Raymond E. Waydelich - Grafische Arbeiten
Rede zur Ausstellungseröffnung
Kunsthandlung in der Marktstraße Erfurt, 25. April 2009 und
Franz Xaver Müller Kunsthandlung Würzburg, 27. Juni 2009
Sehr geehrte Damen und Herren,
ab heute sind Sie hier im Hause zu einer Ausstellung eingeladen, deren Bilder ihren Hintersinn häufig erst auf den zweiten Blick preisgeben. Ja, die Bilder erzählen ganze Geschichten, die der Betrachter sich erschließen muß.
Raymond Waydelich – der E. steht für Emile – wurde 1938 in Straßburg geboren und besuchte ab 1953 – also bereits mit 15 Jahren – die Ecole Supérieure des Arts Décoratifs seiner Heimatstadt. Nach Abschluß seiner Ausbildung mit Anfang 20 ging er auf Reisen und schlug sich als Armeefotograf im Algerienkrieg durch (Algerien kämpfte zwischen 1954 und 62 um seine Unabhängigkeit von Frankreich). Nach Ende dieses Krieges bereiste er Afrika, die Türkei, Griechenland, was sich alles auch noch in den hier ausgestellten Werken niederschlägt. Hier, auf diesen Reisen, begann er sich für die archäologische Forschung zu begeistern.
Einen genuin künstlerischen Impuls erhielt dieses Interesse durch Waydelichs Beschäftigung mit ausrangierten Alltagsgegenständen seiner eigenen Kultur. Er kaufte auf Flohmärkten, was er nicht durch Zufall selber fand, und arrangierte die Gegenstände in künstlerischen Assemblagen. Solche Arbeiten mit gefundenen Objekten – objets trouvés – geht wie Sie wissen auf Marcel Duchamps zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts die ästhetische Welt durch die Musealisierung von Alltagsgegenständen schockierte (Stichwort Flaschentrockner, oder auch das umgekehrte Pissoir). Die Dekontextualisierung der Alltagsgegenstände, ihr Verbringen ins Museum, schafft die ästhetische Schwelle, die uns die Gegenstände mit anderen Augen wahrnehmen lässt.
Wirklich eigenständig künstlerisch wurden Waydelichs Arbeiten, als er auf einem Flohmarkt das damals knapp hundert Jahre alte „journal intim“ – also ein Tagebuch – der jüdischen Schneiderin Lydia Jacob fand. Von nun an erhielten die Assemblagen Waydelichs ein Ziel: Sie begannen, das Leben der jungen Frau zu rekonstruieren und erfahrbar zu machen. Der Gegenstand seines archäologischen Interesses rückte näher an das Leben Waydelichs und seines Publikums heran. Aber die Idee trug noch weiter: Als Waydelich 1986 die Lydia Jacob Story unter dem großen Thema einer „Archéologie du Futur“ – einer Archäologie der Zukunft – im Musée des Beaux Arts Mulhouse ausstellte, lag seine Freiburger Installation „Archäologie der Zukunft, 3500 n. Chr.“ bereits zwei Jahre zurück (das war also 1984 gewesen). Die Rekonstruktion eines greifbaren Lebens, nämlich des realen Alltags der Lydia Jacob, hatte ihn zu der Idee geführt, auch die eigene Zeit, ja sogar eine noch nicht ahnbare Zukunft aus der Perspektive einer rückblickenden Rekonstruktion zu betrachten.
Beide Themenschwerpunkte wechselten sich in den Folgejahren ab: das Archäologische Museum Straßburg brachte noch einmal die „3500 n. Chr. als Ausstellung der Ausgrabungsobjekte Freiburg“, das Centre national des arts plastiques in Paris noch einmal die fingierte „Retrospective Rencontre avec Lydia Jacob.“ Die Arbeit „Caveau pour le Futur, 3790 après Jésu Christe“, die das Archäologische Museum Straßburg 1995 zeigte, verhalf Waydelich zu einer Einladung zur documenta in Kassel: Er nahm mit derselben Arbeit, der „Gruft der Zukunft“, 1997 an der heiß diskutierten 10. Jubiläums- documenta teil.
Assemblagen mit den Objects trouvés sind ab heute auch hier in der Galerie zu sehen: Die alten Langspielplatten – möglicherweise sind es sogar Schellackplatten? – werden ungeachtet ihres Sammlerwertes übermalt und in ein bildkünstlerisches Werk überführt. Dies führt natürlich in eine paradoxe Situation: Indem die Schallplatte in ein Kunstwerk überführt wird, wird sie einerseits bewahrt – in einen höheren ästhetischen Zustand aufgehoben – andererseits aber auch zerstört: Von Mendelssohns Violinkonzert e-moll op. 64 oder Beethovens 6. Sinfonie, der „Pastoralen“, die durch die Schallplatten eigentlich bewahrt werden sollten, ist nichts mehr übrig als die Idee, sie aufzubewahren.
Wenden wir uns den anderen Werken zu: Afrika taucht immer wieder auf, auch Kreta und Gestalten der griechischen Mythologie wie der Kentaur – das Pferd mit menschlichem Oberkörper (nicht zu verwechseln mit dem Minotauros, dem Menschen mit Stierkopf). Deutliche Anspielungen auf die Hochkultur wie Shakespeares Sommernachtstraum sind auszumachen. Die Mythen werden abgerufen – die Deutung aber bleibt zum Teil offen: Erinnert das Schiff im großen AFRIKA-Bild an die Arche (wegen der Tiere) – vermittelt es also Schutz – oder erinnert es an die Boatpeople – vermittelt also die Idee der Gefahr? Ich möchte über ein Bild sprechen, das ich für ziemlich klar halte: „Oh my God – der Has vom Dürer“ ist in meinen Augen das witzigste und gelungendste Bild unter den hier gezeigten. Dürers Hase, die fellhaargenaue Zeichnung oder auch Dürers Aquarell des „Jungen Feldhasen“ aus dem Jahr 1502, gehört wohl zu den bekanntesten Bildern der Kunstgeschichte und wurde sicherlich auf Hunderttausenden von Postkarten reproduziert. Dürer hat aber auch ein Nashorn gemalt – und dessen Geschichte ist vielleicht eher in der wissenschaftlichen Welt geläufig. In Unkenntnis des wirklichen Aussehens eines Nashorns hat Dürer das Tier in seiner Abbildung nämlich mit einem Panzer versehen. Dürers Zeichnungen waren sehr maßgeblich auch in der wissenschaftlichen Welt, und so hielt sich diese Art der Darstellung über 200 Jahre lang. Sie wurde auch von reisenden Zoologen in dieser Form reproduziert, obwohl die Zoologen Nashörner zu Gesicht bekamen und sahen, daß sie keinen Panzer hatten. Sie wussten aber auch, daß ihre Zeichnung vom europäischen Publikum nur mit Panzer als „Nashorn“ identifiziert werden würde – also blieb der Panzer dran, am Nashorn. Diese Tatsache spießt der berühmte Zeichentheoretiker Umberto Eco in seiner „Einführung in die Semiotik“ auf, als er dem Wesen der ikonischen, also der ‚abbildenden’ Darstellung auf den Grund gehen möchte. Anhand von Dürers Nashorn und der langen Geschichte seines „falschen“ Aussehens kann Eco zeigen, daß ikonische Darstellungen keinesfalls, wie allgemein angenommen, nach der Natur entstehen und etwa Ähnlichkeiten von Abbildung und abgebildetem Gegenstand widerspiegeln. Nein! Auch ikonische Abbildungen fußen immer auf älteren Darstellungen und entwickeln sie irgendwie weiter: „Bilder entstehen aus Bildern“, wie mein Doktorvater zu sagen pflegte. Das trifft auch noch für die Moderne zu, wenn in Abgrenzung zu allen bestehenden Bildern Gegenstände plötzlich verfremdet, vereinfacht, farblich verzerrt oder verdreht werden. Auch dies ist nur denkbar und verständlich vor dem Hintergrund des musealen Archivs der Kunstgeschichte. Und so könnte man zu Raymond Waydelichs Bild sagen: Ecos Nashorn trifft Dürers Hasen und ist fürchterlich erschrocken, wie der inzwischen aussieht.
Natürlich entzaubert Waydelich auch hier wieder nicht nur den Mythos, sondern vermischt auch kulturelle Ebenen. Dürers Hase aus dem 16. Jahrhundert sowie das Wissen um seine Geschichte ist nach wie vor dem Bereich der Hochkultur zuzuordnen. Der Ausdruck „Oh my God“ aber gehört in die Umgangssprache des 20. Jahrhunderts, in die Kultur der Popsongs und der amerikanischen Actionfilme.
Die Hommage à John Wayne nimmt ebenfalls auf die amerikanische Filmkultur Bezug. In einer reliefartigen Assemblage zeigt das Bild einen Revolver und ehrt damit scheinbar den entsprechenden Revolverhelden. Aber dasselbe Bild, das den Mythos John Wayne abruft, entzaubert diesen Mythos zugleich. Denn verschiedene Pfeile geben die möglichen Bewegungen vor, wenn ein Schuß abgefeuert wird: Wie der Hahn gespannt wird, der Abzug gedrückt, das Projektil herausgeschossen kommt. Die Heldentat bekommt gewissermaßen eine Gebrauchsanweisung: Im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit verliert der Mythos seinen Reiz.
Auch der Mythos des Trojanischen Pferdes bekommt sein Fett weg. Das Pferd ist ja eigentlich das Sinnbild des trickreichen Sieges der Athener über die Trojaner, die volle 10 Jahre lang ihrer Belagerung standgehalten haben. Waydelichs Bild kehrt die Perspektive um, denn bei Waydelich ist das Trojanische Pferd von den Opfern der Entscheidungsschlacht umgeben. Es ist nicht das Bild eines Sieges, sondern das eines gigantischen Massakers. Die Helden sind sämtlich von Pfeilen durchbohrt und stürzen in den Tod. Noch ein interessantes Detail, wiederum aus semiotischer Sicht: Pfeile sind für die Semiotiker wie Umberto Eco das klassische indexikalische Zeichen („da lang“ – Einbahnstraße o.ä.). So auch bei den vielen Bildern von Waydelich, die Bewegungsabläufe von Tieren oder eben dem Revolverabzug andeuten. Der Pfeil verschwindet als indexikalisches Zeichen hinter seiner Funktion, ist gewissermaßen eigentlich gar nicht da, sondern verweist von sich weg auf etwas anderes. Im Bild Troya aber werden die Pfeile plötzlich zu ikonischen Abbildern wirklicher Pfeile. Also – auch unter semiotischem Aspekt sind die Werke von Raymond Waydelich gar nicht uninteressant.
Dabei möchte ich es belassen. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Nachmittag und danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar