„Skulptur. Weimar. 2010. Anne-Katrin Altwein“
Rede zur Ausstellungseröffnung
Romantikhotel Dorotheenhof Weimar, 13. Juni 2010, 15 Uhr
Sehr geehrte Damen und Herren,
die zehnte Skultpur . Weimar führt uns in die Welt der Arbeiten von Anne-Katrin Altwein.
Heute Vormittag haben wir uns schon im Kulturbahnhof getroffen und konnten dort bereits ein wichtiges neues Werk der Künstlerin betrachten: Die Europē, eine über drei Meter hohe Bronzeplastik. Vielleicht haben Sie die Mittagspause genutzt, um auch die Skulpturen in der Innenstadt anzusehen: Vermehren durch Wegnehmen auf dem Theaterplatz, Hairdo am Wittumspalais oder die Freifrau am Schillerhaus.
Die Skulpturen fügen sich nahtlos ins Stadtbild ein – vielleicht, weil Odins Raben und die Midgardschlange schon so lange am Burgplatz vor dem ACC stehen? Ich sagte heute Vormittag schon: Anne-Katrin Altwein ist in Thüringen ja keine Unbekannte: Am Erfurter Anger gegenüber der alten Post begegnet man Franz und dem Vogel, der Gralsucher steht seit einigen Jahren vor der Polizeiinspektion in Apolda und die zweieinhalb Meter hohen Drei Schicksalsgöttinnen beherrschen, im weiten Dreieck aufgestellt, den Platz vor dem neuen Klinikum Jena. Sibylle und Schrödingers Katze erwarten uns in Jena-Winzerla, Ich, Bonifatius, Knecht der Knechte Gottes steht als Marmorfigur in einem Kindergarten in Sömmerda und die Plastik WerteGemeinschaft/ Menschliche Größe im Forschungszentrum Jena ... und und und. Seit über 20 Jahren ist Anne-Katrin Altwein als freie Künstlerin in Weimar ansässig.
Dennoch hat man nicht immer Gelegenheit, sich über Kunst im öffentlichen Raum auszutauschen und sich wirklich die Zeit zu nehmen, die Kunstwerke brauchen, um ihre Wirkung auf uns zu entfalten. Daher bin ich Elke Gatz-Hengst und ihren Partnern und Mitstreitern sehr dankbar für ihre alljährlichen Anstrengungen, den Skulpturenrundgang im Stadtgebiet und hier oben im Park des Dorotheenhofes zu organisieren.
Die bildhauerischen Arbeiten Altweins – ich habe heute Vormittag aufgezählt, daß sich Altweins Gesamtwerk keineswegs in der Bildhauerei erschöpft – die bildhauerischen Arbeiten aber lassen sich wiederum zwei Werkgruppen zuordnen: Den massigen, sparsam konturierten Steinskulpturen stehen die fragilen Plastiken aus Bronze gegenüber. Auch solche Werke – so fragil sie sind – sind doch schon aus der Kunst am Bau bekannt: 2006 gewann Anne-Katrin Altwein mit den tanzenden Ästen einen Wettbewerb und durfte ihr unendlich zartes und dennoch so raumgreifendes, stets scheinbar fallendes Figurenpaar in der Erfurter Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau installieren. Eine kleine Version dieses Kunstwerks steht ab heute übrigens in der Galerie Profil zum Verkauf.
Mit ihren zum Teil riesenhaften Marmorskulpturen – Vermehren durch Wegnehmen etwa wiegt acht Tonnen, die Schicksalsgöttinnen je etwa sechs Tonnen – bringt Anne-Katrin Altwein Anregungen, Techniken und Materialien ihrer zahlreichen Auslandsaufenthalte mit nach Hause zurück. Denn neben Vietnam, wo Anne-Katrin Altwein immer wieder Wochen in der Bildhauer-Pagode Chùa Bao An in Da Nang arbeitete und abschließend ihre Marmorskulpturen importierte, bereiste die Künstlerin verschiedene Länder Süd- und Mittelamerikas und folgte Einladungen zu Arbeitsaufenthalten und Bildhauersymposien in Deutschland, Norwegen, Schweden, Italien, Österreich, Kroatien und Frankreich.
Ob in ihren Plastiken oder ihren Skulpturen – immer umkreist das Werk Anne-Katrin Altweins Ausprägungen des Überindividuell-Menschlichen. Wo die Künstlerin nicht mythologische Figuren baut, da sind es archetypische Gestalten, die als Freifrau oder als Botschafterin, als Nachbarin, als Mädchenkopf, Frauenkopf, junger Mann, Gralssucher oder als Voyeur Handlungen und Haltungen, Begierden und Bedürfnisse des Menschen in eindrücklicher Evidenz hervortreten lassen. Auch ihre Tiergestalten führen als Kind und Tier, als Katzek, als Beschäftigter, als Pelikan oder als Schwimmendes Pferd Tugenden und Laster, Wesenszüge und Gemütszustände des Menschen vor Augen. Wieder drängt sich ein Beispiel aus der Kunst am Bau einer Institution auf: Die 3,60 m hohe Bronzeplastik WerteGemeinschaft/ Menschliche Größe, seit 2003 im Forschungszentrum Jena-Lobeda aufgestellt, verwebt die Darstellung menschlichen Strebens nach Erkenntnis mit der Reflexion einer technokratischen Forscherkultur – wir sehen einen dürren homo sapiens, einen überdimensionierten Stab in der Hand haltend, einst als Ebenbild Gottes, nun als Denker und Forscher ein Mittler zwischen Erde und All, „zaghaft und unvermittelt, etwas glücklich, etwas zögerlich, etwas stolz auch und sehr klein zunächst“, wie die Künstlerin es selbst beschreibt.
Die Europē und Vermehren durch Wegnehmen verschieben den Focus des künstlerischen Erkenntnisinteresses weg von der Erforschung der Grundzüge des Menschlichen hin auf eine Reflexion unseres lokalen wie eines globalen kulturellen Erbes. Die Belebten Stäbe und die übrigen Arbeiten hier im Park aber stehen noch ganz in der Schaffenstradition der Suche nach dem Menschlich-Typischen.
Wieder scheinen es Tiergestalten zu sein, die uns in den Belebten Stäben begegnen. Daß manche der insgesamt 12 Plastiken der Serie so frappierend an Dinosaurierskelette erinnern, lässt den Aspekt des Ursprünglichen, Archetypisch-Vorzeitlichen noch einmal stärker hervortreten. Der Vorsichtig Ausprobierende reckt den Hals, um genauer zu sehen, ohne sich in Gefahr zu bringen. Der Schüchtern sich Freuende tritt mit gekrümmtem Rücken scheinbar von einem Fuß auf den anderen, um seiner inneren Erregung Herr zu werden, ohne daß sie zu aufdringlich nach außen tritt. Der Behutsam Erwägende balanciert auf den Fußspitzen, als werfe die nächste Entscheidung sein ganzes Ich mit in die Waagschale. Sie merken es: Schon die Titel verraten die über die Gestaltung der individuellen Figur hinausgehende Werkaussage. Und wie stets bei Anne-Katrin Altweins hageren Bronzeplastiken sind es die Zaudernden, Unsicheren, denen wir hier begegnen. Spindeldürre Gesellen, denen nicht nur die Gewissheit über das Morgen, sondern auch ihre selbstsichere Einschätzung über das Gestern abhanden gekommen zu sein scheint. Interessant in diesem Zusammenhang die Freifrau, die unten in der Stadt vor dem Schillerhaus steht: Der Titel der Figur bezieht sich auf eine inzwischen verstorbene Weimarer Nachbarin Anne-Katrin Altweins an: Sie war eine geborene Freifrau von Beaulieu-Marconnay – französischer Uradel aus dem Poitou, die Stammbäume reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück – und lebt als Frau Seidemann in der sozialistischen DDR. Altweins Plastik scheint mir die innere Zerrissenheit, die eine solche Biographie hervorbringen kann, sehr gut zum Ausdruck zu bringen. „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.“ Dieses Zitat aus Christa Wolfs Kindheitsmuster scheinen die dürren Bronzefiguren in Szene zu setzen.
Die hageren, unsicheren Gestalten stehen als Werkgruppe den in sich ruhenden, massigen Marmorskulpturen gegenüber, deren exemplarischste Ausprägung zweifellos die schon erwähnten Schicksalsgöttinnen vor dem Klinikum Jena sind. Interessant schon, wie unterschiedlich beide Werkgruppen entstehen: Die Bronzeplastiken haben häufig Originale, die aus Gipsflocken förmlich zusammen geworfen sind. Sie entstehen rasch, sind bis zum Abguß äußerst zerbrechlich und hängen häufig wie Marionetten an Bindfäden von der Decke des Ateliers.
Die Marmorskulpturen ruhen von Anfang an in sich selbst. Über Monate, wenn nicht Jahre, wachsen sie im Ehringsdorfer Steinbruch aus ihren tonnenschweren Blöcken. Sie werden nicht gebaut, sondern geben – den Aussagen der Künstlerin zufolge – im Laufe der Zeit nur frei, was immer schon in ihnen steckte: Fragt man nach der Gestalt einer Skulptur – warum steht die so krumm – warum sieht das und das so und so aus – pflegt Anne-Katrin Altwein zu sagen: „Der Stein hatte die Form schon. Ich musste gar nicht viel daran machen. Als ich den Stein sah, war die Figur eigentlich schon da!“
Sie kennen das berühmte Diktum von Paul Klee: „Kunst gibt nicht Sichtbares wieder, sondern macht sichtbar“. Kunst macht sichtbar, das heißt, die Kunst verdoppelt nicht die Welt, sondern in der künstlerischen Schöpfung wird das Wesen, der Kern einer Sache, eines Gedankens, eines Menschen erst sichtbar und verständlich. Wenn die Arbeit der Bildhauerin also, Altweins eigener Intention zufolge, lediglich zum Vorschein bringt, was immer schon da war, dann wird in einem Werkstück Wahrheit gesucht und freigelegt – Wahrheit im Sinne der „a-letheia“ (griech.), des Ent-bergens, der Ent-hüllung eines schon vorhandenen Seins. Wahrheit aber nicht nur der freigelegten Figur, sondern die Wahrheit des Werkstücks selber. Die Künstlerin würde dadurch selbst zum Werkzeug einer ganz anderen, um nicht zu sagen: höheren schöpferischen Macht. Der Schaffensprozess würde die Zeit aufheben: Das Werdende würde lediglich das bereits Gewordene erreichen, in der Wahrheit des Seins verschmelzen Vergangenheit und Zukunft: „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.“
So finden wir beide großen Werkgruppen der bildhauerischen Arbeit Anne-Katrin Altweins, so verschieden sie äußerlich hervortreten, innerlich doch verbunden in der künstlerischen Intention: In ihrer Suche nämlich nach dem ursprünglichen und wahren Kern des Menschen.
Vielen Dank!
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar