Ansichten. Alexej Tretjakow

Rede zur Ausstellungseröffnung

Kunstraum Galerie Jena, Freitag, 6. Februar 2015, 19 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

zweieinhalb Jahre nach der ersten Ausstellung hat Marina Zollmann eine neue Ausstellung von Alexej Tretjakow nach Jena geholt. Wieder empfangen uns meist großformatige Leinwände - in gewissermaßen russischen Dimensionen - , deren Sujet uns in pastosem Farbauftrag förmlich dreidimensional entgegen kommt. Blickfang sind in den Fenstern der Galerie dieses Mal nicht Jenaer Stadtansichten wie vor zweieinhalb Jahren, sondern ein Gemälde voller Rosen und ein Portrait - das Bildnis des Ikarus aus der griechischen Sage.

Rosen und Portraits gehören wie die Stadtansichten und Landschaftsbilder zu den bevorzugten Sujets in der Kunst Alexej Tretjakows. Rosenbilder beispielsweise hat er so viele wunderschöne mitgebracht, daß einige der Leinwände zum "Blättern" wie im Atelier hinten, etwas geschützt in der Ecke, an die Wand gelehnt sind. Rosenbilder - so viele, daß man eine gesonderte Ausstellung nur zu diesem Bildgegenstand konzipieren könnte - und dann Vorträge halten lassen über die Rolle der Rose in der Kunstgeschichte, der Literatur, der Alltagskultur und - der Religion.

Denn dies fällt auch in der heutigen Ausstellung wieder auf: Alexej Tretjakow ist ein Künstler, der aus einem ganz sicheren und tiefgegründeten Glauben heraus schafft. Der Mythen und biblische Geschichten neu interpretiert und sogar religiöse Kunst in der Tradition des großen russischen Ikonenmalers und orthodoxen Heiligen Andrej Rubljow malt. Einige von Ihnen werden sich erinnern, daß in der letzten Ausstellung hier, im Oktober 2012, die Stirnseite der Galerie von einem breiten Gemälde dominiert wurde, das der ganzen Ausstellung ihren Namen verlieh: "Das Gespräch". Es zeigt einen Menschen im Dialog mit dem Erzengel Michael, wie er auf den Ikonen Rubljows erscheint. Und Alexej Tretjakow hat mir gestern erneut bestätigt: "Das Gespräch" malte er u.a. als Metapher für das Funktionieren von Kunst überhaupt: Ersetzt man den Engelskopf durch ein Gemälde, so erhält man die Darstellung von Bildender Kunst im Dialog mit dem Betrachter, wie Tretjakow sie sich auch für seine eigene Kunst wünscht: Den überbordenden Emotionen des Künstlers entflossen, soll der Betrachter sie auf sich wirken und den eigenen Emotionen und Gedanken freien Lauf lassen. Dann hat die Kunst ihren Zweck erfüllt. Aber wohlgemerkt: Als Metapher hierfür wählt Tretjakow den Kopf eines Erzengels. Die Kunst, heißt das, vermittelt nichts weniger als göttliche Botschaften.

Alexej Tretjakow schafft aus der Emotion heraus. Das ist seinen weit ausgreifenden Pinselstrichen und dem pastos gespachtelten Farbauftrag unmittelbar abzulesen. Den Beginn seiner künstlerischen Karriere hat ein befreundeter Schriftsteller, Witali Dikson, im jüngsten Katalog zu Alexej Tretjakow als sprudelnde Champagnerflasche geschildert, die plötzlich entkorkt wurde. Denn zunächst war Tretjakow, der 1965 in Angarsk im Gebiet Irkutsk am Baikalsee geboren wurde, als Flugzeugingenieur beim Militär tätig. Doch schon mit Mitte 20, gleich zu Beginn der 90er Jahre, entschied er sich für eine künstlerische Laufbahn und nahm an den ersten Ausstellungen teil: Der "Sektkorken" knallte und es ging los. Wie der Champagner, dieses "eingeschlossene Konzentrat von Sonnenenergie" (Dikson), oder auch wie der "Dschinn aus der Flasche" (ders.) begann Alexej Tretjakow, seine Farborgien auf die Leinwand zu bannen.

Aber lassen Sie mich klarstellen: Die Betonung der Emotionalität darf nicht dazu verleiten, Tretjakow für einen unreflektierten Künstler zu halten. Tretjakow, der sich in seiner Heimat auch als Kurator und Nachwuchsförderer hervortut, verfaßt im Gegenteil sogar selbst kurze theoretische Texte, in denen er sich, für uns nachvollziehbar, über seine Sicht der europäischen Kunstgeschichte und der heutigen Möglichkeiten und Aufgaben der Bildenden Kunst Rechenschaft ablegt. So erfahren wir, daß Tretjakow in der entschlüsselbaren Abbildhaftigkeit, also daß man erkennt, was auf dem Bild drauf ist, in der Interpretierbarkeit und dem Identifikationsangebot der Bilder die ursprüngliche Aufgabe der Kunst sieht. Die Antike, so Tretjakow, strebt nach der äußeren Idealisierung des Körpers. Mit dem Aufkommen des Christentums verlagert sich der Fokus der Darstellung, und in den symbolischen Vereinfachungen, in der Zeichenhaftigkeit und Emblematik der christlichen Kunst wird die Schilderung einer "inneren Schönheit" der Heiligen zum wesentlichen Ziel der Darstellung. In der Renaissance wiederum, so Tretjakow weiter, wird der handwerkliche Aspekt im Kunstschaffen wieder mehr in den Vordergrund gerückt. Perspektive und Proportionen, Lichteinfall in Gebäuden und das Verblauen der Landschaft in der Ferne werden bis zur Perfektion ausgefeilt - nicht zum Selbstzweck, sondern um durch die perfekte Darstellung eine Art "ästhetischer Erziehung" des Menschen mithilfe der Bildenden Kunst möglich zu machen. Als man beginnt, mit Impressionismus und Pointillismus die Formen in Farbflächen aufzulösen, tritt die Fotografie auf den Plan und entthront die realistische Malerei. Sie wird nicht mehr benötigt, denn unter dem Aspekt der perfekten Abbildungen können, wie Tretjakow so schön sagt, Pinsel und Zeichenkohle nicht mit der Fotoplatte konkurrieren. Die Dienstbarmachung des Realismus durch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts bringen die abbildende Kunst weiter in Mißkredit und heute, in einer werteoffenen Gesellschaft fehlen nach wie vor die Kriterien, nach denen eine bessere Kunst von der schlechteren zu unterscheiden wäre.

Dennoch beobachtet Tretjakow, daß Museumsbesucher eine "traditionelle Gestaltung" in der Kunst bevorzugt und er ist überzeugt, daß konzeptionelle und die überintellektualisierte Kunst der vergangenen Jahrzehnte das Publikum im Grunde ausschließt - nur selbstbezüglich und selbstreflexiv ist: Eine Kunst für andere Künstler und eine Handvoll Kunstwissenschaftler.

Was ist die Lösung? Wie kann man Kunst schaffen, wenn man dies alles so klar vor Augen hat? Die Antwort lag für Alexej Tretjakow eben im "knallenden Sektkorken". Seine Auffassung vom Kunstschaffen kann vielleicht am ehesten mit dem Geniegedanken verstanden werden. Tretjakow überschätzt sich nicht selbst, aber er schafft aus den Emotionen heraus und für die Emotionen eines seelenverwandten Betrachters.

Dabei verläßt er sich nicht nur auf die eigene Innerlichkeit, verharrt nicht in jedem Bild bei der vollendeten Abstraktion - wie wir dies etwa im Bild der "Saale" sehen, oder etwa auch hier in dieser Straßenflucht - der fliederfarbene Fleck ist ein Stück Himmel, oben und unten eine Häuserzeile, an der der Betrachter hinaufschaut. Nein - und damit knüpfen wir an den Anfang meiner Ausführungen an: Das künstlerische Aufgreifen mythologischer Erzählungen und biblischer Geschichten etwa bildet, auf dem Fundament des eigenen tiefempfundenen Glaubens, einen wichtigen Fundus, aus dem Alexej Tretjakow Bildmotive schöpft. In der bildlichen Nacherzählung dieser Geschichten finden wir Anhaltspunkte für eine Objektivierung der Emotionen des Künstlers wie des Betrachters. Einer drohenden Beliebigkeit der abstrakten expressiven Malerei weicht Tretjakow damit zuverlässig aus.

Wenden wir uns dem eingangs erwähnten Ikarus (von draußen zu sehen) zu, so ruft der Werktitel in uns sofort die griechische Sage von Dädalus, dem genialen Baumeister des Labyrinthes von Knossos, und seines Sohnes Ikarus ab. Dädalus erfindet Flügel für seinen Sohn und sich, indem er Federn mit Wachs verbindet. Die beiden erheben sich in die Lüfte, doch Ikarus mißachtet die Warnung seines Vaters, nicht zu hoch aufzusteigen. So kommt der Junge der Sonne zu nahe, das Wachs schmilzt, seine Flügel lösen sich auf und er stürzt, dem sicheren Tod geweiht, ins kretische Meer. Was zeigt uns das Bild von Alexej Tretjakow? Keinen ungeduldigen Heißsporn, sondern vielmehr einen nachdenklich Ikarus, entweder erst im Begriff, das Abenteuer zu wagen, oder bereits abgestürzt, ohne jedoch den Tod gefunden zu haben. Eine Wiedererzählung, die zum Nachdenken anregt und Identifikationsmöglich­keiten anbietet für alle, die Großes wagen wollen oder aber nach erlittenen Rückschlägen nicht die Flinte ins Korn werfen, sondern darüber nachdenken, um daraus zu lernen.

Nicht aus der griechischen Mythologie, sondern aus dem Erzählungsschatz der Bibel schöpft "Saul". Saulus ist der Name des Apostels Paulus, bevor er durch eine Erleuchtung bekehrt wurde, sich von seiner verbiesterten Christenverfolgung abwandte und fortan christlich missionierte. "Damaskus-Erlebnis" nennt man den Moment seiner Christusbegegnung, die seine Bekehrung oder allgemein seine Einsicht zur Folge hatte. Der Begriff hat Eingang in unseren Sprachgebrauch gefunden, um ein einschneidendes, Besserung bewirkendes Erlebnis zu beschreiben. Das Damaskus-Erlebnis des Saulus ist selbstverständlich vielfach in der Kunstgeschichte dargestellt worden. Der ikonographische Typus dieses Sujets ist dabei der Mann (Saulus), der vom Pferd fällt, als er ein grelles Licht sieht. Das ist der Hintergrund, vor dem das Gemälde von Alexej Tretjakow bestehen muß. Und wir sehen erneut, daß er sich aus der Affäre zieht, indem er einen ungewohnten Aspekt der Erzählung ins Bild hebt. Hervor­gehoben sehen wir hier nämlich nicht die Lichterscheinung, die Saulus für drei Tage erblinden läßt, sondern die Hände. Die Hände, mit denen Christen gesteinigt wurden und die Hananias aus Damaskus dem Saulus schließlich auflegt, um ihm das Augenlicht wiederzuschenken.

Diese Abweichung von der ikonographischen "Vorlage" sozusagen gründet dabei nicht etwa in der mangelnden Fähigkeit, Pferde abzubilden. Alexej Tretjakow hat viele lebendige und kraftstrotzende Gemälde von Pferdeherden oder Gruppen von Stieren geschaffen, die er auch hier zur Ausstellung mitgebracht hat.

Wir finden weitere literarische Anspielungen in der Figurenbildern Tretjakows. Sehr niedlich ist beispielsweise das Gemälde seiner Tochter, die hier wie Peter Pan oder die Fee Tinker Bell in die Luft schwebt.

Stadtansichten hat Tretjakow uns auch diesmal natürlich wieder mitgebracht, einen Blick ins Saaletal, die Wagnergasse, auf das alte Hochschulgebäude der Friedrich-Schiller-Universität.

Ich möchte Sie jetzt Ihren Eindrücken überlassen und wünsche Ihnen einen angenehmen Abend. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar