Bilddialog zur Lavage „Auferstehung“ (2004) von Michael Morgner

Begleitveranstaltung zur Ausstellung "Jesus Reloaded. Das Christusbild im 20. Jhdt."

Kunsthaus Apolda Avantgarde, Donnerstag, 2. März 2017, 18 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte die Betrachtungen mit einem Gedichttext beginnen, den der Dichter Harald Gerlach verfaßt hat. Es ist das Gedicht "Ostern", das neunte von neun Gedichten des Zyklus, den Michael Morgner in seiner "Ecco-homo"-Mappe durch Radierungen und Prägedrucke illustriert oder ergänzt hat. Das Ecce homo-Thema stammt bei Morgner aus dem Todesjahr seiner ersten Frau, 1984 - wir werden noch darauf kommen -, die Mappe hat Jens Henkel 1994 in der Burgartpresse vorgelegt - also zehn Jahre vor dem Bild des heutigen Abends.

Nun also der Text "IX Ostern" von Harald Gerlach, illustriert von Michael Morgner:

"An diesem sehr frühen Morgen,

unausgeschlafen, schweigt mit heiserer

Stimme vor meinem Fenster das Scheitern.

Wir wissen umeinander. Das genügt.

Das verschwitzte Laken ist Haut und reißt

stückweis vom Leib mit jeder Drehung.

Von weither, mehrstimmig, singt nimmermüd

Ein Veteranenchor, vergeblich das Ende suchend.

 

An diesem sehr frühen Morgen, heißt es,

gehen die Mädchen in die Wiesen,

barfuß, und erwarten, daß die

Toten über sie kommen.

 

Schweißnaß an diesem Ostermorgen,

ich hab Wasser getrunken vor Durst

nach Liebe, da wars, da kam ich

in die Wiesen. Barfüßig. Viel Tod."

Das lyrische Ich ist im gesamten Gedichtzyklus Christus (vgl. den "Palmarum"-Text im Katalog). Das Gedicht mit dem Titel "Ostern" endet mit dem Wort Tod. Sogar: "Viel Tod."

Wir stehen vor dem Bild "Auferstehung" von Michael Morgner aus dem Jahr 2004.

Wir sehen - vermutlich auf den ersten Blick gar nicht so viel. Vor hellem, man könnte auch sagen schmutzig-weißem Hintergrund ein schwarzes, in silbergrauen Schlieren auslaufendes Dreieck wie ein Maul, das eine rötlich-braune Zentralfigur ebenso verschlingen wie in die Freiheit entlassen könnte.

Die Zentralfigur ist zartem Seidenpapier aufgedruckt und durch das Einarbeiten von Asphalt braun eingefärbt. Die Farbe umgibt die Figur in einem breiteren Rahmen wie ein Nimbus, der den ganzen Körper umfaßt.

Die Figur zeigt einen ausgestreckten Körper, dessen Kopf allerdings gesenkt ist. Die Arme liegen eng am Körper an und die Hände liegen in Hüfthöhe übereinander. Wüßte man sonst nichts über das Werk Michael Morgners, könnte man die Andeutung einer Andachtshaltung in dieser Figur sehen. Oder aber man assoziiert eine Mumie. Wenn wir genau hinsehen, sind die Füße der Figur von Linien wie von einer Einfassung umgeben. Bewegung jedenfalls strahlt das Bild nicht aus - eher Stillstellung. Die Figur ist einer der fünf Archetypen, die Michael Morgner in vielen seiner Arbeiten immer wieder umkreist.

Michael Morgner wurde am 6. April 1942 in Chemnitz geboren und wuchs in einem kleinen Vorort, Einsiedel, auf. Zu seinen frühesten, auch künstlerisch verarbeiteten und beschriebenen Erinnerungen gehört die an die Bombennacht vom 5. März 1945, in der Einsiedel zu 97% zerstört wurde und die er im Brauereikeller in den Armen seiner Mutter überlebte. Morgner stammt aus einem Arzthaushalt, in dem es, wie er in einem Interview sagt, "keine Zeit für Kultur"[1] gab. Das erste Konzert habe er besucht, da sei er schon Student gewesen. Ebenso ohne äußere Anregung war sein Interesse für die Bildende Kunst geblieben, als er sich nach dem Abitur 1960 zum nachhaltigen Entsetzen seines Vaters zu einem Kunststudium entschloß. Da er keinen Zeichenzirkel besucht hatte und die Werke, die er zunächst an der HBK Dresden einreichte, keinen erkennbaren kunsthistorischen Einfluß aufwiesen, wurde er abgelehnt. Michael Morgner hat ausreichend ironische Distanz zu seinem gesamten, staatlicherseits völlig willkürlich mal geförderten, mal behinderten Werdegang, daß er in Interviews freimütig erzählt, wie es weiterging. Sein Vater drohte beim Rat des Kreises mit seinem Ausreiseantrag. Da man Ärzte halten wollte und mußte, konnte diese politische Instanz derart auf die Hochschulleitung einwirken, daß eine Nachprüfung anberaumt wurde. Und Morgner bestand. Das, so Michael Morgner spöttisch, "ist der 'Vorzug' an einer Diktatur."[2] Um seinem Vater entgegenzukommen und die eigene Ausbildung doch etwas in Richtung Anwendungsbezug zu modifizieren, schrieb er sich im Fach Gebrauchsgrafik bei Heinz Wagner an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig ein.

Dort studierte Michael Morgner also bis 1966 und lernte im Studium die Kommilitonen kennen, die zehn Jahre später so wichtig beim gemeinsamen Projekt der Produzentengalerie und Künstlervereinigung CLARA MOSCH werden sollten: Thomas Ranft, Dagmar Schinke (später Ranft-Schinke) und Gregor-Torsten Schade (seit 1980 Kozik). Gemeinsam mit dem Mentor der Gruppe, dem 15 Jahre älteren Carlfriedrich Claus aus Annaberg, beschloß man 1977 einen winzigen, vom Kulturbund als Atelier angebotenen ehemaligen Grünkramladen im Karl-Marx-Städter Stadtteil Adelsberg, als Galerie zu nutzen. Schon vier Jahre zuvor hatte die Galerie Oben in der Karl-Marx-Städter Innenstadt die Künstler auszustellen begonnen und tut das übrigens bis heute - die Galerie Oben gibt es noch und der Name Clara Mosch ist ebenfalls noch ein Begriff, obwohl die Gruppe nur fünf Jahre lang durchgehalten hat. Nun also 1977 in Adelsberg die Produzentengalerie, ein Name muß her, ein Journalist problematisiert den Namen: "Wer war Clara Mosch?" und Michael Morgner lanciert die Legende von einer Vorkämpferin der Frauenemanzipation der 20er Jahre. Die Stasi hat lange nach dieser Frauenrechtlerin gesucht und fühlte sich natürlich vorgeführt, als klar wurde, daß der Name der Gruppe lediglich ein Anagramm aus den Nachnamen der Mitglieder war: CLAus, RAnft, MOrgner, SCHade - Clara Mosch.

Clara Mosch stellt zunächst sich selber aus, dann auch andere Künstler, bis die erdrückende Überzahl von Kulturbundmitgliedern im Entscheidungsgremium das Anliegen ad absurdum führte. Es wurden dann Künstler ausgestellt, die Morgner, wie er sagt, "nicht im Laienzirkel haben wollte". [3] Nachdem man von offizieller Seite her vergeblich gehofft hatte, eine Galerie in diesem winzigen Raum im Vorort werde sich schnell totlaufen, schritt man zur Tat. Mehr oder weniger im Verborgenen: Zuletzt waren nicht weniger als 120 - ein Katalogtext spricht gar von 134[4] - Informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit auf die im Wortsinne Handvoll Leute in Adelsberg angesetzt - darunter der Fotograf der Gruppenaktionen, Ralf-Rainer Wasse, der denn auch in entscheidenden Momenten "vergessen" hatte, einen Film in die Kamera zu legen (etwa, als Thomas Ranft und Michael Morgner Bäume mit Mullbinden umwickeln, um das Baumsterben zu thematisieren. Es existieren nurmehr die Erzählungen von dieser Aktion, aber wie Morgner sagt: beide sind keine Aktionskünstler, was zählt, ist das Bild, das man hernach bearbeiten, mit dem man etwas machen kann.)

Diese Bespitzelung jedenfalls war die Kehrseite der Hochschätzung der Kunst und ihrer Wirkung durch die DDR-Funktionäre. Als Auslöser des sogenannten "Formalismusstreites" - die Kunst des Arbeiter- und Bauernstaates hatte formal realistisch und inhaltlich optimistisch zu sein - hatte Otto Grotewohl zum 5. Plenum des ZK der SED im Frühjahr 1951 formuliert: "Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet, aber es ist klar, daß sie einen starken Einfluß auf die Politik ausüben. Die Idee der Kunst muß der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen."[5]

Man maß der Kunst Bedeutung bei - ich möchte sagen: Im Gegensatz zum Westen - und deshalb wollte man sie steuern und bekämpfte massiv alle, die via Kunstproduktion Zweifel und Kritik oder einfach nur ihre eigene Wahrnehmung und Gefühlslage zum Ausdruck zu bringen verstanden. Politische Mittel gab es genug: Von der Materialkontingentierung und Beschlagnahmung von Geschenken, die per Post über die Grenze kamen, über das aufgeblähte Genehmigungswesen, über Verbote oder Behinderungen von Ausstellungen v.a. im nicht-sozialistischen Ausland, über Verschleppung von Eingaben bis hin zur Diffamierung als "arbeitsscheu" und "asozial" gemäß §249 StGB - ein Urteil, auf das bis zu zwei Jahren Zuchthaus stand! - bis hin zur Ausweisung und Ausbürgerung.[6] Auch die Ausbürgerung war eine echte Drohung. Gerade Michael Morgner sagt, daß er nirgendwo anders als zuhause arbeiten könnte: "In der Toskana könnte ich nicht zeichnen."[7]

Auch Clara Mosch also wurde in die Mangel genommen - die Künstler selber - OV-Name "Made und Wurm" für Ranft und Morgner - wußten gar nicht, wie sehr und malten sich nicht aus, für wie gefährlich sie gehalten wurden - und den diversen Zersetzungsstrategien der Stasi ausgesetzt. Klammheimlich: Hatte Erich Honnecker doch im Herbst 1971 zum VIII. Parteitag der SED verkündet, in der Kunst nun "Weite und Vielfalt" zulassen zu wollen", so daß Künstler wie Thomas Ranft nun bei der Androhung von Verboten der Aktionen der CLARA MOSCH immer fragen konnte, in welchem Gesetz dies denn verboten worden sei. Und die DDR fürchtete eines wie der Teufel das Weihwasser: Schlechte Presse im Westen. Häufig waren Vertreter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik auch in Adelsberg zu Gast - und man fürchtete, durch das häufig geplante, aber nie vollzogene tatsächliche Abholen eines der Künstler, dessen Märtyrertum. Also verlegte man sich auf die heimlichen Strategien: Man brachte gezielt die Ehe der Ranfts auseinander, man machte die Gruppe gegenüber Gregor-Torsten Schade mißtrauisch, indem man verleumderische Gerüchte streute und ihn von offizieller Seite besuchte und hofierte, man versuchte, die Gruppe gegen Michael Morgner aufzubringen, indem man ihm lukrative Aufträge für Wandreliefs sowie einen Ausweis für Reisen ins nichtsozialistische Ausland verschaffte. 1982 zerfiel die Gruppe nach fünf Jahren - da war Morgner 40 Jahre alt.[8]

Aber man sieht: Michael Morgner kam bei den Zersetzungsmaßnahmen zufällig - oder auch nicht - siehe Aufnahmeprüfung - noch relativ gut weg. Er konnte von seiner Arbeit leben und - was nicht allen eigenständigen Künstlern vergönnt war - Familie gründen. 1967 hatte er Dörte Block geheiratet, die 1970 und 1974 dem Paar eine Tochter und einen Sohn gebar. Doch Michael Morgner blieb ein widerständiger Künstler - auch als er und Thomas Ranft sahen, daß nichts mehr zu retten sein würde für ein freies Leben in der DDR, verweigerten die beiden - und zwar letztlich als einzige Künstler - die Teilnahme an der X. Kunstausstellung der DDR 1988. Morgner zog sich im selber Jahr aus dem VBK der DDR zurück - und erhielt den Hauptpreis der Triennale Sofia. Als einer der wenigen Künstler kann er auch - sogar recht bald - im westlichen Kunstmarkt bestehen, der sich in Morgners Augen viel zu wenig neugierig auf die Kunst im Osten Deutschlands ist: Das Interesse war und ist einseitig.[9] Doch Morgner wird 1991 Preisträger der Griffelkunst Hamburg und erhält im Jahr darauf den Kunstpreis der Großen Kunstausstellung NRW in Düsseldorf. Er wird 2003, 2005 und 2007 als Gastprofessor zur Internationalen Sommerakademie für Bildende Künste Salzburg eingeladen und erhält 2006 den Kunstpreis der Stiftung Christliche Kunst Wittenberg - die Sammler unserer derzeitigen Ausstellung hier. Etliche Großplastiken kann er realisieren, in Halle, vor dem Würzburger Dom und im Dom zu Meißen, bevor er 2012 im Lindenau-Museum Altenburg mit dem Gerhard-Altenbourg-Preis ausgezeichnet wird.

Auf einem Notizzettel, die in dem Künstlerbuch "Amöben" mit abgedruckt sind, hat Morgner den Satz festgehalten: "Nach 40 Jahren DDR haben ich das Gefühl, daß Kunst nicht nur von Können kommt, sondern auch von Charakter."

Der Krebstod seiner Frau nach zwei Jahren schwerer Erkrankung stellt einen tiefen Einschnitt im Leben und auch im Schaffen Michael Morgners dar. Das war zwischen 1982 und 1984 - die Kinder waren also erst 8-10 bzw. 12-14 Jahre alt -, und der ihm so nahe gerückte Tod zieht mit der Arbeit an der Mappe "Ecce homo" die Hinwendung Morgners zur christlichen Motivik nach sich. Zugleich entsteht der Zyklus "Ich nicht". "Ich nicht" ist, wie er mir unlängst anläßlich seiner Vernissage in Bad Steben erklärte, ein Kürzel aus dem Satz "Ich kann nicht mehr", den Morgner in etlichen Arbeiten verschiedentlich übermalt hat. Es verwundert nicht, daß der Zyklus "Ecce homo" und "Ich (kann) nicht (mehr)" inhaltlich-formal sehr ähnlich sind, formuliert das "Ecce homo" bei Morgner doch auch immer das (in Christus exemplarisch erzählte) Leiden des Menschen. Durch diese Bezogenheit auf das Leiden der Menschen gilt Morgner als bedeutendster deutscher Altarbildner der Gegenwart - so jedenfalls die Einschätzung Friedrich Dieckmanns in seinem Text zu Amöben 2.

Damit kommen wir zum Werk.

Eine frühe Faszination übten auf den Studenten Morgner die Glasfenster des Erfurter Domes aus, die er in einem Katalog kennengelernt hatte. Er versuchte, diese Malweise nachzumachen (und, wie er sagt, konnte es nicht)[10]. Es verwundert nicht, daß er deshalb auch Georges Rouault besonders schätzte - wir haben im Bilddialog vor drei Wochen gesehen, wie ähnlich dessen expressive Malweise der Glasmalerei-Ästhetik ist. Dem Dementi des Künstlers zum Trotz muß man sagen, daß seine frühen Werke aus den 60er Jahren, heute im Besitz der Kunstsammlungen Chemnitz, "An der Garderobe" oder "Im Theater", sehr wohl gelungene Versuche sind, Rouaultsche Ästhetik im eigenen Werk umzusetzen. Ein weiterer starker Einfluß ging von der Malerei El Grecos aus, deren inneres Leuchten Morgner faszinierte und deren "irisierendes Licht" (Morgner) er in seine Kunst zu übertragen versuchte.

Michael Morgner ist ein ausgesprochen intuitiv schaffender Künstler. Er plant Figuren nicht, sondern bekommt sie, wie er sagt, während des Arbeitens "geschenkt". Seine Kunst hat er immer in den Dienst des Menschen gestellt. Er meint, natürlich könne Kunst nichts besser machen, aber sie könne Kraft geben. Morgner notiert: "Wie wunderbar sind (gute) Bilder, sie zappeln nicht, sie brüllen nicht, sie stehlen nicht die Zeit und strahlen doch eine geheime Kraft aus. M.M."[11] Diese Kraft versucht Morgner mitzuteilen, indem er das Leiden des Menschen in seiner Kunst - und zwar in der Gestalt des Kunstwerks selber - zum Ausdruck bringt. Das Kunstwerk selber - häufig aus ganz fragilen Materialien wie Seiden- oder Transparentpapier gefertigt - erhält Narben, wird collagiert und decollagiert und wird in vielen Arbeitsschritten einem regelrechten Leidensweg unterzogen, der dem fertigen Werk dann sichtbar anhaftet: "Schweißtücher" heißt eine große Morgner-Ausstellung, die derzeit im Grafikmuseum Bad Steben zu sehen ist. Sie zeigt Werke, die der "Auferstehung" hier in der Machart und im Figureninventar vielfach sehr ähnlich sind. "Schweißtuch" ist ein Begriff, der in der Kunst Morgners seit langem auftaucht und einfach den authentischen Abdruck meint. "Schweißtuch", das ist bei Morgner das vera icon von welchem existentiellen Leiden auch immer.

Ende der 80er Jahre, aber definitiv noch vor der Wende, beginnt Morgner sein Inventar an archetypischen Grundfiguren zu entwickeln: die gekrümmte "Angstfigur", den "Kauernden", den "Stürzenden", den "Aufsteigenden" und den "Schreitenden"[12] - letztere zum Teil kombiniert zum durchaus kämpferischen Paar. Hinzu kommen die Grundsymbole des Dreiecks, des Kreuzes und des Pfeils, die auf einer Arbeit auch zum Teil auseinander hervorgehen.

Alle menschlichen Grundtypen sind nach demselben Muster geschaffen: In der Binnenform sparsam, aber sehr prägnant, gleichsam anatomisch nachvollziehbar gezeichnet - wie wir es in der "Auferstehung" sehen. Linn Kroneck, die soeben in Bad Steben die Ausstellung eröffnet hat, bezeichnet in ihrem Katalogtext diesen "Aufsteigenden"[13] hier als die wichtigste Bildformel im Œuvre von Michael Morgner. Sie arbeitet vier Erkenntnisebenen heraus, aus denen sich der figurative Symbolfundus im Werk Michael Morgners speist:

- Seine individuelle leibliche Betroffenheit als Mensch

- Seine gesellschaftliche Erfahrung mit einem Restriktionssystem

- Seine soziale Welterfahrung und die Erfahrung existentieller Menschheitsängste

- Das Wissen um die christlichen Wurzeln aller europäischer Kunstgeschichte[14]

Wie wir das hier in der Ausstellung bei allen Künstlern gesehen haben und wie der Katalog von Tom Beege und Andrea Fromm das auch herausarbeitet, gilt auch für Morgner, daß er die Christuserzählung ins Allgemein-Menschliche zieht und auf sein eigenes Leiden appliziert. Das Christliche, in dem er tief verwurzelt ist, scheint ihm dabei wiederum jahrtausendealte Weisheiten aufzubewahren: "Es sind Chiffren aus den Jahrtausenden. Ich bin Europäer und für mich kann es gar nichts anderes geben, als mich in dieser Geschichte zu verstehen: Antike, Rom, christlichen Kunst. Um einen gequälten Menschen zu zeigen, gibt es kein besseres Motiv als die Kreuzigung."[15]

Soweit Michael Morgner, dem es, wie Friedrich Dieckmann sagt, "gelingt, das Symbolische ornamental und das Ornamentale symbolisch werden zu lassen."[16] So ist denn Michael Morgner auch freudig überrascht, als er bei einer Reise nach Mexico 1999 in Palenque in den Mauern genau die Grundsymbole - Kreuz und Dreieck - findet (zur Belüftung nämlich), die auch seine eigenen Bilder bestimmen. Der Palenque-Zyklus entsteht.

Wichtig ist für Morgner die Darstellung von innerem, seelischem Leid. Obwohl seine früheste Kindheitserinnerung die an die Bombennacht im Februar 1945 ist, in der sein Wohnort zerstört wurde und seine Mutter ihn aus einem brennenden Haus über die Straße trug, obwohl die Verwandten, wie er schreibt und berichtet, sich beim Einmarsch der Russen aus Angst erschossen haben und obwohl der Vater erst 1950 als dann Fremder aus dem Gefangenschaft zurückkehrt - obwohl also auch Morgner brutalste körperliche Gewalt selbst erfahren hat, steht ihm für seine Kunst doch das seelische Leiden im Vordergrund. Dieses Leiden ist es, das er in seiner Kunst nicht nur durch figürliche Formen, sondern durch die Durcharbeitung jeweils des gesamten Blattes zur unmittelbaren Evidenz und Eindrücklichkeit bringen will.

Damit kommen wir nach den inhaltlichen Aspekten zu den formalen und technischen Aspekten des Werkes von Michael Morgner.

Schon 1977 entdeckt Michael Morgner die Lavage-Technik für sich. Den Namen hat er denke ich insofern selber erfunden, als er ihn eigenständig auf eine künstlerische Technik übertragen hat, die fortan mit ihm verbunden ist. Der Begriff Lavage ist eigentlich ein medizinischer und meint dort das Ausspülen von Körperhöhlungen. Das Verfahren selber hat Morgner - wie er das auch von seinen Symbolformen sagt - nicht erfunden, sondern es hat ihn gefunden. Wie so oft trug es sich am Ostseestrand zu (auch die Vorbilder zu seinen Figuren hat er beim Herabblicken von einer Steilküste auf die am Strand liegenden Körper der Badegäste gefunden). Er zeichnete mit Tusche und war mit dem Ergebnis unzufrieden. Er zerknüllte das Blatt und schleuderte es ins Meer. Nach einer Weile trugen die Wellen das Blatt wieder an Land, und da es nicht wieder verschwinden wollte, hob er es auf und sah es erneut an. Und staunte. Denn das Meerwasser hatte die Tusche nicht völlig heruntergewaschen, sondern die bereits getrockneten Teile waren schwarz geblieben, hatten aber einen Glanz bekommen. Andere, noch feuchte Teile des Blattes, hatten einen silbergrauen Schleier erhalten. Die neue Technik war geboren.

In Lavage-Technik geschaffene Blätter werden mit Tusche bemalt und gezeichnet und dann mit dem Wasserstrahl bearbeitet. Das Verfahren wird wiederholt, bis Morgner das Ergebnis gefällt. Er ist mit der Beschreibung dieser Technik ganz unneurotisch, denn, wie er sagt: "Es kriegt eh keiner hin." Er hat das Verfahren darum auch ganz freimütig während seiner Gastprofessur an der Sommerakademie in Salzburg erläutert. Sein künstlerisches Selbstbewußtsein reicht aus, um zu wissen: Das Verfahren zu kennen ist die eine Sache - es richtig durchzuführen die andere. Seine 40 Jahre Erfahrung jagt ihm da kein Kollege ab.

Die durchnäßten Blätter kann Morgner dann aber auch noch auf andere Weise bearbeiten - nämlich indem er sie verklebt oder wiederum zerreißt und so Schicht auf Schicht fügt, bis ein komplexes, zum Teil geradezu reliefartiges Werk entstanden ist, dem die Leidensspuren seiner Entstehung eingeschrieben und ablesbar sind. Das berühmte Turiner Grabtuch beeindruckte Michael Morgner aus genau diesem Grund seit langem: Weil hier die Spuren des Leids am Tuch selber sichtbar und gespeichert sind. Das versucht er in seiner Kunst nachzumachen. Das Stichwort vom Künstler als Archäologen fällt in diesem Zusammenhang gerne in den Katalogbeiträgen.

"In die Welt geworfen werden, leiden, Schmerzen spüren, geschunden werden, Tod, Auferstehung - Morgner widmet sich nicht nur thematisch den existentiellen Bedingungen, er artikuliert sie auch im Schaffensprozeß selbst, indem er den Bildgrund schindet und häutet und daraus sein Werk 'auferstehen' läßt", so formuliert es die Kunsthistorikerin Barbara Wally in ihrem Beitrag "Michael Morgner - Manifeste des aufrechten Gangs".[17]

Die Figuren finden ihn - die Werke entstehen ohne genaue Planung - und so werden auch die Werktitel erst vergeben, wenn das Werk abgeschlossen ist. Auch was die grafischen Elemente anbelangt, will Morgner nicht, daß man sie überinterpretiert. Häufig erscheinen leiterartige Strichgruppen in seinen Bildern, oder auch Gitternetzlinien. Wenn die Betrachter fragen: Was bedeutet das? Sagt Morgner: Nichts. Gefällt mir. Ich zeichne das, was mir gefällt.

So sollte die "Auferstehung" von 2004 nicht überinterpretiert werden. Als ich ihn in Bad Steben traf und auf dieses Werk ansprach, wußte er schon nicht mehr, daß es existiert. Die aufrechte Gestalt taucht in vielen anderen und anders betitelten Werken ebenfalls auf. Hintergrund und technisches Verfahren entsprechen der Intuition des Künstlers, bestimmte Leiderfahrungen auszudrücken. Am ehesten wird das Werk verständlich als Fortsetzung des "Ecce homo"-Zyklus, dessen letztes Gedicht, "Ostern", mit dem Wort "Tod" endet.

Cornelie Becker-Lamers, Weimar


[1] "Und doch ist eine Angst in allen." Peter Iden im Gespräch mit dem Künstler Michael Morgner, in: Michael Morgner, Bilder/ Paintings 1985-2008, hg. von Ingrid Mössinger, Bielefeld - Leipzig - Berlin: Kerber 2011, S. 27-35, S. 30.

[2] Ebd.

[3] www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/autonome-kunst-in-der-ddr/55822/clara-mosch, Filmsequenz, abgerufen am 1. März 2017.

[4] Amöben. Michael Morgner. 2. Ein Skizzenbuch. Mit einem Essay von Friedrich Dieckmann, Rudolstadt: Burgart Presse Jens Henkel 2012, unpaginiert.

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Formalismusstreit, abgerufen am 1. März 2017.

[6] Vgl. das Kapitel Stigma und Repression, in: Paul Kaiser, Boheme in der DDR. Kunst und Gegenkultur im Staatssozialismus, Dresden: DIK Verlag 2016, S. 318-367, bes. S. 322 ff.

[7] www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/autonome-kunst-in-der-ddr/55822/clara-mosch, Filmsequenz, abgerufen am 1. März 2017.

[8] Vgl. auch das Kapitel "Die "Zersetzung" der Bohème, in: Paul Kaiser (wie Anm. 6) S. 368-83, bes. S. 377 ff.

[9] www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/autonome-kunst-in-der-ddr/55822/clara-mosch, Filmsequenz, abgerufen am 1. März 2017.

[10] Peter Iden-Interview in: Michael Morgner, Bilder/ Paintings 1985-2008 (wie Anm. 1) S. 30.

[11] Blauer Notizzettel in Amöben 2 (wie Anm. 4)

[12] Vgl. die Aufzählung und Klassifizierung bei Barbara Wally, Michael Morgner - Manifeste des aufrechten Gangs, in: Michael Morgner, Bilder/ Paintings 1985-2008 (wie Anm. 1) S. 9-25, S. 10.

[13] Bei Linn Kroneck wird der Aufsteigende irrtümlich als "Angstfigur" bezeichnet, vgl. Linn Kroneck, Kunst - durchlebt und durchlitten, in: Michael Morgner. Schweißtücher, hg. vom Grafikmuseum Stiftung Schreiner Bad Steben, Bad Steben 2017, S. 5-8, S. 5. Im Interview mit Iden (wie Anm. 1) beschreibt Morgner die Angstfigur als aus der "gekrümmten Gestalt" eines am Strand liegenden Menschen entwickelt.

[14] Linn Kroneck (wie Anm. 13) S. 6.

[15] Michael Morgner zit. nach ebd.

[16] Friedrich Dieckmann in seinem Essay in Amöben 2 (wie Anm. 4).

[17] Barbara Wally (wie Anm. 12) S. 17.