Weltgeister. Astrid Albers
Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Galerie Profil, Weimar, 10. September 2021, 18.00 Uhr
Liebe Astrid Albers, liebe Elke Gatz-Hengst, sehr geehrte Damen und Herren,
zum dritten Mal in zwölf Jahren zeigt die Galerie Profil ab heute aktuelle Arbeiten von Astrid Albers. "Freigeister" hieß die Aquarell-Ausstellung im September 2009, "Weltgeister" heißt die jetzige. Und ausschließlicher noch als die "Nordlichter" von 2018 konzentriert "Weltgeister" sich auf Acrylgemälde der Künstlerin.
Es kann helfen, genauer hinzusehen und die Besonderheiten der Werke leichter auszumachen, wenn wir schauen, was sich durch die zwölf Jahre hindurchzieht und was uns in den Werken der heutigen Ausstellung definitiv verändert gegenübertritt. Was hat sich an Farbigkeit, Anlage der Bilder, Themenstellung und Arbeitsweise verändert? Was ist hinzu gekommen?
Was sich durch all die Jahre konsequent durchzieht, ist die Vorliebe für die Farbe Blau. "Blau gewinnt" hieß damals eine Serie aus 33 Einzelwerken, die das selbst gestellte Thema "Blau" in seinem Kontrast zu Gelb und Rot in verwandten Formen immer wieder aufs neue variierte. "Ohne Blau geht gar nichts", sagte mir Astrid Albers vor gut drei Jahren am Telefon, und so erhielt denn auch mein damaliger Katalogbeitrag genau diesen Titel.
Für die "Nordlichter"-Ausstellung waren es die Werke, die mit ihren quer über den Bildraum laufenden grünen und blauen Streifen an Flußlandschaften denken lassen. Ein leuchtendes Blau begegnet uns da in pastosem, üppigem Farbauftrag - so leuchtend, daß es nichts von der Kühle und Ferne vermittelt, die dem Blau von den Farbtheoretikern ja gerne als hauptsächliche Wirkung zugeschrieben wird. Mit den Flußlandschaften, die uns unter dem Titel "Kontinente" auch in der aktuellen Ausstellung wieder begegnen, treffen wir auch wieder auf das Blau als vorherrschende Farbe der Bilder. Hinzugekommen sind jetzt die "Begegnungen" und die "Geister", die für ihre amorphen Formen ebenfalls häufig den blauen bis taubenblauen Untergrund wählen.
Was aber hat sich in den letzten 12 Jahren verändert? Was ist hinzugekommen? Die "Freigeister"-Ausstellung war von Aquarellen dominiert. Auf die Leinwand hatten Astrid Albers und ihr bald darauf leider verstorbener Mann, Jürgen Sage, Büttenpapier aufgezogen, das vor der Bearbeitung eingeritzt wurde. Die aufgebrachten Aquarellfarben verliefen organisch im durch die Künstler unsichtbar gesteckten Rahmen der verletzten Papieroberfläche. Wuselige Farbfetzen in leuchtendem Rot und Blau, Gelb und Weiß setzten sich zu größeren Figuren im Bildraum zusammen. Ruhig wirkten die Gesamtwerke dennoch, und das, so hatte ich damals vermutet, war unter anderem der Tatsache zu verdanken, daß ein breiter weißer Rand den Figuren im Bildraum ausreichend Platz ließ, um zu sich selbst zu kommen und sich im Bild voll zu entfalten. Der breite weiße Bildrand verlieh den Binnenformen eine Selbstgenügsamkeit, die einen ruhigen und geschlossenen Bildeindruck trotz allem begünstigte.
Wenn Sie sich die aktuellen Arbeiten von Astrid Albers ansehen, erraten Sie, warum ich diesen kurzen Ausflug in die Werkgeschichte mit Ihnen unternommen habe. Die Zeit der weißen Flächen und der breiten weißen Ränder ist vorbei. Die in sich geschlossenen Figuren der "Geister" und der "Botschafter", der "Kontinente" und der "Begegnungen" füllen in jedem Fall quer den ganzen Bildraum aus.
Was das Überschreiten des Bildraumes betrifft, so geschieht in den "Begegnungen" sogar noch mehr. Am rechten und linken Bildrand sind die Formen nämlich angeschnitten. Der Bildinhalt reicht offensichtlich über das durch die Malerei Eingefangene hinaus. Eine Art Rahmen begrenzt, farblich abgesetzt, nach oben und unten den Bildinhalt. Aber auch in diesen Rahmen treiben oder wuchern die Formen hinein. Daß der Eindruck eines Rahmens rechts und links fehlt, also hier keine farbliche Absetzung den Bildraum begrenzt, unterstreicht noch einmal, daß wir nur einen Ausschnitt der Formen und Figuren sehen, die den Bildinhalt bestimmen.
Das Überschreiten des Bildrandes galt schon für die Flußlandschaften, die in der "Nordlichter"-Ausstellung assoziiert werden konnten. Beim Thema Fluß ist es selbstverständlich, daß ein Ausschnitt zu sehen ist und der Fluß jenseits des Bildes weiterfließt. Die Flußlandschaften können uns dadurch aber auch einen Hinweis zum allgemeinen Verständnis der übrigen Bilder geben. An den Ufern der Flüsse, an den Rändern der Kontinente stehen jetzt Häuserreihen. Und auch diese Häuserreihen, wie auch die "Geister", die Menschen, die totempfahlartigen "Botschafter" und "Wegweiser" füllen den Bildraum so vollständig aus, daß ihre Reihe jenseits des Bildes fortgesetzt werden kann, ja muß. Das heißt, es gibt noch viel mehr Menschen da, noch mehr Häuser, noch mehr Botschafter. Die einzelne Form ist in diesen Werken zwar immer in sich abgeschlossen, aber es sind ihrer so viele, daß das Bild sie nicht zu fassen vermag. Sie müssen außerhalb des Bildes weitergedacht werden.
So assoziiert der Begriff "Weltgeister" hier keinen philosophisch gefaßten Vollzug der Weltgeschichte (Hegels "Weltgeist"), sondern legt den Fokus auf den Begriff "Welt", begeisterte, begeisternde Welt, geistbegabte Welt, "Eine Welt". Die "Botschafter" rufen Konzepte von kultureller Identität und internationaler Verständigung auf.
Und so zeigen die Figuren und Häuser selbstverständlich auch keine präzisen Moden, Bau- und Bekleidungsstile. Wie wir es vor drei Jahren für die Flußlandschaften gesehen haben, so gilt auch für die "Weltgeister", die Menschen und Häuser: Die Darstellung sucht nicht die Abbildung wiedererkennbarer Orte und Kulturen, sondern das "Dahinter" der Wirklichkeit. Werner Haftmann hat es in einem Aufsatz über die moderne Landschaftsmalerei einmal sehr schön formuliert: "Wenn [...] das schauende Interesse an den standhaften Hauptworten - Fluß, Baum, Blume - sich auf die dahinter verborgenen dynamischen Tätigkeitsworte - strömen, wachsen, blühen - verlagert", dann drängt nicht mehr das blühende Feld, sondern die Kraft jenes Blühens zum Ausdruck; nicht mehr das Abbild eines Flusses, sondern der Glanz, der über ihm liegt.
Die Orte, "Kontinente", Menschen und Häuser, die Astrid Albers uns zeigt, bilden keine wiedererkennbaren, konkreten Orte, Häuser oder Menschen ab. Sie sind bildgewordene Erinnerung, vielleicht auch Sehnsucht oder eine nach vorn blickende Utopie. Einzelne Elemente und Details von Landschaft, von Häusern, Formen von Hauswänden, Torbögen, Fenstern und Türen, von Kuppeln und Dächern setzen sich hier zu einem neuen Ganzen zusammen. Formen von Röcken und Kleidern, Kopfbedeckungen wie Tüchern und Turbanen, von Körper- und Beinhaltungen, Silhouetten und Gesten werden zu Figurengruppen arrangiert. Doch niemals sucht die Darstellung die sichtbare Kulisse, sondern eben genau dieses "Dahinter" der Wirklichkeit. Astrid Albers' Werke spüren dem verborgenen Geheimnis eines Ortes, eines Menschen, einer menschlichen Gemeinschaft und ihren Behausungen nach und suchen nach deren möglicher verborgener Identität. Sie zeigen die Macht dessen, was einfach da ist und einfach so ist - in vielen Jahrtausenden geworden wie ein Flußbett, das sich im Laufe der Zeit seinen Weg gebahnt hat.
Ich sehe in den "Kontinenten" nicht bloß eine Landschaft, sondern darstellt ist die Ruhe in ihr. Die Ruhe des Flusses, der sich ständig erneuert und doch immer derselbe bleibt. Vielleicht auch die Unüberwindlichkeit eines Flusses. Ich sehe in den Figuren der "Weltgeister" nicht einfach Menschen dargestellt, sondern ihre Lebendigkeit. Bei aller Ähnlichkeit der Formen zeigt die Darstellung die Individualität jeder Figur und damit die Vielfalt der menschlichen Existenz. Die Ähnlichkeit der Formen und die Harmonie der Farben drückt die Liebe zwischen diesen Menschen aus und offenbart einen Zusammenhalt, der aus Verwandtschaft und lebenslangem Zusammenleben resultiert und unverbrüchlich ist.
Die Häuser im Werk "Weltgeister" gleichen in der Darstellung exakt den Menschen, die in zwei Reihen darunter auflaufen. Wie die Frauen, so stehen auch die Häuser nicht gerade, sondern scheinen in einem Moment der Bewegung eingefangen. In der Farbgebung sind die Häuser und die Menschen ebenfalls einander angeglichen. Die Individualität ihrer Dächer und Kuppeln wurde der Vielfalt der Kopfbedeckungen der Frauen angepaßt.
Unwillkürlich mußte ich in der Darstellung an Friedensreich Hundertwasser denken, und zwar aus gleich zweierlei Gründen. Sie wissen, daß Hundertwasser als der "Architekturdoktor", als der er sich verstand, Häuser wellenförmig, abgerundet und organisch konstruierte. Die gerade Linie bedeutete für Hundertwasser den Inbegriff des Toten und des Tötenden. "Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit", pflegte er zu sagen. Aber er baute nicht nur organisch, sondern begrünte seine Häuser mit echten Pflanzen. 1973 ließ er in Mailand 12 "Baummieter" durch die Fenster in die Innenräume einiger Häuser pflanzen. Was man heute zuweilen noch in verlassenen und ruinösen Villen sieht, die kleine Birke auf dem Dach, das war bei Hundertwasser gepflegtes Programm.
Die Häuserreihen auf den Bildern von Astrid Albers, die rund und wie bewegt wirken und zwischen die auch der eine oder andere Baum eingestreut ist, haben mich daher sofort an Hundertwassers Konzept des Bauens erinnert. Das war die erste Verbindung zu Hundertwasser.
Die zweite liegt in seiner Theorie von den fünf Häuten des Menschen. Fünf Häute, so Hundertwasser, umgeben uns, hüllen uns ein, sie definieren uns und machen unser Wohlbefinden aus. Wir sollten uns daher um alle diese Häute kümmern und über sie zu entscheiden befähigt sein. Die erste Haut ist natürlich die wirkliche eigene Haut; die zweite ist die eigene Kleidung; die dritte das eigene Haus oder die architektonische Umgebung, in der wir uns bewegen; die vierte ist unsere kulturelle Identität und die fünfte die ökologische Umwelt.
Greifen wir die dritte Haut, das eigene Haus, heraus. Das Haus ist der Spiegel des Menschen, heißt ein Bild von Hundertwasser, und so erscheinen uns auch die Häuserreihen auf dem Werk "Weltgeister" als Spiegelbild der darunter aufgereihten Frauen. Dicht gedrängt wie die Menschen, bunt wie deren knöchellange Kleider und phantasievolle Kopfbedeckungen, so lassen diese Häuser keinen Zweifel an ihrem Verwachsensein mit den zugehörigen Menschen, die sie erbaut haben, bewohnen, vielleicht immer wieder umbauen und für sich passend machen. Organisch paßt sich eines an das andere an - und wirkt denn auch völlig anders als die zeitgenössischen Skylines aus dem Boden geschossener Städte in Nah- und Fernost. Diese Häuser sind die dritten Häute der Frauen, deren zweite Haut, die Kleidung, uns ebenfalls so farbenfroh auf dem Bild erscheint.
Ich wünsche Ihnen jetzt viel Entdeckerfreude in der Ausstellung und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers