Wolfgang Nickel. Wiedergeburt der Renaissance. Ein Magazinartikel

Unsichtbar ist das Wesen der Schönheit. Wer könnte es greifen? Wie könnte es sich materialisieren? Auf der Suche nach dem Schönen ist der längst auch international renommierte Glaskünstler Wolfgang Nickel seit gut dreißig Jahren unablässig schöpferisch tätig. Dabei ist er in den traditionellen Techniken und Materialien der Glasmalerei wie im Glasfusing und dem Zeichnen in Glas gleichermaßen zuhause. In der Sichtbarmachung des Lichtes durch seine Brechung in Farben, in der Sichtbarmachung des Glases durch die Reflexionen in seiner Verformung betreibt er die Sichtbarmachung des Unsichtbaren. In den schillernden Überlagerungen teiltransparenter Schichten tritt in den sich immer wieder entziehenden Formen das Wesen der Schönheit hervor. Doch l'art pour l'art ist Wolfgang Nickel fremd. Immer kreisen seine Arbeiten zusätzlich um thematische Inhalte - seien sie spirituell oder lyrisch, physikalisch oder kulturhistorisch.

So reflektiert eine aktuelle Ausstellung unter dem Titel "Wiedergeburt der Renaissance" das Bild des Menschen, dessen Neuformulierung den Umbruch von Spätmittelalter zu früher Neuzeit markiert. Die Schau auf der Wilhelmsburg Schmalkalden fügt sich damit ins Museumskonzept dieses weitgehend original erhaltenen, nicht überbauten Renaissanceschlosses, das mit der Thematik von Bewahrung und Wiedergewinn dem Herzschlag des 14.-16. Jahrhunderts nachspürt.

Die Ausstellung von Wolfgang Nickel präsentiert zum einen eine Gruppe halbmetergroßer Stand-Medaillons. Hier zeichnet der Künstler nicht nur damals zeittypische Ornamente und Figuren wie geflügelte Fabelwesen oder Mondsichelmadonnen nach. Wir finden auch Portraits aus dem selbstbewußter werdenden Bürgertum. Die Adaptionen sind keine Zeichnungen auf Glas, sondern durch ins vorbearbeitete Glas pipettierte und Schicht für Schicht eingebrannte Farbpigmente verschmolzen.

Daneben hält die Exposition aber auch klassische Zeichnungen auf Papier bereit. Mit der Wahl seiner künstlerischen Mittel verknüpft Wolfgang Nickel an dieser Stelle bewußt bildliche Inhalte wie künstlerische Techniken mit dem großen Themenkomplex von Bewahrung und Wiedergewinn.

Im Zuge dieses Wiedergewinns kopiert Wolfgang Nickel zunächst bekannte Portraits großer künstlerischer Vorläufer aus der Zeit um 1500. Der eigentlich künstlerische Zugriff auf sein Thema erfolgt, wenn er Köpfe unserer Zeitgenossen an die Stelle der alten Häupter in die Zeichnungen setzt. Nickel dekontextualisiert seine zeichnerischen Sujets und bezieht dadurch künstlerisch Stellung: Durch die Ersetzung bekannter Köpfe im historischen Gewand treffen die Werke eine Aussage zur geschichtlichen Relevanz unserer Zeitgenossen wie Martin Luther King oder Greta Thunberg. Die Handschrift von Dürer oder Michelangelo sind in Nickels Zeichnungen für den Betrachter identifizierbar und ihre Kenntlichkeit ist Programm: Bewußt wählt Nickel Elemente des kulturellen Gedächtnisses aus, um sie für uns im neuen Kontext zu aktualisieren.

Die erkenntnisfördernde Verfremdung besteht in der Verbindung mit der Glaskunst, da die Zeichnungen in großen, metallbelegten Passepartouts erscheinen. Neben einer Markierung der Wertigkeit, die mit der Rahmung durch Gold und Silber einhergeht, leistet Nickels Fortentwicklung seiner Vorbilder ein übriges: Wer die Zeichnungen betrachtet, spiegelt sich zugleich schemenhaft in ihrem Rahmen. Für das Publikum überlagern sich Reflexion und Selbstreflexion. Im Betrachten und Wiedererkennen der Bilder geschieht eine Verortung des eigenen Selbst als kulturelle Identität - als kulturelle Identität, die schon in der Renaissance längst die Ländergrenzen überschritten hatte und in Nickels Werk zur Identität des selbstbewußten und freien Individuums wird.

Zur Ausstellung liegt ein Katalog vor.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar

 

Der Artikel erschien leicht gekürzt und verändert in: Glashaus/ Glasshouse. Internationales Magazin für Studioglas Heft 4/2020 (November 2020) S. 4f. Mit einer englischen Übersetzung durch Eva Hunte und Helen Ribka.