"Da sang ich heil'gen Sinn"

Zum skulpturalen Werk Anne-Katrin Altweins

Riesige, schlohweiße Flächen. Weiche Konturen. Ruhige Züge. Ein mächtiger Leib. – Struppige Gesellen. Hager und abgekämpft. Kaum noch anwesend in ihrem mit Tier und Ding verwachsenen, spindeldürren Körper. – Kontrast von rosshaargeglätteten Gesichtern, Schnäbeln und dem aufgebrochenen Stein. – Das bildhauerische Werk von Anne-Katrin Altwein hat viele Gesichter. Was eint dieses formal so vielfältige Werk?

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Ich schreibe: „Es ist der Mensch.“ Eine Idee vom Menschen, die Suche nach dem Kern.

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Der Satz: „Der Mensch steht im Zentrum des bildhauerischen Oeuvres von Anne-Katrin Altwein“ stimmt auch dann noch, wenn man die Tierfiguren betrachtet, die sie geschaffen hat. Denn es sind dies Tiere, die in einer engen Verbindung mit dem Menschen stehen – wenn sie sich nicht in dieser Verbindung überhaupt erst konstituieren. Die Tierskulpturen formulieren Tugenden, die uns selbst eignen sollten, ja die häufig genug zum Wesen menschlicher Kultur schlechthin stilisiert werden.

Das Pferd des Don Quichottesken Gralssuchers vor dem Gebäude der Polizeiinspektion Apolda, verwachsen mit seinem Herrn und dessen Beine längst ersetzend: Es weist „Merkmale [...] einer Frau auf“, wie es in Altweins eigenem erläuternden Begleittext heißt. Ausdrücklich beide – Reiter und Pferd – sind „unverdrossen, hoffnungsfroh und auch verstohlen hilflos“. Verwachsen mit dem menschlichen Gefährten auch das Pferd aus Mensch und Tier (2005). Hier scheint die Verschmelzung der Figuren das Kreatürliche des menschlichen Parts unterstreichen zu wollen: So fremd ist die menschlichen Umwelt, dass Einzelne nur noch an Tieren Halt finden – an Tieren, in denen die Tugenden der Treue und der Verantwortung nicht durch Habgier und Egoismus überlagert werden können. Deutlicher hatte dies schon 1995/96 die ganz ähnliche Skulptur Kind und Tier in ihrem Titel unterstrichen.2 Im Oeuvre Anne-Katrin Altweins steht dem Menschen das Tier häufig zuverlässiger bei als irgendein anderer Mensch.

So schiebt sich auch bei der Schaffung des Pelikan (1995) dessen allegorische Deutung der Selbstaufopferung in den Vordergrund: Da frühere Zeiten glaubten, der Pelikan ernähre seine Jungen mit dem eigenen Blut, wurde das Tier zum Inbegriff der Opferwilligkeit und so zum Symbol des Erlösers. Anne Altweins Pelikan ist keine Naturstudie, sondern entwächst ihrer Beschäftigung mit der kulturstiftenden Idee des opferbereiten Menschen. Und nehmen wir die Raben am Weimarer Burgplatz (1991/92)3. Es sind Odins Raben, sind Hugin und Munin, nicht Tierfiguren, sondern Bild gewordenes religiöses Denken, Bestiarien-Allegorien dessen, was menschliche Kultur überhaupt erst möglich macht: das Gedächtnis und die Erinnerung. Also das, was bei einer Unterscheidung von Mensch und Tier immer gerne als das angeblich nur dem Menschen Eignende hervorgehoben wird.

Die Katze, die zuletzt für den Sybillen-Brunnen (2005/07) in Jena-Winzerla gegossen wurde, ist Schrödingers Katze. Die Figur bezeichnet also ebenfalls kein Tier, sondern das Gedankenexperiment des österreichischen Physikers und Jenenser Professors Erwin Schrödinger (1887-1961), das die Unvereinbarkeit quantenmechanischer Wahrscheinlichkeitszustände und makrophysikalischer Vorgänge veranschaulichen sollte: Verhielte sich die Katze wie der mit ihr in die Blackbox gesperrte Atomkern, wäre sie zu Ende des Beobachtungszeitraums zugleich lebendig und tot.

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Der Mensch also: Zentrum des Altweinschen Werks. Dies gilt noch für die Tanzenden Äste, die im Jahre 2006 für den Außenraum der Erfurter Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau entstanden: Ein Bild der Fragilität und Zartheit – ein Paar, aufeinander bezogen, einander haltend im Fallen, das ihr Tanzen eigentlich ist. Fünfgliedrig beide Figuren: Kopf und Hals, die Extremitäten, das Anthropomorphe ist genau auszumachen. Unbeschreiblich die Arabeske – von einer Eleganz, wie sie nur die Bildende Kunst, nicht die Sprache hervorzubringen imstande ist. Im Tanz wendet sich die obere Figur und weicht, die Arme nach rechts hin schließend, dem festeren Halt aus, den die geöffneten Arme der unteren Figur ihr anbieten. Die Tanzenden Äste formulieren damit am eindeutigsten ein Lebensgefühl, das sich dem Empfinden der Künstlerin nach in den 90er Jahren in den „gewendeten“ Ländern ausbreitete: als würde der Boden unter den Füßen weggezogen. So ist auch das Schwimmende Pferd (1993-95)4 ein beinahe ertrinkendes. Auch hier ein Tier als Bild für das Lebensgefühl einer deutschen Epoche, die noch nicht vergangen ist.

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Wie fundamental die einzelnen Werke sich in der Arbeitsweise unterscheiden – gigantische Marmorblöcke, deren Figuren mit wenigen Konturen aus der vorgefundenen Form des Steins hervortreten, der zerbrechlich wirkende Bronzeguss nach Modellen aus aneinander geworfenen Gipsflocken (Arbeiten der 90er Jahre, wie Anne Altwein sie beispielsweise 1998 im Foyer des Deutschen Nationaltheaters Weimar ausstellte, waren übrigens in aller Zartheit bis zuletzt aus Gips und zerbrachen tatsächlich) – die Suche nach dem Wesen des Menschlichen verbindet die Skulpturen und zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk.

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Meine Liebsten sind natürlich die Drei Moiren (2002), Altweins Aktualisierungen jener Personifikationen des Schicksals aus der griechischen Mythologie, die, vergleichbar den germanischen Nornen, jedem Menschen den Lebensfaden spinnen, zumessen und zu gegebener Zeit zerreißen. Sie stehen auf einer großen, leicht abfallenden Rasenfreifläche vor dem neuen Klinikum Jena. Passend. Oder? Oder tut sich unsere Apparatemedizin wie unsere Gesellschaft insgesamt mit den Entscheidungen der todbringenden Atropos (der „Unabwendbaren“) und mit dem Wirken eines aus dem Leben und der Lebensweise des Einzelnen erwachsenden Todes eigentlich viel zu schwer? Lassen wir das beiseite.

Die Moiren sind nicht hager, wie sie häufig dargestellt werden, keine dürren Spinnerinnen und düsteren Weberinnen, wie eine sozialkritische Kunst im Realismus des 19. Jahrhunderts ihre Darstellung nahe legte. Das Spinnen ist hier Herrschaftswissen. Es entscheidet über Leben und Tod Anderer. Die Moiren sind Göttinnen, Königinnen – und so sehen sie auch aus: Zwischen 2,20 und 2,50 Meter hoch jede von ihnen, was durch das abfallende Gelände noch unterstrichen wird. Der Betrachter kann nicht anders als zu ihnen aufzuschauen. Und noch Atropos, die Alte, die den Tod zu weist, ist rund. Hinter den verschränkten Armen schwellen jungendliche Brüste. Die Arme um die eigenen Beine geschlossen, hockt oder kauert sie – dennoch riesenhaft –, den Blick ins Unendliche gerichtet. Ihre ruhige Konzentration auf die Weite des Horizonts lässt sie über das Einzelschicksal hinweg in die Zukunft sehen: Was zählt ein einzelnes Leben im Angesicht der Ewigkeit? – Mit breiten Händen misst Lachesis, die Mittlere der Schwestern, den Lebensfaden zu. Sie bemisst reichlich und scheint nach vorn zu blicken. Aber blickt sie überhaupt? Das flache, fernöstlich anmutende Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das mit wachsender Entfernung von der Figur paradoxerweise ständig an Kontur und Profil gewinnt, scheint geschlossene Augen zu zeigen. Lachesis fühlt den Lebensfaden mehr als dass sie ihn sieht. Nach innen schaut die Zuteilerin, nicht in die Welt. – Wie Klotho, die Jüngste: Als Spinnerin des Lebensfadens riefen einst Schwangere ihr Wohlwollen an. So sieht sie selber aus, als sei sie Guter Hoffnung. Sie spinnt, die schmalgliedrigen, unendlich langen Hände geschäftig vor einem riesigen, gewölbten Leib. Der Blick ist nach unten, auf ihre Hände gerichtet. In sich gekehrt, konzentriert die Moira sich auf ihre Arbeit. Ihr – das sieht man – geht es immer und unbedingt um jeden Einzelnen. Auch wenn sie nicht weiß, wie ihre Schwestern entscheiden werden – sie empfindet für jeden dieselbe Liebe und verwendet die gleiche Sorgfalt auf jeden neuen Lebensweg.

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Die drei Schwestern stehen getrennt. Sie sind kein „Team“, in dem die eine der anderen den Faden zuwerfen und sie nach Zukunft und Geschichte fragen könnte („Weißt du, wie das wird?“) Jede arbeitet und entscheidet für sich. Allein. So allein, wie die meisten Figuren Altweins nicht nur in ihrer situativen Aktualisierung, sondern wesensmäßig zu sein scheinen. Unterscheiden sich die Moiren von den übrigen Werken Anne Altweins? Woher rührt ihre so grundsätzlich andere Ausstrahlung?

Mir scheint, sie gehören zu den wenigen Figuren dieses Oeuvres, die Ruhe und Gewissheit, Sicherheit und Selbstsicherheit in ihrem Tun ausstrahlen. Der Gralssucher ist nicht der einzige Suchende unter Altweins Skulpturen – er ist eher so etwas wie ein Prototyp für die Grundstimmung, die die übrigen Figuren immer wieder variieren. Erwartung (Hairdo mit dem langen Hals, 2001-05); die gewundenen Gestalten aus Zu zweit (Mutter und Sohn, 1997/99); die Fliehende (2000); Ich (1999-2001), jene Büste, die in verräterisch verzerrter Verrenkung den Kopf viel zu hoch trägt, um wirklich die Gelassenheit einer ihrer selbst sicheren Identität auszustrahlen. Sie alle deklinieren das Thema der Suche nach dem Wesen des Menschlichen und ihrer selbst auf je eigene Weise. Aus Edelstahl entsteht derzeit eine ganze Gruppe Suchender. 2,80 Meter hoch, dürr, tastend gebeugt, einzelne Stahlfinger wie Blindenstöcke vorangestreckt.

Und noch der Bonifatius, der „Apostel der Deutschen“, sonst als so mächtiger Mann der Tat nachempfunden, noch Bonifatius heißt bei Altwein Knecht der Knechte Gottes (2004). Klein ist er. Gerade einen Meter hoch. Eben wie ein Kind aus der Tagesstätte, für die er geschaffen wurde, auf Augenhöhe mit denen, die noch alles lernen wollen. Je nach Perspektive ist dieser Bonifatius ein Lauschender, den Kopf leicht vorgereckt: ein Suchender auch er. Mal auch ein überheblich Wissender, ein Trauriger, ein Hoffender. Die rechte Hand hinter dem Rücken versteckt, die Linke ausgestreckt an der Kleidernaht, steht der Diener Gottes leicht gebeugt, aufmerksam, vielleicht resigniert.

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Die Figur des Bonifatius leitet zu einem Stichwort über, das in einem Text über das Werk Anne-Katrin Altweins nicht fehlen darf: die Vielansichtigkeit ihrer Skulpturen. Diesem schon im Barock formulierten Ideal für das bildhauerische Werk entsprechen Anne Altweins Arbeiten in zum Teil extremer Weise. Figuren oder Figurengruppen wie Die Botschafterin (2004), Mensch und Tier, der Pelikan oder die Tanzenden Äste sind aus unterschiedlichen Blickwinkeln kaum als ein und dieselbe Skulptur erkennbar.

So können auch Fotografien allein das Werk nicht erschließen. Auch die Abbildungen dieses Kataloges nicht. Sie können nur Anregungen sein, sich den Skulpturen selbst auszusetzen.

Cornelie Becker-Lamers, Weimar

 

Der Text ist im Druck erschienen in: Anne-Katrin Altwein. Skulpturen und Plastiken 1997-2007, Weimar: Selbstverlag 2007, S. 36-42.

 

1 Der Aufsatztitel ist ein Zitat aus dem Terzett der Nornen aus dem Vorspiel der Götterdämmerung von Richard Wagner. Ein weiteres Zitat dieser Unterhaltung findet sich im Verlauf meines Textes zu den Drei Moiren.

2 Abb. in Anne-Katrin Altwein, Skulptur – Plastik – Zeichnung, Weimar 1996, S. 37.

3 Abb. ebd. S. 14f.

4 Abb. ebd. S. 35.