Gelobten Land. Das Gelobte Land – es ist ein Ort, an dem man prinzipiell nie ankommt. Wer die Erzählungen vom Paradies als Motivationen zu Aufbruch und Suche auffaßt, hat sie falsch verstanden. Sie sind, was positive Gedanken immer sind: eine Hilfe in der Gegenwart. Die Ent-Deckung des Gelobten Landes kann nur als Ent-Täuschung vonstatten gehen.
Der Titel unserer Ausstellung nimmt auf die „Landnahme“ Bezug, mit der die Israeliten Besitz vom verheißenen Gelobten Land Kanaan ergriffen. Den Texten zufolge, die die Grundlage der jüdischen Gemeinschaft bis heute bilden, war dieses Land dem Abraham von Gott verheißen worden, und Moses hat das Volk aus der ägyptischen Knechtschaft durch die Wüste in dieses Land geführt. Immer wieder haben sich Völker oder Nationen auf diesen Mythos bezogen, die Siedler in der Neuen Welt etwa. Nicht zuletzt gründet natürlich der aktuelle Nahostkonflikt genau in dem Anspruch der Israelis, in Palästina zu siedeln – ein Anspruch, der sich einzig von der großen Erzählung des Alten Testaments herschreibt und peinlicherweise von Archäologen gar nicht im einzelnen verifiziert werden kann.
Auch die geistige Mission des Bonifatius war eine Landnahme. Zwischen 715 – da hieß der um 672 in Wessex geborene spätere Heilige noch Wynfreth und war immerhin schon 43 Jahre alt – und seinem Todesjahr 754 brach er in mehreren Anläufen zu Missionsreisen auf, zunächst von Utrecht aus, dann von Rom aus, wo Wynfreth 722 zum Bischof geweiht wurde und seither Bonifatius heißt. 722 wird Bonifatius vom Papst zur Heidenmission nach Hessen und Thüringen entsandt. Alle 10 Jahre ist er wieder in Rom, 732 und 744, wird zunächst zum Erzbischof erhoben und dann päpstlicher Vikar für das deutsche Missionsgebiet, später päpstlicher Legat für das Frankenreich, 747 schließlich Erzbischof von Mainz. Er gründet etliche Kloster und Bischofssitze von Friesland bis ins heutige Thüringen und südlich bis Fulda, Eichstätt ins heutige Bayern hinein. Man sagt, daß seine Missionstätigkeit und die kirchliche Organisation, die er in seiner zweiten Lebenshälfte aufbaute, überhaupt die Voraussetzungen geschaffen hat für die politische Einigung eines großen Teils von Mitteleuropa durch Karl den Großen. (Im Jahr 800 ist Karl der Große zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gekrönt worden, zum Kaiser eines Reiches, das zeitweilig von Sachsen-Anhalt bis Sizilien reichte.) Die Brücke zu Bonifatius jedenfalls bringt diese Ausstellung auch dieses Jahr, genau 1250 Jahre nach Bonifatius’ gewaltsamem Tod, in das durch ihn gegründete Erfurt.
Die Idee von Frank Hiddemann von der Evangelischen Akademie Thüringen. zur heutigen Ausstellung war, „Landnahme“ in irgendeiner Form zu thematisieren. Vielleicht haben Sie alle den Flyer zur Ausstellung erhalten? Sonst liegt er vorne aus. Hier wird die Bedeutung der Landnahme in der Bibel aufgerollt und besonders auf heutige Konflikte in Israel, in Korea, zwischen Ost- und Westdeutschland, Ost- und Westeuropa etc. Bezug genommen. Die Übertragung auf die geistige Landnahme des Bonifatius, der dann wiederum die handfeste Landnahme durch die fränkischen Kaiser folgte, sollte die Brücke zum diesjährigen Bonifatiusjahr schlagen. Der Kurator, Walter Bergmoser, wählte Künstler aus, die mit dem Medium der Fotografie die Ausstellung bestreiten sollten. Als Vorgabe umriß er für alle die Thematik nur mit dem Stichwort „Landnahme“.
Alle Künstler arbeiteten unabhängig voneinander, und doch thematisierten sie im Kern alle dasselbe: Das Individuum – aber nicht das herrschende, sondern das beherrschte. Dargestellt wird hier nicht der beseelte Missionar oder der stolze Eroberer, sondern das Individuum als das Element der Geschichte, das bei der Landnahme unter der Räder kommt.
An der Idee der Landnahme wird so in den seltensten Fällen ein gutes Haar gelassen – vielleicht am ehesten in den Fotografien von Stepan Grygar. Über ein Vierteljahr hinweg hat er aus seinem Zimmerfenster zuhause in Prag 150 Fotos des immer gleichen Ausblickes gemacht. 20 dieser Fotos sind nun in der oberen Etage zu sehen. Der Bildausschnitt ist immer gleich: Die oberen Etagen eines mehrstöckigen Hauses, über die sich ein gigantischer Himmel wölbt. Ziel ist es, diesen Himmel selbst als Landschaft wahrnehmbar zu machen – Sie werden sehen, daß er häufig wie zweigeteilt erscheint, daß Wolkenformationen wie Gischt auf einer Welle aussehen können. Stepan hat mir erläutert, daß ihm die Wirkung der Zweiteilung des Himmels besonders wichtig ist. Als wäre ein zweiter Horizont im Himmel selber und der Himmel eine Landschaft, eine Landschaft, die nicht genommen werden kann. (Auch wenn die US-Amerikaner seit Kennedy die Landnahme des Weltraumes als Fortsetzung ihrer Eroberung des „Westens“ ansehen mögen).
Die andere Arbeit im oberen Stockwerk von Renja Leino aber führt uns direkt in die angesprochene Problematik des verschwindenden Individuums. Auf Eishockey-Pucks sind Porträtfotografien verschiedenster Menschen aufgebracht, die verstreut auf dem Boden liegen. In Gruppen einige, die meisten vereinzelt. Die Verstreuung verweist hier allerdings nicht nur auf eine Isolation, sondern auch auf die Achtung der Sphäre jedes Menschen: Jeder hat sein eigenes Leben. – Natürlich kann man (Denk-)Anstöße von anderen erhalten, aber es ist doch anstößig, jemandem zu nahe zu treten. Im Eingangsbereich der Installation finden Sie weiße Kittel, die durch die Besucher übergestreift werden sollen: Der Blick, der sich den einzelnen Menschen zuwendet, wird dann sofort zum sezierenden Blick des Wissenschaftlers oder Laboranten. Es ist der hierarchische Blick von oben nach unten, um den Sie hier gar nicht herumkommen werden und auf den die Künstlerin aufmerksam machen will. Aus Achtung der Abgebildeten ist es übrigens verboten, die Pucks wie Eishockeypucks hin und herzukicken! Das war Thema einer früheren Installation der Künstlerin, in der die Idee der Pucks bereits schon einmal verwendet wurde. Mit einem Hockeyschläger konnten die Pucks damals hin- und hergeschoben werden. Wer einen Platz einnimmt, verdrängt dadurch andere, war damals die dahinterstehende Geschichte. Diesmal ist der Schwerpunkt der Installation auf die Anonymisierung des Einzelnen in der globalisierten Gesellschaft gelegt, auf den anonymen, sezierenden Blick.
Das Individuum springt uns geradezu an in den lebensgroßen Porträts von Thomas Kummerow. Es sind Ost-West-Migranten, die hier porträtiert sind, drei Personen aus der ehemaligen DDR, die jetzt in Westdeutschland leben und drei Wessis, die heute in den Neuen Bundesländern leben. Zu den Gesichtern gehören Geschichten, die in Endlosschleifen durch die Lautsprecher schallen. Es ist möglich, dem Einzelnen zuzuhören, der hier zu Wort kommt. Doch die Stimmen überlagern sich auch, alle Erzählungen existieren gleichzeitig und kursieren nebeneinander. Hier liegt genau der Punkt, an dem das scheinbare Hervorheben des Individuums wieder gebrochen wird: Indem durchaus konträre Schilderungen unbewertet und ungewichtet nebeneinander stehenbleiben dürfen, fügt das Kunstwerk jedem Individuum, das es zunächst hervorgehoben hat, eine narzißtische Kränkung zu: Wer erfährt schon gerne die Relativierung seiner Sicht der Dinge? Ist die eigene psychische Realität nicht die einzige Realität, die man anerkennt? Die eigene Wahrheit ist die Wahrheit schlechthin. Durch die gegenseitige Relativierung der Geschichten ist das Individuum mit seiner Wahrheit wieder in der Menge verschwunden, auf das gewohnte Maß zurückgestutzt.
Walter Bergmoser thematisiert die „innere Landnahme“, die geschieht, wenn wir von so vielen akustischen und optischen Umwelteindrücken überschwemmt werden, daß wir uns selbst nicht mehr wiederfinden. Die verschwommenen Porträts bilden alle ihn selber ab, aber man kriegt keine Kontur zu fassen, der Mensch ist völlig unkenntlich. - Mit den Landschaftsfotografien ist das durch Übermalen passiert: Die eigentlich schön säuberlich aufgenommenen Blumenbilder sind besprüht, bespritzt, überlasiert und kaum noch als Abbilder von Landschaft wahrnehmbar.
Die Unkenntlichkeit der Figuren ist für mich auch das auffallendste an den Moldavien-Triptchen, die Walter Bergmoser und Thomas Kummerow auf einer gemeinsamen Reise aufgenommen haben (die schwarz-weiß-Bilder sind jeweils von Bergmoser, die farbigen von Kummerow). Die Menschen dieses unendlich armen und völlig ausverkauften Landes – hier hat auch eine brutal-kapitalistische Landnahme stattgefunden an allen früher gemeinschaftlichen Gütern – sind für uns nicht zu fassen: Sie blicken weg, stehen im Schatten, sind in den Bildern verschwommen oder stehen so stocksteif da, daß man überlegen muß, ob man eine Puppe oder einen Menschen vor sich hat. Diese Frau, die sich im Park wie eine Puppe aufbaut, ist auch auf dem Akt zu sehen, der hier erkennbar von mehreren Fotografen zugleich aufgenommen wird. Entstanden ist das Bild in einem Studio, in dem eigentlich Porträts für Heiratsvermittler gemacht werden sollen. Die Mädchen und jungen Frauen sitzen, begleitet von ihren Müttern, wie beim Arbeitsamt in einer langen Reihe da und warten. Die Frau, die wir sehen, ließ es dann gar nicht zu einem Porträt kommen, sondern sagte, sie bräuchte solche Fotos von sich. Sie verschwindet bewußt unter einem großen Hut und hinter den bekannten Posen für Leute, die sich eben für Frauen und nicht für einen ganz bestimmten Menschen interessieren.
Die Installation von Kim Joon-Hee zeigt Röntgenaufnahmen eines dreijährigen Kindes. Ausgehend von der christlichen Schöpfungsgeschichte soll das braune Licht die Schaffung des Menschen aus der Erde in Erinnerung rufen: Von der Erde bist du genommen und zu Erde wirst du wieder werden. Gleichzeitig ruft Gott den Menschen auf, sich die Erde untertan zu machen und über sie zu herrschen. Die Perspektive fernöstlicher Weisheit spürt hier sofort ein Paradoxon auf: Statt den Menschen in Einklang mit dem leben zu lassen, von dem her er stammt und von dem man genommen ist, führt der abendländische Schöpfungsmythos Distanz und Hierarchie zwischen Mensch und Erde ein. In Herrschaft und gewaltsamer Landnahme kehrt der Mensch sich notwendigerweise immer auch gegen sich selbst.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Cornelie Becker-Lamers