Beate Debus. Form und Figur
Podcast für DIE GALERIE Frankfurt/M.
Seit vierzig Jahren ist Beate Debus mit ihren Skulpturen der Kunstwelt präsent, bundesweit und darüber hinaus. Von Beginn an lag ihr künstlerisches Erkenntnisinteresse bei der menschlichen Gestalt. Von der Figürlichkeit herkommend, vollzieht sich in ihrer Arbeit Mitte der 90er Jahre ein grundlegender Wandel im künstlerischen Zugriff auf das durchtragende Thema. Beate Debus rückt nun die Dualität von zwei Figuren ins Zentrum ihres Schaffens. Im folgenden Text möchte ich die häufig hochaufragenden, ausladenden Skulpturen Tänze nennen - etlichen ihrer Werktitel entsprechend.
Mit der Emanzipation der Skulpturen aus der Abbildhaftigkeit wird eine Zweifärbung charakteristisch für die auf die assoziierbare Andeutung von Rumpf und Gliedmaßen reduzierten Gestalten. Diese Zweifärbung erhält sich, als gut zehn Jahre später der Kopf zum künstlerischen Thema Beate Debus' aufrückt. Und sie kennzeichnet auch die Holzreliefs der derzeit jüngsten Schaffensperiode wieder, in der die Künstlerin sich nach einer langen Zeit der Reifung des Themas erstmals der Natur zuwendet und mit den ikonischen Mustern von Landschaft spielt.
Die Frage nach dem Zustandekommen der Färbung und ihrer Motiviertheit im Schaffensprozeß führt zu einer Präzisierung der grundlegenden Werkthematik bei Beate Debus. Denn die Zweifarbigkeit steht hier ganz im Dienst der Sichtbarmachung von Bewegung, um die das Werk in jeder der Skulpturen aufs neue ringt. Die Bewegung - oder besser: die Momentaufnahme im Fluß der Bewegung kann dabei ganz unterschiedlicher Natur sein: äußere Bewegung zunächst, die in etlichen mit Tanz betitelten Werken als spielerisches Ausbalancieren eigenständiger Körper vor Augen geführt wird; äußere Bewegung ferner, die - etwa im Werk Überbeugen und anderen - elementare Dichotomien der menschlichen Existenz thematisiert: Freiraum und Schutz, Schwäche und Standhaftigkeit, Kleinmut und Übermut, Überschwang und Balance; äußere Bewegung endlich, die in Werken wie Aufbäumen ein gewaltsames Nach-außen-Treten innerer Emotionen in den Blick rückt; und schließlich diese innere Gefühlsregung selber, wie sie in den Kopf-Skulpturen als Ausgangspunkt der äußerlichen Bewegung deutlich wird. Wir werden darauf zurückkommen.
Die Öffnung ist das Wesentliche in den Werken von Beate Debus, wie die Künstlerin selber betont: Der freie Raum als Voraussetzung von Bewegung; der freie Raum, der es möglich macht, Abstand zu halten oder aufeinander zuzugehen. Bei den Reliefs ist dies der Abstand zur Wand, bei den freistehenden Skulpturen der Innenraum, der eigene Raum, den die Körper für sich beanspruchen. Zugleich reflektiert die Künstlerin die Janusköpfigkeit der Öffnung selbst, die Doppeldeutigkeit des Raumes in den Skulpturen. Denn die Schaffung eben dieses Raumes ist Befreiung und Verletzung zugleich.
Der Preis für die Bewegungsfreiheit der Figuren ist die Zerstörung der alten, geschlossenen Form. Denn die Skulpturen sind nie zusammengesetzt, sondern entstehen aus einem einzigen Stamm. Die Zweifarbigkeit von schwarzem und weißem, von geflämmtem und geschlämmtem Holz gliedert sie und hilft dem Betrachter bei der Zweiteilung und Zuordnung der untrennbar ineinander verschlungenen Teile. Denn die Färbung markiert den stützenden Teil der Skulptur und hilft, ihn vom aufruhenden, ausbrechenden, bewegten Teil zu unterscheiden. Sie macht sichtbar, was in der Literatur zu Beate Debus gerne mit den Begriffen Dialog, Polarität und Balance beschrieben wird: das Ineinandergreifen und das Aufeinander-angewiesen-Sein von Haltgebendem und Fortstrebendem, von Erdgebundenem und Raumeroberndem. Der Balanceakt von Identität und Veränderung, von Eigenem und Anderem wird hier im Kräftemessen der Bildhauerin mit den Naturgesetzen der Schwerkraft und der Materialbeschaffenheit mit jedem Werk neu ausgelotet.
Polare Kräfte balancieren hier einander aus. Das Thema des gesamten Werkzyklus ist die Bewegung im Raum, die verschiedene Dispositive sozialer Koexistenz sichtbar macht. Ausstellungen, in denen ein Mensch die Skulpturen tanzt oder eine der Arbeiten punktuell nachstellt, zeigen, wie genau das Typische eines Bewegungsmusters in den Tänzen von Beate Debus herausgearbeitet ist.
Daß der Ursprung dieser körperlichen Dispositive in charakterlichen Eigenheiten und individuellen psychischen Vorgängen liegt, ja, daß die widerstreitenden Kräfte auch in einem einzigen Menschen gegeneinander arbeiten können, hat den großen Werkzyklus angestoßen, in dem Beate Debus das Thema Kopf umkreist. In ellipsoiden Wölbungen, aus denen diese Köpfe häufig wie zusammengesetzt wirken, scheint ein Gedanke oder Handlungsimpuls nach außen zu drängen und die Grenzen des Körpers zu verschieben. Hohe Stirnen, farblich maskenhaft abgesetzte Augenpartien oder verschobene Gesichtszüge verweisen auf die innere Erregung, die der Ursprung äußerlich wahrnehmbarer Aktivität ist. In der Überzeichnung mimischer Vorgänge schaffen die Werke den Spagat zwischen höchst individueller Form und überindividueller, typisierender Gestaltung.
Für die Köpfe wird, wie das schon für die Tänze gilt, der neueste Entwurf an der Wand vorgebildet. Zweidimensional in Kohle- oder Kreidezeichnungen und Prägedrucken oder schon dreidimensional in flachen Wandreliefs oder Holzcollagen. Während hier zum Schwarz und dem Weiß der Röthelstift hinzutreten konnte, so tritt in der Naturthematik der jüngsten Werkreihe übrigens das ikonische Gelb zum Schwarz, zum Grau, zum Weiß hinzu. Es ist das Gelb des Sommers, des Lichtes, des Korns und der herbstlichen Färbung des Laubes: Werktitel wie Sommer, Lichtwald, Herbstwald, Herbstwunder, Ockerdurchzogen und andere verweisen darauf.
Die Skulpturen der Köpfe sind aber wie die Tänze streng zweifarbig schwarz-weiß gefaßt, um die Bewegung zweier widerstreitender Argumente im Abwägungsprozeß des Denkens sichtbar zu machen. Im Fall der Köpfe erhält die Färbung häufig in den Augenpaaren ihren Sinn. Denn über die Augen als Schnittstelle von objektivierbarer und subjektiver Realität teilen sich innere Erregung und Gefühle nach außen mit, etwa im Werk Blickbewegt. Im Augenpaar, diesem jedem Menschen ganz eigenen Tor zur Welt, werden die inneren Regungen als Ursprung äußerer Bewegung darstellbar. Das schwarze Band, das die Augenpaare unterlegt, fängt unseren Blick und zeigt, wie sich die künstlerische Intention hier auf die Rolle des Blicks konzentrierte. Wie Schiffchen, so sagt Beate Debus selber, wie Schiffchen seien die Augen gestaltet, die die Grenzen des Individuums sprengen und zu nie gesehenen Ufern aufbrechen.
Der Kopf hat Künstler in allen Epochen interessiert. Dabei meine ich nicht die Büsten, die dem Totengedenken oder der Repräsentation dienten. Ich meine die Arbeit Leonardo da Vincis und Albrecht Dürers, die in der Renaissance bzw. in der ganz Frühen Neuzeit den Kopf bereits seziert haben. Beide Künstler brachten alle nur denkbaren - und tatsächlich eben auch die nur denkbaren - Ansichten des Kopfes aufs Papier. Bereits Dürer hat so unmöglichen Blickpunkten den Weg geebnet - beispielsweise dem Blick auf den Kopf, wie er sich einer Sicht durch den Körper hindurch entlang der Wirbelsäule darstellen würde. Die Frühe Neuzeit beschränkt sich also nicht nur auf ihre Suche nach der möglichst genauen, objektiven Beschreibung der Körper. Nein, auch der unmögliche visuelle Ort wird hier schon gedacht und bildnerisch ins Werk gesetzt. Das Bewußtsein, daß die äußere Hülle der Körper nur auf Basis der Kenntnis des Innenlebens optimal wiedergegeben werden kann, daß zur Darstellung eines Bewegungsverlaufs also die Kenntnis des Verborgenen, der Muskelverläufe, Knochen und Gelenke, unabdingbar ist, dieses Bewußtsein ging schon vor 500 Jahren Hand in Hand mit der Er-findung und Sichtbarmachung des nicht Sichtbaren.
So un-heimlich im doppelten Wortsinne treten uns die Verformungen in den Köpfen von Beate Debus gegenüber. Un-heimlich im Sinne von: nicht verborgen - aber auch im Sinne von: nicht geheuer. In geöffneten Schädelräumen und verschobenen Augenpartien, die unseren Blick gespenstischerweise gleichwohl zu erwidern scheinen, treiben diese Kunstwerke die künstlerische Öffnung des Schädels in ungeahnter Weise weiter voran. In entstellten Formen und segmentierten, ja sezierten Gesichtshälften wird die innere Erregung, die der Ursprung unserer äußeren Bewegungen ist, für uns nach außen gekehrt. In der überstarken Wölbung eines Kopfraumes kommt der zum Bersten volle Kopf in den Blick, wie etwa im Werk Kassandra. Es ist der Kopf einer, die sich nicht nur "Gedanken macht". Im Kopf mit Einblick scheint Beate Debus ein Sprachbild visualisiert zu haben, das Sprachbild dessen, der sich den Kopf zerbricht. Eine Maske hingegen behält, wenn auch nach allen Seiten blickend, ihre ungerührt-aalglatte Miene bei.
Als sich Siegmund Freud vor gut hundert Jahren ebenfalls in den Köpfen seiner Patienten auf die Suche nach dem Sitz und dem Ursprung des Denkens machte, gelangte er zum Nicht-Denken, zum Unbewußten. Das Unterbewußte, so Freuds Erkenntnis, steuert, für den Denkenden selber nicht ergründbar, das Rhizom unserer Assoziationsketten und regt unsere Denkräume an. Im Werk von Beate Debus kann man sehen, wohin der Versuch, das Unbewußte zu denken, führt: nämlich dahin, das Unsichtbare zu visualisieren, wie die Köpfe es, beinahe akribisch wie in einer Versuchsreihe, durchdeklinieren. "Kunst", so sagte Paul Klee, "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar." Die Kunst von Beate Debus spürt nicht nur äußeren Bewegungsmustern nach (in den Tänzen), sondern auch den Ursprüngen der äußeren Bewegung in einer inneren. Die Köpfe zeigen, wo und wie die Entwürfe unseres Daseins entstehen. Diese Kunst rührt damit an alte und doch immer noch ungelöste Fragen und ich möchte mit einer Feststellung des französischen Kunsthistorikers Georges Didi-Huberman schließen. Er schreibt: Künstler können "durch Verschiebung der Blickpunkte, durch Umkehrung der Räume, durch Erfindung neuer Beziehungen, neuer Kontakte, die wesentlichsten Fragen [der Menschheit] verkörpern, und das ist viel besser, als zu glauben, man könne sie beantworten".
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar
Der Text wurde für eine Podcast der GALERIE Frankfurt/Main verfaßt und eingesprochen. Der Podcast zur Ausstellung "Beate Debus. Form und Figur" vom 27. Mai bis 26. August 2020 zeigte, ging am 17. Juli 2020 online und ist weiterhin im Archiv der Galerie-Homepage abrufbar, hier.