„Skulptur. Weimar. 2010. Anne-Katrin Altwein“
Rede zur Ausstellungseröffnung
Kulturbahnhof Weimar, 13. Juni 2010, 11 Uhr
Sehr geehrte Damen und Herren,
die zehnte Skulptur . Weimar zeigt Skulpturen und Plastiken der Bildhauerin Anne-Katrin Altwein.
Die Künstlerin ist in Thüringen keine Unbekannte. Vielmehr: Die Werke Anne-Katrin Altweins sind schon so ins Stadtbild vieler Thüringer Städte integriert, daß Sie mit Sicherheit schon an mehreren ihrer Skulpturen vorbeigekommen sind – und sei es, ohne daß es Ihnen bewusst geworden ist. Denken Sie beispielsweise an Odins Raben und die Midgardschlange am Burgplatz Weimar vor dem ACC oder an die Arbeit über den Heiligen Franziskus: Franz und der Vogel auf dem Erfurter Anger, vor dem Ursulinenkloster. Beide Werke sind schon 1992 entstanden. Die Bronzeplastik Gralsucher kam 2002 vor der Polizeiinspektion Apolda hinzu sowie 2004 die meterhohen Drei Schicksalsgöttinnen vor dem Klinikum Jena. Der Brunnen mit den Bronzefiguren Sibylle und Schrödingers Katze in Jena-Winzerla, die raumgreifenden und doch so unendlich zarten tanzenden Äste in der Erfurter Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau, die Plastik WerteGemeinschaft/ Menschliche Größe im Forschungszentrum Jena, der kleine, genau einen Meter hohe Bonifatius, Knecht der Knechte Gottes im Kindergarten Sömmerda – Kunst im öffentlichen Raum ist der Arbeitsschwerpunkt Anne-Katrin Altweins, die 1984 ihr Studium an der Burg Giebichenstein Halle abschloss und seit über 20 Jahren als freie Künstlerin in Weimar ansässig ist.
Die Kunst im öffentlichen Raum ist ihr Arbeitsschwerpunkt, doch keineswegs ihr einziges künstlerisches Betätigungsfeld. Anne-Katrin Altwein arbeitet nicht nur in der Dreidimensionalität, sondern auch in der Fläche. Sie arbeitet auf Papier – Zeichnungen, Tusche, Radierungen –, in Porzellan und Gips, in Stein, Holz, Bronze und Glas. Sie dreht Filme wie 2007/2008 Hogkburgh - Bocckiade, die weiblichen Angelegenheiten betreffend – einige von Ihnen haben den Film vielleicht anlässlich des Tages der offenen Ateliers gesehen, an dem Anne-Katrin Altwein regelmäßig Einblicke in ihre Arbeit gewährt. Nicht zu letzt rief sie zum Projekt fillinvent.net auf, in dem seit 2005 via Internetkommunikation verbrannte Bücher der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek neu erfunden werden können.
So vielseitig ist die Künstlerin Anne-Katrin Altwein, und so verschiedenartig sind die Plastiken und Skulpturen, die wir ab heute hier im Kulturbahnhof, im Stadtgebiet und im Park des Romantikhotels Dorotheenhof sehen können. Die bildhauerischen Arbeiten Altweins lassen sich zwei Werkgruppen zuordnen: Da sind die massigen, häufig sparsam konturierten Steinskulpturen einerseits, die über Monate, wenn nicht Jahre im Steinbruch Ehringsdorf aus ihren Marmorblöcken wachsen, und andererseits die fragilen Plastiken aus Gips, die, bis sie in Bronze abgegossen werden können, häufig an Bindfäden im Atelier von der Decke hängen.
Diese beiden großen Werkgruppen gibt es. Und es gibt die Europē. Europē ist etwas Besonderes. Ich möchte auf diese Plastik jetzt näher eingehen. Europē. Nicht: „Europe“. Anne-Katrin Altwein schreibt als Werktitel den griechischen Namen des einst von Zeus begehrten Mädchens, der der Name unseres Erdteils geworden ist. (Sie kennen die mythische Geschichte des Mädchens Europē, die Zeus, in einen Stier verwandelt, entführte). Europē. Das querüberstrichene ē überträgt das griechische η in die lateinische Schrift. Ein griechischer Name also – das verweist auf die Notwendigkeit, sich um die ursprüngliche Bedeutung des Namens zu kümmern: Europē ist ein Kompositum aus eurys („weit“) und opsis („die Sicht“): Europē also, sagt die Künstlerin, ist die Frau mit der weiten Sicht. Nicht nur der Erdteil ist somit gemeint mit der riesenhaften Plastik, die im vergangenen Sommer anlässlich des Internationalen Kunstsymposiums der Kulturhauptstädte in Linz auf eine Größe von 3,30 m anwuchs. Der Name des Erdteils steht für eine ganze, jahrtausendealte Kultur, die auch gerne als abendländische Zivilisation bezeichnet wird.
Die Europē war ursprünglich aus hölzernen Grillspießen aufgebaut, bevor sie in Bronze abgegossen wurde. Das ist das Besondere gegenüber den Gipsoriginalen etwa der Tanzenden Äste oder der Belebten Stäbe. Die Grillspieße spielen auf unsere Vorfahren als Bewahrer des Feuers an, auf die Fleischesser, die, den Tierherden folgend, einst ihr Fleisch zu braten begannen. Überall in Europa können archäologische Ausgrabungen Spuren dieser Kultur nachweisen, und überall in Europa findet man bis heute besondere landestypische Spezialitäten, die auf diese Art der Esskultur zurückgehen.
Das hölzerne Original der Europē aber ist mittlerweile verbrannt, durch das Verfahren der Verlorenen Form. Der Bronzeguss ist somit wie ein zweites Original. Als solcher aber erinnert die Plastik an einen der riesigen Elektrizitätsmasten, die aus der Energieversorgung fast rund um die Erde schon nicht mehr wegzudenken sind. Europē also nicht nur als Chiffre einer Ernährungskultur, sondern auch als Verweis auf ein weiteres Element der abendländischen Zivilisation: Die technischen Errungenschaften, kulturelle Höchstleistungen Einzelner auf der Grundlage einer Breitenkultur der Schriftlichkeit und des Lernens, Errungenschaften, die die europäische Kultur in die Welt getragen hat – manchmal zum Nutzen, manchmal leider aber auch zum Schaden der anderen. Errungenschaften, die weltweit jedenfalls mit dem Namen Europa verbunden sind.
Blicken wir ganz an der Plastik empor, bemerken wir die auffälligste Besonderheit der Europē: Statt eines Kopfes überragt den Körper der hünenhaften Gestalt eine Hand – ihre einzige Hand. Die Hand auf den Schultern verweist auf ein Zusammenspiel, das die eben erwähnten technischen Errungenschaften hervorgebracht hat und begleitet: Das Zusammenspiel von Kopf und Hand – und in der Tat nicht immer von Herz und Hand – ist es, das die abendländische Kultur auf dem Wege ihres Fortschrittsgedankens weitergeführt hat.
Die Plastik leistet aber nicht nur diesen Hinweis, denn nicht Kopf und Hand sind zu sehen, sondern eine Hand anstelle des Kopfes. Kein Kopf – keine Augen: Ist der Weitblick der Europē – der „Frau mit der weiten Sicht“ – in Gefahr, dem beherrschenden Zugriff auf die Welt weichen zu müssen? Der Plastik ist meines Erachtens auch ein Abschied von der Idee einer vitalen europäischen Kultur ablesbar: Das Gerüst ist zwar in sich stabil, doch es droht ständig zu kippen. Es wirkt, als sei das augenscheinlich blutleere, hohle Gerippe zu einem lebendigen Austausch kaum mehr fähig. Die Europē, so hat man den Eindruck, tastet sich an der Idee ihrer weiten Sicht entlang. Deren möglichem Verlust „ins Auge zu sehen“ aber ist ihr in dieser Form konstitutiv nicht möglich.
Die Europē korrespondiert in gewisser Weise mit der tonnenschweren Marmorskulptur auf dem Theaterplatz: Vermehren durch Wegnehmen. Auch dieses Werk nämlich reflektiert unser eigenes kulturelles Erbe im Verhältnis zu einem globalen kulturellen Erbe. Vermehren durch Wegnehmen zeigt zwölf flache, dicht gedrängte Gestalten, die, nur als Relief erkennbar, rundum aus einem 2,20 m hohen Marmorquader gemeißelt und geschliffen sind. Der Titel des Werkes ist sprechend: Vermehren durch Wegnehmen verweist gleichermaßen auf die Form wie auf den Inhalt der Arbeit: Aus dem Stein wird „mehr“, indem Anne-Katrin Altwein ihn Strich für Strich abfeilt, bis er die lebensnahen Figuren freigibt, die der künstlerische Blick von Anfang an in ihm sah – Sie wissen, daß Anne-Katrin Altwein, wenn sie einen Stein sieht, immer sofort eine Vision der Figur hat, die in dem unbehauenen Stein steckt. Sie beschreibt ihr künstlerisches Schaffen ja so: Der Stein hatte die Form immer schon, die ich durch meine Arbeit nur zum Vorschein bringe. (Ich werde hierauf heute Nachmittag noch näher eingehen können). Also: Durch die künstlerische Schöpfung wird der Stein mehr - er wird ein Kunstwerk. Das ist der formale Aspekt des Werktitels Vermehren durch Wegnehmen. Der inhaltliche Aspekt kann auf ein Zusammenrücken und Teilen verweisen (Sie kennen das Wortspiel: Die Welt besteht aus Teilen), auf die Vervielfältigung kultureller und technischer Möglichkeiten in der globalisierten, enger vernetzten und so scheinbar kleiner gewordenen Welt. Er kann jedoch auch die Ausbeutung meinen, die Ausbeutung der oft nur an Kindern reichen Gesellschaften der Schwellen- und Entwicklungsländer. Die Ausbeutung, durch die einem kleinen Teil der Weltbevölkerung – eben den Menschen der sogenannten westlichen Zivilisation – der weitaus größte Teil der Energie, der Konsum- und Luxusgüter zur Verfügung steht. Äußere Armut und Kinderreichtum von Gesellschaften hängen so eng zusammen, daß man es ursächlich verknüpfen kann: durch unser Wegnehmen vermehren wir die Armut und die Armen. Die Angst, die unser schlechtes Gewissen uns beibringt, spiegelt sich in den Abschiebegefängnissen in Gibraltar, in der Arbeit der Küstenwache und Polizeipatrouillen in Apulien, an den Rändern unseres Kontinents wie im Süden der Vereinigten Staaten.
Es gibt dieses düstere Zerrbild der großen Chancen, die in der Einwanderung und im Dialog der Kulturen liegen. Anne-Katrin Altwein geht es um den nächsten Schritt hierüber hinaus: Es geht ihr um den Austausch der Kulturen, darum, daß wir selber es wieder sind, die innerlich bereichert werden, indem wir uns für Fremdes öffnen und uns selber zurücknehmen.
Für mich sind beide neueren Werke Anne-Katrin Altweins zusammengenommen – also Vermehren durch Wegnehmen und die Europē ein großer künstlerischer Weckruf – ein Weckruf von großer Reife und Intensität – der Weckruf einer Künstlerin, die sehr weit gereist ist, sich im Laufe vieler Arbeitsaufenthalte im Ausland tief in andere Kulturen eingelebt hat – etwa in den Künstler-Pagoden in Vietnam – und deren Blick zurück auf ihre Ursprungskultur aus einer gewissen inneren Distanz heraus voll Hochachtung ist, aber auch voll kulturkritischen Potentials.
Ich möchte an dieser Stelle schließen und auf den heutigen Nachmittag verweisen, an dem wir uns um 15 Uhr im Dorotheenhof treffen, um weitere, wieder völlig andersartige Werke Anne-Katrin Altweins zu erleben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar