Beate Debus. Daseinsformen. Skulpturen und Arbeiten auf Papier
Rede zur Ausstellungseröffnung
Schloß Wilhelmsburg Schmalkalden, Donnerstag, 13. September 2018, 18 Uhr
Sehr geehrter Herr Dr. Lehmann, liebe Beate Debus, sehr geehrte Damen und Herren,
"Daseinsformen" hat Beate Debus ihre neue Ausstellung für Schloß Wilhelmsburg genannt. "Daseinsformen". Ich weiß, daß um den Titel gerungen wurde und daß die Künstlerin selber sich viele Gedanken gemacht hat. Der Begriff muß also für die Exponate etwas zu bedeuten haben.
Daseinsformen. Formen des Daseins. Ein philosophischer Begriff, ein Wort aus der Existenzphilosophie, der Fundamentalontologie. Martin Heidegger fällt uns ein, der das Dasein des Menschen vom bloßen Vorhandensein der Dinge abgrenzt. Dasein hat etwas mit Selbstbewußtsein zu tun, mit der Tatsache, daß dem Dasein - dem Meschen - sein Dasein - sein Menschsein - bewußt ist. Bei dem Dielenboden hier sind sich die Philosophen nicht so sicher, aber der Mensch, das ist klar, der Mensch ist sich seiner selbst und seines Daseins bewußt. Und das ist auch ein Fluch, dieses Selbstbewußtsein. Es schließt die Freiheit ein, aber auch den Zwang zur Freiheit, das hat insbesondere Jean Paul Sartre immer wieder beschäftigt. Das Dasein schließt in sich die Pflicht ein, sich und das eigene Leben immer wieder selbst zu entwerfen, immer wieder zu entscheiden: Wie will ich sein, wie will ich dieses Dasein mit Leben füllen, bevor ich kein Dasein mehr habe.
Was hat das mit der Kunst von Beate Debus zu tun? Was begegnet uns in dieser Kunst?
Wir sehen langbeinige Skulpturen, ringende, umschlingende, suchende Arme. Begehrt hier jemand oder etwas gegen das Eingeschlossensein auf - oder nutzt er oder es die Mauer als Schutz und Stütze? Wir sehen Graphiken, Rötelzeichnungen und Prägedrucke, die in ihrer Formensprache auf die Skulpturen im Raum hinzuweisen scheinen, jedenfalls zu ihnen in Beziehung stehen. Und wir sehen - im Vorraum - Köpfe, deren überzeichnete Proportionen uns in ihren Verzerrungen unheimlich vorkommen, uns aber durch ihren scheinbaren Blick dennoch fesseln.
Eine Zweifarbigkeit der Skulpturen wie der Köpfe, Zeichnungen und Drucke fällt uns auf. In meist schwarz und weiß sind hier zwei Pole einander gegenübergestellt und voneinander abgegrenzt und doch auch - durch die Vereinigung in einer einzigen Figur - einander zugeordnet. Die Werktitel "Tanz", aber auch "Aufbäumen", "Raumgreifer" "Raum fangen " geben uns einen weiteren unmißverständlichen Hinweis darauf, daß wir in den Figuren nach zwei Identitäten suchen müssen, die in irgendeiner Weise aufeinander bezogen sind. Daß die Skulpturen mit der Kettensäge aus einem einzigen Baumstamm herausgesägt sind und hernach, um ihre Zweipoligkeit besser lesbar zu machen, durch Abflämmen geschwärzt bzw. mit Schlämmkreide geweißt sind, gehört als künstlerisch-technische Seite des Schaffensprozesses zum Vorhandensein der Skulpturen. Aber auf welche Aspekte des Daseins verweisen sie?
Obwohl die Werkreihe, an der Beate Debus seit über zehn Jahren und immer noch weiter arbeitet, immer wieder das Wort "Tanz" im Titel führt, geht es nicht immer um die harmonische Abstimmung zweier Figuren. Es können durchaus auch antagonistische Kräfte sein, die hier interagieren. Die Gegenspieler können miteinander ringen, sich aber auch stützen und auffangen, aushalten und gegenhalten, sich überbeugen und den anderen einschließen, sich aufbäumen und aufrichten, stürzen und einander entfliehen. Die beiden in den Werken sichtbar gemachten polaren Kräfte werden im allgemeinen als Dichotomien bezeichnet, die hier ihre Energien ausbalancieren. Das sind die Daseinsformen. So geht Dasein in seiner täglichen und stündlichen freien Entscheidung um den eigenen Selbstentwurf - wobei die Freiheit des Einzelnen bekanntlich dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt. Denn das muß der Mensch als soziales Wesen ja auch immer noch reflektieren, nicht nur das eigene Dasein, sondern auch das Dasein des Andern. Von Skulptur zu Skulptur ringt Beate Debus in der Werkreihe der "Tänze" um die Darstellung von Bewegung und Gegenbewegung, die aus unterschiedlichen charakterlichen Dispositionen der Menschen heraus die soziale Interaktion bestimmen. Korrespondierende Bedürfnisse, polare Kräfte und gegensätzliche Bewegungsimpulse tarieren in den Tänzen einander jeweils aus.
Die Standfestigkeit, die Stabilität der Skulptur scheint mir dabei der Prüfstein zu sein, an dem die Wahrhaftigkeit des Kunstwerks sich erweisen muß. Es gibt aus dem Jahr 2007 eine Skulptur, die heißt "Aushalten" und zeigt in schwarz eine kniende Beinpartie, vielleicht noch abgestützte Arme, und einen langen langen weißen Rumpf. Das ist Aushalten. Und das, meine Damen und Herren, das ist übrigens Kunst. Daß Ihnen nicht jemand ein Schildchen schreibt: "Der Mensch hält viel aus", sondern daß Sie einer Skulptur gegenüberstehen, bei der sie hinlaufen und zur Unterstützung unterfassen möchten, weil Sie denken: Das kann doch nicht gut gehen. Aber es geht - der Mensch hält Vieles aus. Aushalten ist genau das: bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Das ist Kunst: Keine fremden Einsichten, sondern Erkenntnisse aus erster Hand, die Sie angesichts des Kunstwerks selber gewinnen durch die unmittelbare Evidenz dessen, was hier gesagt werden soll.
Zurück zur hiesigen Ausstellung: Das Ausbalancieren der polaren Kräfte in den "Tanz"-Skulpturen ist als Interaktion zweier Körper dargestellt, die vollständig auf ihre Gliedmaßen reduziert sind. Dennoch bleiben sie als Körper erkennbar und die Werktitel, Worte wie Tanzen und Schreiten, Fangen und Greifen, Flucht und Sprung legen die Einordnung der Skulpturteile als Körper zusätzlich nahe. Den Armen und noch mehr den Beinen dieser Figuren kommt eine überragende Rolle zu. Rumpf und Kopf fehlen und sind nurmehr ein Treffpunkt aufstrebender Linien, der die Figuren an ihrem Scheitelpunkt zusammenhält. Es ist ein bloßer Spannungspunkt, in den die Gliedmaßen münden. Daß die Figuren auf ihren Bewegungsapparat reduziert sind, muß also die Werkdeutung bestimmen und zeigt, worum es Beate Debus in einem übergeordneten Sinn geht: Nämlich um die Bewegung der Körper im Raum - um das Raum greifen und Raum geben, weiterhin das Ausloten von Identität und Veränderung, von Eigenem und Anderem. Es geht um nichts weniger als die grundsätzlichen Gegebenheiten jedes Sozialgefüges und jeder Paarbeziehung: Es geht um unser aller Daseinsformen.
Wie aber entstehen die immer neuen und zum Teil über zwei Meter hohen Skulpturen? Die Künstlerin kann doch vor dem Baumstamm nicht einfach mal loslegen. Tut sie auch nicht. Versucht sie das vielleicht erstmal in klein? Ein gangbarer Weg, den andere Bildhauer durchaus beschreiten, aber Beate Debus nicht. Die Entwürfe zu ihren immer neuen Mustern der sozialen Interaktion zweier Körper entwickelt sie auf dem Papier. In Grafiken, Zeichnungen, Prägedrucken und Farbholzschnitten wird in der Zweidimensionalität - aber in perspektivischer Zeichnung - die dreidimensionale Skulptur vorgedacht - wir können hier ein Pendant sehen. Wiederum dient eine Zweifarbigkeit der Hervorhebung der gegenläufigen Kräfte und der antagonistischen Bewegungen. Die verschiedenen zweidimensionalen Werke gehen dabei natürlich nicht allein in ihrem Inhalt und in ihrem Studiencharakter auf. Die je eigenen Wirkungen der jeweiligen Techniken werden ausgenutzt - bei den Farbholzschnitten etwa die sprichwörtlich "holzschnitthafte" Einfachheit der Formen, die Farbkraft der Druckflächen, die sichtbare Überlagerung der Druckflächen, vor allem aber die 'Gesichtszüge' des Holzes, die mit Maserung, Jahresringen, ja sogar Astlöchern als deutliche Spuren des Materials den Bildinhalt mitbestimmen. Eine völlig andere Sache als dasselbe Motiv in einer Kreidezeichnung.
Kommen wir nun zu einer ebenso starken Werkreihe von Beate Debus, die die Großskulpturen der "Tänze" zu ergänzen scheint: Kommen wir zur Werkreihe der "Köpfe". Wie die Tanzskulpturen ohne Köpfe auskommen - als Reduktion der Körper auf die Gliedmaßen, unseren "Bewegungsapparat", so konzentriert sich die Werkreihe der Köpfe eben genau auf den Körperteil, der unsere Bewegungen steuert und von dem, als Sitz der Psyche, der Reflektion und des Selbstbewußtseins, die Emotionen ausgehen, die die soziale Interaktion am Laufen halten.
Der Kopf hat Künstler in vielen Epochen interessiert. Ich meine jetzt nicht die antiken Büsten, die dem Totengedenken dienten. Ich meine Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer, die in der Renaissance bzw. in der ganz Frühen Neuzeit den Kopf bereits seziert haben. In einer "mathematischen Klärung der Proportionen", wie Erwin Panofsky es genannt hat, brachten beide Künstler alle nur denkbaren - und tatsächlich eben auch die nur denkbaren - Ansichten des Kopfes aufs Papier. Den Linien eines regelmäßigen Gitternetzes eingeschrieben, überträgt Dürer damals den Kopf vom Profil in die Frontalansicht und weiter in eine Ansicht von unten quasi durch die Wirbelsäule hindurch - und zwar keinen Totenschädel, sondern einen Kopf mit Haut und Knorpel, Nase und Ohren. Bereits Dürer also hat unmöglichen Blickpunkten den Weg geebnet - beispielsweise dem Blick auf den Kopf, wie er sich einer Sicht durch den Körper hindurch entlang der Wirbelsäule darstellen würde. Die Frühe Neuzeit beschränkt sich also nicht nur auf ihre Suche nach der möglichst genauen, objektiven Beschreibung der Körper. Nein, auch der unmögliche visuelle Ort wird hier schon gedacht und bildnerisch ins Werk gesetzt. Das Bewußtsein, daß die äußere Hülle der Körper nur auf Basis der Kenntnis des Innenlebens optimal wiedergegeben werden kann, daß zur Darstellung eines Bewegungsverlaufs also die Kenntnis des Verborgenen, der Muskelverläufe, der Gelenke und der Anatomie des Bewegungsapparates, unabdingbar ist, dieses Bewußtsein ging schon vor 500 Jahren Hand in Hand mit der Er-findung und Sichtbarmachung des nicht Sichtbaren.
So un-heimlich im doppelten Sinne des Wortes treten uns die Verformungen in den Werken der "Köpfe"-Reihe von Beate Debus gegenüber. Un-heimlich im Sinne von nicht verborgen - aber auch nicht geheuer. In geöffneten Schädelräumen und verschobenen Augenpartien, die unseren Blick gespenstischerweise gleichwohl zu erwidern scheinen, treiben diese Kunstwerke die künstlerische Öffnung des Schädels in ungeahnter Weise weiter voran. In entstellten Formen und segmentierten, ja sezierten Gesichtshälften wird die innere Erregung, die der Ursprung unserer äußeren Bewegungen ist, für uns nach außen gekehrt. In der überstarken Wölbung eines Kopfraumes kommt der zum Bersten volle Kopf in den Blick. Es ist der Kopf eines, der sich nicht nur "Gedanken macht". Im "Kopf mit Einblick" scheint Beate Debus ein Sprachbild visualisiert zu haben, das Sprachbild dessen, der "sich den Kopf zerbricht". Eine "Maske" hingegen behält, wenn auch nach allen Seiten blickend, ihre ungerührt-aalglatte Miene bei.
Auch für die "Köpfe" wird, wie wir das bei den "Tänzen" gesehen haben, der neueste Entwurf an der Wand vorgebildet. Zweidimensional in Kohle- oder Kreidezeichnungen oder schon dreidimensional in flachen Wandreliefs oder Holzcollagen werden die neuen Skulpturen der "Köpfe" vorbereitet. Wie die "Tänze", so sind auch die "Köpfe" zweifarbig schwarz-weiß gefaßt, um die Bewegung zweier widerstreitender Argumente im Abwägungsprozeß des Denkens sichtbar zu machen.
Als sich Siegmund Freud, der Erfinder der Psychoanalyse, vor gut hundert Jahren ebenfalls in den Köpfen seiner Patienten auf die Suche nach dem Sitz und dem Ursprung des Denkens machte, kam er beim Nicht-Denken, beim Unbewußten heraus. Das Unterbewußte, das ist mittlerweile common sense, steuert, für den Denkenden selber nicht ergründbar, das Rhizom unserer Assoziationsketten und regt unsere Denkräume an. Im Werk von Beate Debus kann man sehen, wohin der Versuch, das Unbewußte zu denken, führt: Die logische Folge dieses Versuchs, das Unbewußte zu denken, ist nämlich, das Unsichtbare zu visualisieren, wie die "Köpfe" es, beinahe akribisch wie in einer Versuchsreihe, durchdeklinieren. "Kunst", so sagte bekanntlich schon Paul Klee, "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar." Die Kunst von Beate Debus spürt nicht nur äußeren Bewegungsmustern nach (in den "Tänzen"), sondern auch den Ursprüngen der äußeren Bewegung in einer inneren. Die "Köpfe" zeigen, wo und wie die Entwürfe unseres Daseins, zu denen Sartre uns verdammt sah, entstehen. Die Großskulpturen von Beate Debus zeigen unsere Daseinsformen, die "Köpfe" deren Ursprung. Die Kunst von Beate Debus rührt damit an alte und doch immer noch ungelöste Fragen und ich möchte mit einer Feststellung des französischen Kunsthistorikers Georges Didi-Huberman schließen. Er schreibt: Künstler können "durch Verschiebung der Blickpunkte, durch Umkehrung der Räume, durch Erfindung neuer Beziehungen, neuer Kontakte, die wesentlichsten Fragen [der Menschheit] verkörpern, und das ist viel besser, als zu glauben, man könne sie [für andere] beantworten".
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar