„Anne-Katrin Altwein. Skulpturen Plastiken Zeichnungen“ im Thüringer Landtag
Rede zur Ausstellungseröffnung
Thüringer Landtag, Erfurt, 12. März 2009
Frau Vizepräsidentin, liebe Anne, sehr geehrte Damen und Herren,
da ich über Anne Altwein hier, im Thüringer Landtag reden darf, hätte ich wohl vor allem die Bedeutung dieser Künstlerin für und in Thüringen hervorzuheben. Ich sollte erwähnen, daß sie nach ihrer grundsoliden Ausbildung auf Burg Giebichenstein/ Halle, für sehr kurze Zeit in der Industrie tätig war, um sich dann vor 20 Jahren, noch vor der Wende, als bildende Künstlerin selbständig zu machen. Ich sollte von den unzähligen Preisen, Stipendien und Arbeitsaufenthalten im Ausland: in Norwegen, Schweden, Italien, den USA und vor allem immer wieder in Vietnam erzählen, die die internationale Anerkennung Anne Altweins widerspiegeln. Denn von ihrer Bedeutung im Lande legen die vielen Auftragswerke für Kunst im öffentlichen Raum und bedeutende Institutionen des Landes Thüringen selber das beredteste Zeugnis ab: die riesenhaften Schicksalsgöttinnen, die drei Moiren, vor dem Klinikum Jena, ebenfalls in Jena die Brunnengestaltung mit den Bronzefiguren Sibylle und Schrödingers Katze, die Plastik WerteGemeinschaft/ Menschliche Größe im Forschungszentrum Jena, der Don Quichotteske Gralssucher vor dem Polizeipräsidium Apolda, die ebenso raumgreifenden wie unendlich zarten tanzenden Äste in der Erfurter Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau, Franz und der Vogel hier vor dem Ursulinenkloster, Wotans weise Raben Hugin und Munin, die Erinnerung und das Gedächtnis aus schwarzem Diabas, auf dem Burgplatz in Weimar.
All dies sollte ich ausbreiten. Ich finde das aber langweilig. Ich möchte lieber über die Arbeiten selber und über die Arbeitsweise Anne Altweins reden. Was lässt sich formulieren, um einen Zugang zu den Werken Anne Altweins selber zu finden?
Anne Altwein schafft Werke in der Fläche wie in der Dreidimensionalität. Sie arbeitet auf Papier – Zeichnungen, Tusche, Radierung –, sie arbeitet in Porzellan und in Gips, in Holz, in Bronze und Glas, haut massige Leiber aus riesigen Marmorblöcken (jede der drei Moiren in Jena wiegt etwa sechs Tonnen!) und baut spindeldürre Gesellen aus aneinandergeworfenen Gipsflocken, die, bis sie in Bronze abgegossen werden können, an Bindfäden wie Marionetten im Atelier von der Decke hängen. Das Material also ist es nicht, das uns einen roten Faden durch das vielgestaltige Werk Anne Altweins an die Hand geben könnte.
Wie sieht es mit dem Schaffensprozess aus? Beschränken wir uns zunächst auf die Skulpturen, die ja den größten Teil der hiesigen Ausstellung ausmachen (Sie wissen, daß Skulpturen und Plastiken zweierlei ist: sculptus lateinisch „geschnitzt, gemeißelt“ – die Skulptur ist die aus dem Stein gehauene Figur, während plastos griechisch „geformt“ heißt. Die plastikä technä bringt aufgebaute Objekte hervor. Die große Freifrau und die Botschafterin im Hof sind demnach Plastiken, die Köpfe hier rundum Skulpturen).
Die Skulpturen also: Die Asymmetrien fallen bei den meisten Werken als erstes ins Auge. Verzogene Gesichter, schiefe Köpfe, bucklige, gebeugte Leiber. Augenfällig etwa bei den Werken im Hof, die kleine Frauenfigur heißt Schwarzhaarig, sehen Sie hierzu gleich beim Rundgang aber auch den Bonifatius an, die Nachbarin, unter der Treppe, der Voyeur, der aus dem Fenster in den Innenhof schaut, Mädchenkopf, Frauenkopf, junger Mann, nicht zuletzt die Aphrodite und Figuren wie die Fülle, eine kleine Marmorgestalt, beides ganz oben in der Vitrine. Wenn man die Künstlerin fragt: Warum sieht das so aus? Warum steht die so komisch? Warum hat der so eine fliehende Stirn? dann antwortet Anne Altwein: Der Stein hatte diese Form schon. „Ich musste gar nicht viel daran machen, als ich den Stein sah, war die Figur eigentlich schon da.“ – Na, ist ja prima! Da kann ich ja nach Hause gehen, dann ist dies ja nur eine Mineraliensammlung. Nein! Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie das zu verstehen ist. „Die Figur war eigentlich schon da.“ Sie kennen das berühmte Diktum von Paul Klee: „Kunst gibt nicht Sichtbares wieder, sondern macht sichtbar“. Dieser Satz wird heuer, im Bauhaus-Jubiläumsjahr, immer mal wieder gerne zitiert. Kunst macht sichtbar, das heißt, die Kunst verdoppelt nicht die Welt, sondern in der künstlerischen Schöpfung wird das Wesen, der Kern einer Sache, eines Gedankens, eines Menschen sichtbar und verständlich. Wenn die Arbeit der Bildhauerin also, Altweins eigener Intention zufolge, lediglich zum Vorschein bringt, was immer schon da war, dann würde in einem Werkstück Wahrheit gesucht und freigelegt – Wahrheit im Sinne der „a-letheia“ (griech.), des Ent-bergens, der Ent-hüllung eines schon vorhandenen Seins. Wahrheit außerdem ja nicht nur der freigelegten Figur, sondern die Wahrheit des Werkstücks selber – sei es ein Steinblock oder ein Stück Holz. Die Künstlerin würde dadurch selbst zum Werkzeug einer ganz anderen, um nicht zu sagen: höheren schöpferischen Macht. Der Schaffensprozess würde die Zeit aufheben: Das Werdende würde lediglich das bereits Gewordene erreichen, in der Wahrheit des Seins verschmelzen Vergangenheit und Zukunft.
Was für ein Schluß! Aber ich kann leider noch nicht aufhören, denn wir müssen noch die Figuren betrachten, um zu sehen, ob man diese bombastischen Sätze so stehen lassen kann.
Schauen wir also, welche Formen dieses Entbergen hervorbringt. Was für Gesichter zeigen die Figuren und Köpfe? Noch mal: Aphrodite, Allonge, Bonifatius, der Kinderkopf in Kind und Tier, Mädchenkopf, Frauenkopf, junger Mann, Voyeur. Wir sehen breite, flache Nasen, üppige, breite Lippen, flache Gesichter insgesamt. Die Physiognomien erinnern doch sehr an die Gesichter und Totemmasken, die die Künstler vor hundert Jahren, zur Zeit der sogenannten „Klassischen Moderne“, fasziniert haben: Bekanntlich belagerte Picasso förmlich über Wochen das Völkerkundemuseum in Paris, weil ihn der Anblick der dort präsentierten afrikanischen Totemmasken nicht loslassen wollte. Gauguin unternahm weite Reisen in die Südsee und malte die dortigen Frauen und ihre Kinder – nicht, weil ihm die Französinnen nicht mehr gefallen hätten, sondern weil man glaubte, hier näher an einer Wahrheit des Menschen zu sein, nach der man suchte. Die „Primitiven“ hatten schließlich nicht Jahrhunderte der europäischen zivilisatorischen Zurichtung hinter sich. Ihre Gestalten und Gesichter geben deshalb, so glaubte man, das Wesen des Menschlichen preis und spiegeln eine Natürlichkeit, die man in Europa nicht mehr fand. Die Rezeption dieser Kulturen und ihrer Spiegelung in der Kunst prägten so gründlich eine ganze Kunstepoche, daß seither eine solche Physiognomie das Ursprüngliche und Wahre kodiert. Wenn Sie die Künstlerin fragen, ob das ihre Intention war, und sie sagt ja, habe ich recht. Sagt sie nein, habe ich natürlich noch viel mehr recht, denn dann zeigt dies nur, wie gründlich diese Kodierung sich im Verlauf des Jahrhunderts der Moderne in unserer Kultur eingeprägt hat und uns zur zweiten Natur geworden ist.
Noch mal zu dieser kulturellen Kodierung des Wahren Kerns des Menschen: Dieses Wahre schließt beim Menschen natürlich das Göttliche mit ein. Wie wir wissen, sind wir ja das Ebenbild Gottes. Dies war der zweite Aspekt, der die Künstler zu Beginn der Moderne an den Masken der indigenen Naturvölker faszinierte: Die Ahnenmaske als sakrales Objekt bringt die einzelne Identität zum Verschwinden. Das Überindividuelle, Göttliche scheint auf und tritt mit dem Menschen in Dialog. Im Tragen der Ahnenmaske wird der in den Kult eingeweihte Mensch den Göttern gleich, als überindividuelles Wesen den Geistern ebenbürtig.
Dieser Aspekt der Suche nach dem Überindividuellen ist in der Kunst Anne Altweins nicht zu übersehen. Er spiegelt sich in den Werktiteln, die da heißen die Nachbarin, der Kellner, die Botschafterin, Freifrau, Kind und Tier, Tier und Mensch, Frau und Tier, kleine Frau, Hund, Katze, oder gar Fülle, Erwartung. Gralssucher, Schicksalsgöttinnen, Odins Raben, Aphrodite – es sind zum Teil mythologische, in jedem Fall aber archetypische Gestalten, die Anne Altweins Kunst zum Vorschein bringt. Es sind Abstrakta wie Fülle, Erwartung, Schüchternheit, das Lauernde. Der Kellner hinter mir hat so große Ohren, weil Anne Altwein diesen Berufsstand im Verdacht hat, Informationen aufzuschnappen, zu sammeln, und eventuell wieder auszuspucken. So auch die Nachbarin, die den Mund verkneifen muss, damit die Gerüchte nicht aus ihr heraussprudeln.
Es sind dreidimensionale Objekte, in denen Anne Altwein uns diese Inhalte präsentiert. Eine sehr alte Anforderung an diese Kunst ist ihre „Vielansichtigkeit“: Aus jedem Blickwinkel muss ein neuer, überraschender Aspekt der Gesamtfigur hervortreten. (Insbesondere in der Brunnengestaltung des Barock war das natürlich ganz wichtig, daß ein Werk praktisch nur Vorderansichten hat.) Nur Vorderansichten haben Annes Köpfe meist nicht. Es ist dennoch sehr wichtig, um die Skulpturen herumzugehen, insbesondere natürlich bei den Doppelfiguren wie Tier und Mensch oder Kind und Tier. Aber auch bei den ‚einfachen’ Köpfen, denn aus jeder Perspektive erscheint ein anderer Gemütszustand der Figur. Die Linearität der Zeit wird außer Kraft gesetzt. Verschiedene Momentaufnahmen finden sich in einem Gesicht überlagert. Wie ich schon sagte: In der Wahrheit des Seins verschmelzen Vergangenheit und Zukunft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar